1. Bedeutung
Mit dem Begriff der Würde wird der besondere Eigenwert eines Menschen, einer Person, einer Kreatur oder eines Lebewesens zum Ausdruck gebracht. Es wird zwischen einer bedingten und einer unbedingten Würde unterschieden.1Vgl. Werren, Melanie, Würde und Demenz. Grundlegung einer Pflegeethik, Baden-Baden 2019, 220.
Würde im Sinne einer bedingten Würde ist an Qualitäten, Leistungen oder Anerkennung geknüpft, kann somit erworben werden und z. B. durch sozialen Abstieg, Demenz oder Abhängigkeit wieder verloren gehen.2Vgl. Herms, Eilert, Art. Würde des Menschen, in: RGG 8 (2005), 1736‒1739, 1738. Die bedingte Würde kann demnach nicht für alle gelten und hat einen differenzierenden Charakter. Aus ihr können jedoch zurzeit vorherrschende Vorstellungen von einem guten Leben abgeleitet werden.3Vgl. Werren, Würde, 150.
Im Gegensatz dazu steht die unbedingte Würde, die nicht an Bedingungen geknüpft und deshalb unverlierbar ist. Sie hat den Gedanken zur Grundlage, dass allen die gleiche Würde gebührt.4Vgl. Knoll, Manuel, Art. Gleichheit, in: Gröschner, Rolf et al. (Hrsg.), Wörterbuch der Würde (UTB 8517), München 2013, 157f. Eine solche unbedingte Würde kann zwar nicht abhandenkommen, aber dennoch verletzt werden, beispielsweise durch Demütigung oder Unterlassung. Soll sie nicht als „rhetorisches, praxisfernes Ornament“5Wetz, Franz Josef, Die Würde des Menschen ist antastbar. Eine Provokation, Stuttgart 1998, 10. abgetan werden, sollte sie sich in Würde respektierenden Interaktionen und Lebensbedingungen zeigen.
Bedingte Würde | Unbedingte Würde |
Abhängig von Qualitäten, Leistungen oder Anerkennung | An keine Bedingungen geknüpft |
Verlierbar | Unverlierbar |
Internationale und nationale Rechtsdokumente berufen sich „zu deren Begründung häufig auf die unverlierbare und unveräußerliche Würde des Menschen“.6Huber, Wolfgang, Art. Menschenrechte/Menschenwürde, in: TRE 22 (1992), 577‒602, 577. So betont die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 die „Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen“7Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. (DGVN), Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Berlin (PDF-Dokument, https://dgvn.de/publications/PDFs/Sonstiges/Allgemeine_Erklaerung_der_Menschenrechte.pdf), abgerufen am 24.07.2024, 1‒72, 6. als „Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt“.8DGVN, Erklärung, 6. Der Menschenwürdebegriff hat damit eine zentrale Bedeutung als „ein Rechtsbegriff oder als ein Prinzip des Rechts“.9Lohmann, Georg, Menschenwürde als „Basis“ von Menschenrechten, in: Joerden, Jan C. et al. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2013, 179‒193, 181.
2. Begriffsgeschichte
2.1. Antike und Mittelalter
Die differenzierende und die egalisierende Bedeutung der menschlichen Würde (dignitas) erschien bereits bei Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.).10Vgl. Huber, Menschenrechte, 578. Er führte das altrömisch-republikanische Verständnis von Würde als besonderer Stellung einer Person zusammen mit der aus der stoischen Philosophie stammenden Vorstellung von der „überlegene[n] Stellung und Würde“11Cicero, De Officiis I (Übersetzung, https://www.romanum.de/latein/uebersetzungen/cicero/de_officiis/intro.html), abgerufen am 25.07.2024, 1‒161, 106. der menschlichen Natur, die aus der Teilhabe an der Vernunft resultieren.12Vgl. Forschner, Maximilian, Art. Cicero, in: Gröschner, Rolf et al. (Hrsg.), Wörterbuch der Würde (UTB 8517), München 2013, 17f.; Huber, Menschenrechte, 578.
Die bei Cicero belegte Idee einer Wesenswürde aller Menschen wurde von verschiedenen Kirchenvätern (wie z. B. Theophilus von Antiochien , Origenes
, Laktanz
, Augustinus
, Gregor von Nyssa
) weiterentfaltet.13Vgl. Wetz, Franz Josef (Hrsg.), Texte zur Menschenwürde, Stuttgart 2011, 43f.
