1. Sprachgebrauch und biblische Überlieferung
Das Nomen „Rechtfertigung“ bezieht sich auf ein in den biblischen Schriften zumeist verbal beschriebenes richterliches Handeln Gottes, in welchem Gott dem Menschen Gerechtigkeit zuerkennt bzw. schafft. Im Alten Testament sind es vor allem Texte aus exilischer und nachexilischer Zeit, die um die Frage kreisen, ob und wie der Mensch Gerechtigkeit vor Gott erlangen kann (Ps 72,13Er wird gnädig sein den Geringen und Armen,und den Armen wird er helfen.Zur Bibelstelle). Dabei tritt in den jüngeren Texten immer deutlicher die Einsicht hervor, dass der Mensch aus sich selbst heraus vor Gott nicht gerecht zu sein vermag (Ps 143,2und geh nicht ins Gericht mit deinem Knecht;denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht.Zur Bibelstelle; 51,6An dir allein habe ich gesündigtund übel vor dir getan,auf dass du recht behaltest in deinen Wortenund rein dastehst, wenn du richtest.Zur Bibelstelle). Verbunden damit verstärkt sich die forensische Vorstellung des göttlichen Gerichtsurteils. So erscheint in den Psalmen Salomos aus dem 1. Jh. v. Chr. die Rechtfertigung Gottes ganz auf sein richtendes Handeln konzentriert (vgl. PsSal 2,15; 3,5; 4,8; 8,7; Sir 18,2Der Herr allein ist gerecht. [Und es gibt keinen außer ihm.Zur Bibelstelle). Dass es in der Frage nach der Gerechtigkeit des Menschen vor Gott zugleich um die Gerechtigkeit Gottes geht, wird im Hiobbuch deutlich. In den Gottesknechtsliedern des Jesajabuches wird der Rechts- und Rettungswille Gottes unter den Völkern besungen, der durch den stellvertretenden Tod des Gottesknechts für die Sünden (Jes 53,11f.[11] Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben.Durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. [12] Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben dafür, dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.Zur Bibelstelle) die Vielen, also auch die Völker (Jes 52,15so wird er viele Völker in Staunen versetzen, dass auch Könige ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn was ihnen nie erzählt wurde, das werden sie nun sehen, und was sie nie gehört haben, nun erfahren.Zur Bibelstelle) gerecht spricht. Die Vorstellung, dass Gott selbst durch das Leiden seines Knechts nicht nur Israel, sondern allen Menschen Gerechtigkeit eröffnet, bildet eine entscheidende Voraussetzung für die allen Menschen geltende Botschaft Jesu vom nahen Reich Gottes.
Im Neuen Testament spielt „Rechtfertigung“ vor allem in den Briefen des Paulus eine zentrale Rolle. Paulus entfaltet im Galaterbrief und im Römerbrief die Grundeinsicht, dass Gott Jesus Christus zur Erlösung von den Sünden gesandt und in seinem Kreuzestod seine Gerechtigkeit erwiesen hat (Röm 3,24f.[24] und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.[25] Den hat Gott für den Glauben hingestellt zur Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden.Zur Bibelstelle). Entsprechend besteht die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht in den Werken des Gesetzes (Gal 3,11Dass aber durchs Gesetz niemand gerecht wird vor Gott, ist offenbar; denn »der Gerechte wird aus Glauben leben«.Zur Bibelstelle). Vielmehr macht Gott den gerecht, „der da ist aus dem Glauben an Jesus“ (Röm 3,26[26] in der Zeit der Geduld Gottes, um nun, in dieser Zeit, seine Gerechtigkeit zu erweisen, auf dass er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist aus dem Glauben an Jesus.Zur Bibelstelle, Luther-Übersetzung; vgl. Gal 2,16Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch des Gesetzes Werke wird kein Mensch gerecht.Zur Bibelstelle). Resümierend hält Paulus in Röm 3,28So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.Zur Bibelstelle fest: „Gerecht wird ein Mensch durch den Glauben, unabhängig von den Taten, die das Gesetz fordert.“ (Zürcher Bibel) Luther verdeutlicht in seiner Übersetzung des Verses, der Mensch werde „allein durch den Glauben“ gerecht; denn indem die Gerechtigkeit aus Werken des Gesetzes ausgeschlossen ist, bleibt der Glaube als der einzige Heilsweg. Dies begründet Paulus im Rekurs auf Gen 15,6Abram glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit.Zur Bibelstelle, wonach Abraham sein Glaube an die Verheißung Gottes zur Gerechtigkeit angerechnet wurde. Daraus folgert er in Röm 4,5Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, aber an den glaubt, der den Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit.Zur Bibelstelle: „Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, glaubt aber an den, der die Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit.“