Im Christentum wurde der Begriff der Würde schon sehr früh mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen in Gen 1,26f.[26] Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. [27] Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.Zur Bibelstelle in Verbindung gebracht. Der früheste Beleg steht im Brief Ad Autolycum von Theophilus von Antiochien . Gott zeige dadurch, „daß er sagt: ‚Laßt uns den Menschen machen nach unserm Bild und Gleichnis!‘ die Würde des Menschen“.14Theophilus von Antiochien, Ad Autolycum, Freiburg (Übersetzung, https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-1107/versions/an-autolykus-bkv), abgerufen am 25.07.2024, 1‒65, 24. Die allen Menschen gemeinsame Würde war aus drei Gründen weder in der Zeit der Alten Kirche noch im Mittelalter der bestimmende Orientierungspunkt für kirchliche und politische Ordnungen. Erstens hemmte die Einsicht in die Sündhaftigkeit des Menschen, der aufgrund seiner Sünde über keine Würde verfüge, die Entwicklung einer eigenständigen christlichen Würdekonzeption. Die menschliche Würde wurde zweitens als Vorrecht von Christ*innen angesehen, auf das Häretiker*innen, Jüd*innen und Heid*innen keinen Anspruch haben. Drittens unterstützten ein ständisches Gesellschaftsbild und ein hierarchisches Kirchenbild die Ausbildung eines differenzierenden Würdeverständnisses.15Vgl. Huber, Menschenrechte, 578f.
2.2. Neuzeit
An die Vorstellung einer in der Gottebenbildlichkeit begründeten Würde aller Menschen wurde besonders im italienischen Humanismus, in der spanischen Spätscholastik und in der deutschen Reformation angeknüpft.16Vgl. Huber, Menschenrechte, 579.
Die Florentiner Humanisten, Giovanni Pico della Mirandola (1463‒1494), Marsilio Ficino
(1433‒1499) und Giannozzo Manetti
(1396‒1459), leiteten die Würde und Gottebenbildlichkeit „aus der Selbstbestimmtheit der Vernunft“17Anselm, Reiner, Die Würde des gerechtfertigten Menschen. Zur Hermeneutik des Menschenwürdearguments aus der Perspektive der evangelischen Ethik, in: ZEE 43 (1999), 123‒136, 128. ab. So sah Giovanni Pico della Mirandola in seinem Werk Oratio de hominis dignitate die Würde des Menschen begründet in der von Gott zugesprochenen „Freiheit, über das eigene Schicksal zu entscheiden“.18Lembcke, Oliver W., Art. Giovanni Pico della Mirandola, in: Gröschner, Rolf et al. (Hrsg.), Wörterbuch der Würde (UTB 8517), München 2013, 31f. Der Mensch soll sich „wie ein Former und Bildner“19Pico della Mirandola, Giovanni, Oratio de hominis dignitate. Rede über die Würde des Menschen, Stuttgart 1998, 9. seiner selbst zu einer von ihm selbst bevorzugten Gestalt ausbilden. Gerade die Vertreter der spanischen Scholastik, Francisco de Vitoria
(1483‒1546) und Francisco Suárez
(1548‒1617), entwickelten den Gedanken der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen weiter, indem sie unter dem Eindruck der Eroberungen in Amerika die indigene Bevölkerung als vernunftbegabte und zum Christentum fähige Menschen einschätzten. Sie begründeten das mit der sozialen Natur des Menschen und der unlöslichen Zusammengehörigkeit von Sozialität und Vernunftbegabung.20Vgl. Anselm, Würde, 129; Huber, Menschenrechte, 579.
Im Rahmen der lutherischen Reformation wurde die Menschenwürde in der Rechtfertigungslehre verankert, gemäß welcher der Mensch nicht durch seine Leistungen definiert, sondern allein durch seine Beziehung zu Gott konstituiert wird. So wird die Würde dem Menschen allein „durch Gottes rechtfertigende Gnade zugesprochen“.21Huber, Menschenrechte, 579. Vgl. auch Luther, Martin, Disputatio de hominem 1536 (WA 39 I), Weimar 1926, 175‒177. Der Mensch antwortet, indem er angesichts der erfahrenen göttlichen Gnade an Gott glaubt. Dieser Glaube kann „nur als freier Glaube wirklich ein Akt der Antwort auf die Gnade sein“.22Huber, Menschenrechte, 579. Es besteht demnach ein Entsprechungsverhältnis zwischen Würde und Freiheit.23Vgl. Gräb-Schmidt, Elisabeth, Einführung, in: Härle, Wilfried/Preul, Reiner (Hrsg.), Menschenwürde, Marburg 2005, 1‒24, 10.
In der Aufklärungszeit wird die Autonomie zur Grundlage der gleichen Würde aller Menschen. Die Autonomie kommt dem Menschen als Vernunftwesen zu.24Vgl. Huber, Menschenrechte, 580f. Nach Immanuel Kant (1724‒1804) ist Autonomie als Selbstgesetzgebung zu verstehen (von griech. αὐτός: selbst, und νόμος: Gesetz).25Vgl. Horn, Christoph et al., Immanuel Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Suhrkamp Studienbibliothek 2), Frankfurt a. M. 2007, 255. Einem Vernunftwesen, das autonom moralische Gesetze aufstellen und befolgen kann, kommt Würde zu. Würde ist als Gegensatz zum Preis zu denken. Was einen Preis hat, kann durch etwas anderes ersetzt werden und hat somit einen relativen Wert. Würde ist das, was über jeglichen Preis erhaben ist, wodurch die Würde zu einem absoluten Wert wird.26Vgl. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart 2011, 72. Einen absoluten Wert hat, was „Zweck an sich selbst sein kann“.27Kant, Grundlegung, 73. Die Achtung der Würde eines Menschen als Zweck an sich selbst bedeutet die Achtung gegenüber sich selbst, aber auch gegenüber anderen.28Vgl. Kant, Grundlegung, 63.
Angesichts massiver Verstöße totalitärer und autoritärer Regimes gegen elementare Gebote der Menschlichkeit im 20. Jahrhundert „wurde Menschenwürde zu einem politisch-rechtlichen Begriff und zum Fundament und Maßstab für Rechtsordnungen“.29Baranzke, Heike, Menschenwürde zwischen Pflicht und Recht. Zum ethischen Gehalt eines umstrittenen Begriffs, in: zfmr 1 (2010), 5‒24, 12. Seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 fungiert die Menschenwürde als „Begründung und Quelle der Menschenrechte“.30Baranzke, Menschenwürde, 12. Diese Verknüpfung von Menschenwürde und Menschenrechten wird auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 sichtbar.31Vgl. Huber, Menschenrechte, 578. Seit den 1970er Jahren nahmen immer mehr Staaten Bezug auf die Menschenwürde (z. B. Schweden, Belgien, Finnland, Israel, Schweiz, Griechenland, Portugal, Spanien, Afghanistan, Kosovo).32Vgl. Baranzke, Menschenwürde, 14.
3. Theologische Perspektiven
Im Hebräischen Alten Testament wird dem Menschen mit seiner Erschaffung in Gottebenbildlichkeit eine besondere Ehre zuteil. Die Vorstellung der Gottebenbildlichkeit kommt dort einzig in der Priesterschrift vor (Gen 1,26f.[26] Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. [27] Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.Zur Bibelstelle; Gen 5,1Dies ist das Buch von Adams Geschlecht. Als Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach dem Bilde Gottes.Zur Bibelstelle; Gen 9,6Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll um des Menschen willen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht.Zur Bibelstelle).33Vgl. Groß, Walter, Gen 1,26.27; 9,6. Statue oder Ebenbild Gottes? Aufgabe und Würde des Menschen nach dem hebräischen und dem griechischen Wortlaut, in: JBTh 15 (2000), 11‒38, 11.
Weiterführende Infos WiBiLex
„Die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen gehört – auch jenseits der alttestamentlichen Exegese – zu den wichtigen Topoi theologischer Anthropologie und ‚findet seit der Berührung der Auslegungsgeschichte mit dem griechischen und mit dem modernen Menschenverständnis ein so beharrliches Interesse wie wohl kaum eine andere Stelle im ganzen AT‘ (Westermann 1983, 204). Grund hierfür ist, dass die Gottebenbildlichkeitsaussagen in Gen 1 die Stellung des Menschen in der Schöpfung charakterisieren und als Ausdruck der besonderen Beziehung zwischen Gott und Menschen verstanden werden.“ Neumann-Gorsolke, Ute, Art. Gottebenbildlichkeit (AT), in: WiBiLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/19892/), abgerufen am 04.02.2025.