Aus dem Ausschluss der Gerechtigkeit aus Werken erwächst für Paulus die Frage, welche Bedeutung das Gesetz für die an Christus Glaubenden hat und welche Rolle die Werke des Menschen spielen. Für Paulus steht fest, dass das Gesetz „heilig, gerecht und gut“ (Röm 7,12So ist also das Gesetz heilig, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut.Zur Bibelstelle) ist. Wenn es den Menschen nicht zur Gerechtigkeit führt, liegt das nicht am Gesetz, sondern an der Macht der Sünde, die zur Folge hat, dass im Fleisch des Menschen „nichts Gutes wohnt“ (Röm 7,20Wenn ich aber tue, was ich nicht will, vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.Zur Bibelstelle). Die Erlösung des Menschen „aus diesem todverfallenen Leibe“ (Röm 7,24Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes?Zur Bibelstelle) wird daher nur durch die Versöhnung möglich, die Gott selbst durch den Tod Jesu Christi für alle Menschen aufgerichtet hat (2Kor 5,14f.[14] Denn die Liebe Christi drängt uns, da wir erkannt haben, dass einer für alle gestorben ist und so alle gestorben sind. [15] Und er ist darum für alle gestorben, damit, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist und auferweckt wurde.Zur Bibelstelle) und die sich für den Menschen allein im Glauben an das Wort von der Versöhnung realisiert. Aus der Zusage der Glaubensgerechtigkeit zu folgern, „dass wir an der Sünde festhalten sollen, damit die Gnade größer werde“ (Röm 6,1Was wollen wir hierzu sagen? Sollen wir denn in der Sünde beharren, damit die Gnade umso mächtiger werde?Zur Bibelstelle), ist für Paulus allerdings ein Fehlschluss. Vielmehr wird nach Paulus der Mensch in der Taufe mit Christus verbunden und eine neue Kreatur, so dass er nun als neuer Mensch zu leben vermag (Röm 6,4So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, auf dass, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, so auch wir in einem neuen Leben wandeln.Zur Bibelstelle) und gute Werke tut.
Weiterführende Infos WiBiLex
Zum Hintergrund des Verständnisses des Gesetzes im NT: Krauter, Stefan, Art. Gesetz / Tora (NT), in: WiBiLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/48920/), abgerufen am 15.04.2025.
Unter dem Vorzeichen des in Jesus Christus offenbarten Heils für alle Menschen konkretisiert sich die Frage nach der Rolle des Gesetzes in der Frage, ob Juden und Heiden Gemeinschaft haben können, ohne dass die Heiden auf den Gehorsam gegenüber dem Gesetz und speziell die Beschneidung verpflichtet werden müssen. Auf dem Apostelkonzil in Jerusalem (ca. 48 n. Chr.) gelangen die Apostel zu der Einsicht, den Heiden die Beschneidung nicht aufzuerlegen. Allein von Götzenopferfleisch und Unzucht sollen sie sich fernhalten (Apg 15,28f.[28] Denn es gefällt dem Heiligen Geist und uns, euch weiter keine Last aufzuerlegen als nur diese notwendigen Dinge: [29] dass ihr euch enthaltet vom Götzenopferfleisch und vom Blut und vom Erstickten und von Unzucht. Wenn ihr euch davor bewahrt, tut ihr recht. Lebt wohl!Zur Bibelstelle). Die Frage nach der Notwendigkeit nach Gesetzesobservanz und guten Werken beschäftigt die frühchristlichen Gemeinden gleichwohl intensiv. Dies zeigen zum einen die Konflikte, auf die Paulus in seinen Briefen antwortet. Zum anderen hält der Autor des Jakobusbriefes es in seinem Kontext für nötig, gegenüber einem tatenlosen Glauben herauszustellen, dass „der Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot in sich selber“ sei (Jak 2,17So ist auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot in sich selber.Zur Bibelstelle; vgl. Jak 2,26)Denn wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot.Zur Bibelstelle. Schon im Neuen Testament zeichnet sich somit ab, dass mit der Einsicht in die Gerechtigkeit aus Glauben die Dauerfrage entsteht, ob bzw. in welcher Weise der Mensch zu seiner Gerechtigkeit im Glauben an die Erlösung in Christus durch eigenes Tun beitragen kann und soll.