Im Neuen Testament klingt mit Jak 3,9Mit ihr loben wir den Herrn und Vater, und mit ihr fluchen wir den Menschen, die nach dem Bilde Gottes gemacht sind.Zur Bibelstelle und 1Kor 11,7‒12[7] Der Mann aber soll das Haupt nicht bedecken, denn er ist Gottes Bild und Abglanz; die Frau aber ist des Mannes Abglanz. [8] Denn der Mann ist nicht von der Frau, sondern die Frau von dem Mann. [9] Und der Mann wurde nicht geschaffen um der Frau willen, sondern die Frau um des Mannes willen. [10] Darum soll die Frau eine Macht auf dem Haupt haben um der Engel willen. [11] Doch im Herrn ist weder die Frau ohne den Mann noch der Mann ohne die Frau; [12] denn wie die Frau von dem Mann, so ist auch der Mann durch die Frau; aber alles von Gott.Zur Bibelstelle zwar auch das alttestamentliche Motiv der Gottebenbildlichkeit an. Jedoch verstehen die Mehrheit der neutestamentlichen Textstellen Jesus Christus als das wahrhaftige Ebenbild Gottes (Röm 8,29Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.Zur Bibelstelle; 2Kor 4,4den Ungläubigen, denen der Gott dieser Welt den Sinn verblendet hat, dass sie nicht sehen das helle Licht des Evangeliums von der Herrlichkeit Christi, welcher ist das Ebenbild Gottes.Zur Bibelstelle; Kol 1,15‒20[15] Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,der Erstgeborene vor aller Schöpfung.[16] Denn in ihm wurde alles geschaffen,was im Himmel und auf Erden ist,das Sichtbare und das Unsichtbare,es seien Throne oder Herrschaftenoder Mächte oder Gewalten;es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen.[17] Und er ist vor allem,und es besteht alles in ihm.[18] Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde.Er ist der Anfang,der Erstgeborene von den Toten,auf dass er in allem der Erste sei.[19] Denn es hat Gott gefallen, alle Fülle in ihm wohnen zu lassen[20] und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin,es sei auf Erden oder im Himmel,indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.Zur Bibelstelle).34Vgl. Vollenweider, Samuel, Der Menschgewordene als Ebenbild Gottes. Zum frühchristlichen Verständnis der Imago Dei, in: Mathys, Hans-Peter (Hrsg.), Ebenbild Gottes – Herrscher über die Welt. Studien zu Würde und Auftrag des Menschen, Neukirchen-Vluyn 1998, 123–146, 126. Das Motiv der Gottebenbildlichkeit und die Rechtfertigung von Sünder*innen aus Gnade bilden in der evangelischen Theologie „die zwei großen Eckpfeiler, zwischen denen sich das Verständnis der Menschenwürde spannt“.35Schardien, Stefanie, Menschenwürde. Zur Geschichte und theologischen Deutung eines umstrittenen Konzeptes, in: Dabrock, Peter et al. (Hrsg.), Menschenwürde und Lebensschutz. Herausforderungen theologischer Bioethik, Gütersloh 2004, 57–115, 92. Darüber hinaus existieren weitere Begründungsstrategien von Würde. So verbinden Christian Link und Friedrich Wilhelm Graf
die Gottebenbildlichkeit des Menschen mit dem alttestamentlichen Bilderverbot.36Vgl. Link, Christian, Menschenbild. Theologische Grundlegung aus evangelischer Sicht, in: Kraus, Wolfgang et al. (Hrsg.), Bioethik und Menschenbild bei Juden und Christen. Bewährungsfeld Anthropologie, Neukirchen-Vluyn 1999, 57‒71; Graf, Friedrich Wilhelm, Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne, München 2009. Im Zusammenhang mit der „leiblichen Vernunft“ von Peter Dabrock
kann die Vernunft als die Schutzwirkung entfaltende Besonderheit des Menschen „intrinsisch-konstitutiv an den Körper gebunden gedacht“37Dabrock, Peter, „Leibliche Vernunft“. Zu einer Grundkategorie fundamentaltheologischer Bioethik und ihre Auswirkung auf die Speziesismus-Debatte, in: Ders. et al. (Hrsg.), Gattung Mensch. Interdisziplinäre Perspektiven, Tübingen 2010, 227–262, 242f. werden. Weitere Ansätze begründen Menschenwürde von der Relationalität und Verletzlichkeit menschlichen Lebens her.38Vgl. z. B. Becker, Dominik A., Sein in der Begegnung. Menschen mit (Alzheimer-)Demenz als Herausforderung theologischer Anthropologie und Ethik, Berlin 2010; Mathwig, Frank, „Das ist mein Leib.“ Zum Verhältnis von Würde und Leiblichkeit, in: Meireis, Torsten (Hrsg.), Altern in Würde. Das Konzept der Würde im vierten Lebensalter, Zürich 2013, 59–75.
Römisch-katholische Menschenwürdekonzeptionen sind oft von einer doppelten Begründungsstruktur geprägt. Die naturrechtliche Argumentation, welche die Würde aus der Natur der Menschen ableitet, steht erstens bereits in den vorkonziliaren Texten und zusammenfassend in der Enzyklika Pacem et terris von Johannes XXIII. von 1963. Zweitens gewinnt die heilsgeschichtlich-christologische Begründung mit dem II. Vaticanum an Bedeutung.39Vgl. Huber, Menschenrechte, 591f. In der Pastoralen Konstitution Gaudium et spes wird festgehalten, dass die mit der Schöpfung gegebene Gottebenbildlichkeit des Menschen durch die Sünde nicht aufgehoben wird, sondern dass sich Jesus Christus „in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Mensch vereinigt“.40Pastorale Konstitution, Gaudium et spes. Über die Kirche in der Welt von heute, 07.12.1965 (Pastoralkonstitution, https://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.html), abgerufen am 31.07.2024.
Die russisch-orthodoxe Kirche unterscheidet zwischen einer unverlierbaren und höchsten Würde des Menschen, die sich aus seiner Gottebenbildlichkeit ableitet, und einem der Würde entsprechenden Leben, das mit dem Begriff der Gottähnlichkeit in Verbindung gebracht wird. Diese Gottähnlichkeit erlangt der Mensch mit Hilfe von Gottes Gnade, indem er die Sünde überwindet und moralische Reinheit und Tugend erreicht.41Vgl. Körtner, Ulrich H. J., Menschenwürde im Christentum – aus evangelischer Sicht, in: Joerden, Jan C. et al. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2013, 321–347, 322.
Die vorgestellten und weitere Auffassungsunterschiede im Verständnis der Menschenwürde werfen die Frage auf, ob die Menschenwürde eine zureichende Begründung für allgemein geltende Menschenrechte sein kann. Der Bezug auf die Menschenwürde entbindet nicht davon, die Grundrechte des modernen Verfassungsstaats und die Menschenrechte des modernen Völkerrechts „begründungsoffen“42Huber, Menschenrechte, 581. zu formulieren. Bei der Begründungsoffenheit des Menschenrechtskonzepts geht es nach Wolfgang Huber darum, „den in ihm vorausgesetzten Begriff menschlicher Würde inhaltlich zu bestimmen; jede Tradition hat dazu das Ihre beizutragen“.43Huber, Menschenrechte, 581.
Die christlichen Kirchen stimmen darin überein, dass Menschen in allen Lebensphasen Träger*innen von Menschenwürde sind. Die Menschenwürde gilt unabhängig von aktuellen Fähigkeiten oder physischen und psychischen Eigenschaften. Umstritten ist in bioethischen Debatten jedoch der ontologische, moralische und rechtliche Status vorgeburtlichen Lebens.44Vgl. Körtner, Menschenwürde, 331. Größere Einigkeit unter den Kirchen besteht bezüglich Fragen des Menschenwürdeschutzes am Lebensende. Während sich alle in der Ablehnung der Euthanasie einig sind, nehmen die evangelischen Kirchen in den Niederlanden, in der Schweiz und seit 2023 in Deutschland eine differenzierte Haltung hinsichtlich der Suizidbeihilfe ein.45Vgl. Körtner, Menschenwürde, 335; Evangelische Kirche in Deutschland, Stellungnahme des Rates der EKD im Vorfeld der Entscheidung des Bundestages über eine rechtliche Regulierung der Suizidbeihilfe, Juni 2023 (PDF-Dokument, https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/Stellungnahme_des_Rates_zur_Suizidbeihilfe_Juni_2023.pdf), abgerufen am 31.07.2024, 1–2.