2. Altkirchliche und mittelalterliche Lehrentwicklung
Ausgehend von der Überzeugung, dass Gott durch Jesus Christus dem Menschen Erlösung geschaffen hat, steht in den Theologien der Kirchenväter zunächst die Frage im Vordergrund, wie die Gottessohnschaft Jesu Christi und wie seine Menschwerdung zu verstehen sind (vgl. Art. Zwei-Naturen-Lehre). Leitend wird dabei die Überzeugung, dass der Gottessohn dem Vater wesensgleich ist (Konzil von Nizäa 325) und dass er zugleich wahrhaft Mensch geworden ist. Im Hintergrund steht der soteriologische Grundgedanke: was nicht angenommen ist, ist auch nicht erlöst. Das Verständnis der Rechtfertigung wird zunächst nicht „ausdrücklich zum Gegenstand dogmatischer Reflexion“1Tietz, Christiane, Art. Rechtfertigung. III. Dogmengeschichtlich, in: RGG 7 (42004), 103–111, 103. erhoben. Das ändert sich bei Augustin , der in seinem Spätwerk betont, der Mensch werde allein durch die Gnade des gerechten Gottes gerecht. Die Einsicht in die Gerechtigkeit Gottes und Alleinwirksamkeit seine Gnade wird dabei bestimmend für die Sündenlehre. Weil der Mensch von Geburt an Sünder ist und seine Ursünde (peccatum originale) in der Abwendung von Gott und in der Selbstliebe besteht, kann der Mensch sich nicht von sich aus zu einem gerechten Gottesverhältnis bestimmen, sondern ist ganz und gar auf die Gnade Gottes angewiesen. Entscheidend für das Verständnis der Gnade ist dabei, dass sie den Menschen in seinem Willen dazu bewegt, Gott zu glauben. Die Gnade ist so gerechtmachende Gnade (gratia iustificans).2Vgl. Pesch, Otto Herrman, Art. Rechtfertigung, in: LThK 8 (1999), 889–902, 890f., Abschnitt 4. Der Glaube geht also nicht auf eine Eigenleistung des Menschen zurück. Vielmehr wird dem Menschen die Entscheidung des Glaubens geschenkt.3Vgl. zur Gnadenlehre Augustins Drecoll, Volker, Gnadenlehre, in: Ders. (Hrsg.), Augustin-Handbuch, Tübingen 2007, 488–498, 492. Auch wenn bei Augustin der Begriff der Rechtfertigung noch keinen dominanten Stellenwert gewinnt, prägt er doch mit seiner Gnaden- und korrespondierenden Sündenlehre die westliche Theologieentwicklung und schafft die Voraussetzungen für die Zentralstellung des Begriffs der Rechtfertigung. In der östlichen Theologie wird die Wirkung der Erlösung beim Menschen hingegen durch den Begriff der Theosis (Vergottung) beschrieben, der bis heute in der orthodoxen Theologie bestimmend ist.
In der Theologie des Mittelalters gewinnt die Rechtfertigungslehre im Anschluss an Augustin in den Sentenzenkommentaren und in den theologischen Summen einen festen Ort. Thomas von Aquin versteht die Rechtfertigung in Entsprechung zu dem lateinischen Begriff iustificatio als Gerechtmachung durch die Eingießung der Gnade, die allein Gottes Werk sei und den Menschen dazu bewege, Gottes Liebe zu erkennen und ihn in Glaube, Liebe und Hoffnung zu verehren. Rechtfertigung wird mithin in Fortführung der augustinischen Theologie effektiv als ein allein der Gnade Gottes zu verdankender Veränderungsprozess des Menschen verstanden. In der spätmittelalterlichen Theologie bei Duns Scotus
, in der Schule des Wilhelm von Ockham
und bei Gabriel Biel
wird theologisch die Freiheit Gottes in seiner gütigen und weisen Anordnung und das Wirken des Heiligen Geistes gegenüber einem habituellen Gnadenverständnis stärker betont. Dem korrespondiert pastoral- und bußtheologisch eine Akzentuierung der Mittätigkeit des Menschen in der Vorbereitung auf die Gnade (facere quod in se est), was die Kritik als Semipelagianismus provozieren musste.4Vgl. dazu Pesch, Rechtfertigung, 893, Abschnitt 9.