4. Debatten
Debatten über die Würde existieren bezüglich der Nützlichkeit, des Verhältnisses zwischen Menschen- und Personenwürde sowie der Reichweite der Würdekategorie.
Der Würdebegriff kann zwar aufgrund seiner Offenheit seine Wirkung im Wandel der Zeit bewahren und sich an neue Erkenntnisse und oder veränderte Wertvorstellungen anpassen. Die Kehrseite dieser Unbestimmtheit ist eine beunruhigende Ungreifbarkeit der Würde, wodurch diese in den Verdacht gerät, eine „willkürlich auslegbare Leerformel“46Hoerster, Norbert, Die Menschenwürde und das Recht auf Leben, in: Liessmann, Konrad P. (Hrsg.), Der Wert des Menschen. An den Grenzen des Humanen, Wien 2006, 47‒66, 48. zu sein, weil sie gleichzeitig als Sammelbegriff für das sittlich Falsche und das sittlich Richtige fungieren kann und deshalb nach Norbert Hoerster für die Lösung rechtsethischer Probleme „nutzlos“47Hoerster, Norbert, Ethik des Embryonenschutzes. Ein rechtsphilosophischer Essay, Stuttgart 2002, 27. ist. Auch Ruth Macklin
weist die Würde als nutzloses und überflüssiges Konzept mit der Begründung zurück, dass Würde deckungsgleich mit dem Prinzip des Respekts vor der Autonomie ist.48Vgl. Macklin, Ruth, Dignity Is a Useless Concept. It Means No More Than Respect for Persons or Their Autonomy, in: BMJ 327 (2003), 1419f., 1419.
Es ist umstritten, ob die Würde und darauf basierende Rechte dem Menschen aufgrund seiner reinen Zugehörigkeit zur Gattung Mensch oder aufgrund der Anerkennung seines Personenstatus zugesprochen werden sollen. Robert Spaemann problematisiert die Rolle des Personenbegriffs „bei der Dekonstruktion des Gedankens, Menschen hätten, weil sie Menschen sind, gegenüber ihresgleichen so etwas wie Rechte“.49Spaemann, Robert, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“, Stuttgart 2006, 10. Menschen sollen nicht als Menschen, sondern nur noch als Personen Rechte haben. Dabei lassen sich zwei Argumentationsweisen unterscheiden. Entweder kann jeder Mensch als Person betrachtet werden (Koextensionsthese) oder der Personenstatus wird abhängig gemacht von bestimmten mentalen und praktischen Fähigkeiten, wie z. B. Vernunft- oder Kommunikationsfähigkeit (Differenzthese).50Vgl. Rieger, Hans-Martin, Demenz – Härtefall der Würde, in: ZME 61 (2015), 133‒155, 139.
Ob auch nicht-menschlichen Lebewesen Würde oder Personenwürde zukommen soll, wird kontrovers diskutiert. Die „Würde der Kreatur“51Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (Fassung vom 03.03.2024), (PDF-Datei, https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de), abgerufen am 13.08.2024, Art. 120, Abs. 2. steht seit 1992 in der Schweizerischen Bundesverfassung und bezieht sich auf Tiere, Pflanzen und andere Organismen.52Vgl. Baranzke, Heike, Würde der Kreatur? Die Idee der Würde im Horizont der Bioethik, Würzburg 2002, 12. Dieser Begriff wird auf der einen Seite als Gefahr angesehen, weil er die Menschenwürde „verwässert“.53Fischer, Johannes et al., Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik, Stuttgart 2007, 361. Auf der anderen Seite wird seine Nähe zur Menschenwürde betont, indem beispielsweise auf die Empfindungsfähigkeit aller Kreaturen als Bedingung für die Würde verwiesen wird.54Vgl. Michel, Margot, Die Würde der Kreatur und die Würde des Tieres im schweizerischen Recht. Eine Standortbestimmung anlässlich der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, in: NuR 34 (2012), 102‒109, 108. In der Regel wird eine Differenzierung zwischen dem Menschenwürdebegriff und der Würde der Kreatur eingetragen. So besitzen laut Philipp Balzer et al. alle Lebewesen einen inhärenten Wert, der ein moralisches Verhalten ihnen gegenüber fordert, jedoch nicht mit einem absoluten Wert gleichgesetzt werden kann.55Vgl. Balzer, Philipp et al., Menschenwürde vs. Würde der Kreatur. Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, Freiburg/München 1998, 50.
5. Anwendungsfelder
Es hat sich bereits die Bedeutung der Würde als philosophischer, theologischer und rechtlicher Begriff gezeigt. Aufgrund der Weite der Würdekategorie lassen sich Bezüge zu zahlreichen Anwendungsfeldern herstellen. Sie tangiert zahlreiche Bereichsethiken: Medizinethik, biomedizinische Ethik, Tierethik, Umweltethik, Technikethik, Wirtschaftsethik und Medienethik.56Vgl. Gröschner, Rolf et al. (Hrsg.), Wörterbuch der Würde (UTB 8517), München 2013, 8‒10.
Angesichts der rasanten Entwicklung der (bio-)medizinischen Forschung und Debatten über die Annehmbarkeit neuer Technologien kommt der Menschenwürde eine „Schlüsselrolle“57Thiele, Felix, Einführung in Teil A, in: Joerden, Jan C. et al. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2013, 13‒34, 13. zu. So hat der medizinisch-technische Fortschritt Eingriffsmöglichkeiten in die vorgeburtliche Phase des menschlichen Lebens geschaffen. Angesichts von Abtreibung, In-Vitro-Fertilisation, Stammzellenforschung, Klonierung und Präimplantationsdiagnostik haben sich neue Problemfelder ergeben. Umstritten sind besonders die beiden Fragen, ab wann ein menschliches Lebewesen als Würdeträger*in zu gelten hat und ob die Zuschreibung von Menschenwürde notwendigerweise mit der Anerkennung vollumfänglicher Schutzansprüche einhergehen muss.58Vgl. Dietrich, Frank/Czerner, Frank, Menschenwürde und vorgeburtliches Leben, in: Joerden, Jan C. et al. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2013, 491‒524.
Wenn Menschen als Patient*innen mit dem Gesundheitswesen in Berührung kommen, geht es um Forderungen nach einer der Menschenwürde entsprechenden Versorgung und Gestaltung von Interaktionen und Verhältnissen.59Vgl. Werren, Würde, 221. Z. B. Menschen mit Demenz, komatöse Patient*innen oder Menschen in der Psychiatrie, bei denen die Autonomiefähigkeit eingeschränkt ist, machen darauf aufmerksam, dass sich die Vorstellung der Menschenwürde nicht vollständig auf den Schutz der Autonomie reduzieren lässt. Gerade in Bezug auf das Lebensende machen Diskussionen über die Zulässigkeit der Sterbehilfe die Offenheit und Klärungsbedürftigkeit des Menschenwürdearguments deutlich. Denn sowohl Gegner*innen als auch Befürworter*innen berufen sich auf die Menschenwürde.60Vgl. Joerden, Jan C., Einführung in Teil B, in: Ders. et al. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2013, 485‒488, 486f.
Am Horizont der Technologieentwicklung erscheinen schon heute unter den Leitbegriffen des Post- oder Transhumanismus Technologien, „die die Möglichkeiten des Menschen, sich zu verändern, so sehr steigern werden, dass man von einer Veränderung ‚über den Menschen hinaus‘ sprechen kann“.61Hilgendorf, Eric, Menschenwürde und die Idee des Posthumanen, in: Joerden, Jan C. et al. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2013, 1047‒1067, 1048. Künstliche Organe oder neuartige Prothesen könnten beispielsweise körperliche Defizite beseitigen und die menschliche Leistungsfähigkeit steigern. Durch den Einbau von Mikroprozessoren könnten die Gedächtnis- und Intelligenzleistung des Menschen verbessert werden.62Vgl. Hilgendorf, Menschenwürde, 1055. Fragen nach der Menschenwürde eines Cyborgs oder eines vernunftbegabten Roboters fordern die Menschenwürde heraus, können jedoch gleichzeitig zu einer Weiterentwicklung und -schärfung des Begriffs beitragen.63Vgl. Hilgendorf, Menschenwürde, 1060f.