3. Reformatorische Rechtfertigungslehre
Die Theologie Martin Luthers entwickelt sich in der Verbindung seiner persönlichen existentiellen Erfahrung mit dem Bußsakrament einerseits und seiner theologischen Aufgabe als Lehrer der Bibelauslegung andererseits. In der Bußpraxis treibt Luther die Frage um, wie er wissen kann, ob er hinreichende Reue empfunden und ausreichende Bußwerke verrichtet habe. In seinen schweren Anfechtungen tröstet ihn sein Ordensoberer Johann von Staupitz
mit dem Verweis auf Gottes in Jesus Christus erwiesene Barmherzigkeit und lenkt Luthers Blick auf die christologischen Voraussetzungen. In beharrlichem Suchen nach dem wahren Sinn der biblischen Aussagen über die Gerechtigkeit Gottes und die Rechtfertigung des Menschen gelangt er zu der exegetischen Erkenntnis, dass Rechtfertigung bei Paulus einen forensischen Sinn hat und die Rechtfertigung mithin als Gerechtsprechung und nicht als effektives Geschehen des Gerechtwerdens verstanden ist. Damit verbunden gewinnt er in der Auslegung der paulinischen Aussagen über die Gerechtigkeit aus Glauben ohne die Werke des Gesetzes die Einsicht, dass Gott in der Gerechtsprechung nicht seine richterliche, sondern seine schenkende Gerechtigkeit walten lässt.5Vgl. Nüssel, Friederike, Allein aus Glauben. Zur Entwicklung der Rechtfertigungslehre in der konkordistischen und frühen nachkonkordistischen Theologie (FSÖTh 95), Göttingen 2000, 48–61. Grundlegend dafür ist die Sendung des Sohnes zur Erlösung der Menschen und sein stellvertretendes Sterben am Kreuz (vgl. Art. Tod Jesu Christi) für die Sünde(n) der Menschheit. In „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) interpretiert Luther die Rechtfertigung durch das Bild des fröhlichen Wechsels, dem zufolge Christus die Sünde des Menschen auf sich nimmt und ihm umgekehrt seine Gerechtigkeit schenkt. Solche Rechtfertigung wird dem Menschen allein durch die Verheißung des Evangeliums zuteil, in welchem Gott dem Menschen die Sünde vergibt und ihn im Glauben an Christus für gerecht erklärt.
Weil Gott in Christus alles zur Erlösung des Menschen getan hat, ist es für Luther ausgeschlossen, dass der Mensch zu seiner Rechtfertigung durch Werke beitragen kann. Vielmehr ist der Versuch, sich mit Werken Gott angenehm zu machen, für Luther bereits Ausdruck des Unglaubens, weil darin die umfassende Gnade Gottes verkannt wird. Demgegenüber ist der Glaube, der sich auf Gottes Zusage verlässt und nicht versucht, mit Werken gerecht zu werden, darin gerecht, dass er Gottes Gnade anerkennt und ablässt von dem Versuch der Selbstrechtfertigung. Die Glaubensgerechtigkeit versteht Luther dabei nicht als habitus oder Qualität des Menschen, sondern als Gerechtigkeit „extra se“ in Christus. Dem korrespondiert für Luther die existentielle Erfahrung, dass die Sünde durch die Rechtfertigung zwar vergeben, aber nicht beseitigt wird und sich der Mensch, wenn er sich in seiner Vorfindlichkeit betrachtet, nicht als gerecht wahrnehmen kann. Allein in Jesus Christus ist er gerecht. Darum charakterisiert Luther die Existenz des Glaubenden als Sünder und Gerechter (simul iustus et peccator). Dies impliziert, dass sich der Mensch die Gerechtigkeit nicht als seine Qualität zugutehalten kann.
Nachdem Philipp Melanchthon in der Confessio Augustana die Rechtfertigung zunächst als Sündenvergebung und Anerkennung der Gerechtigkeit im Glauben bestimmt hatte,6Siehe Art. IV der Confessio Augustana in: Dingel, Irene (Hrsg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, Göttingen 2014, 99. sieht er sich schon in der Apologie der Confessio Augustana und in seinen späteren Schriften gedrängt herauszustellen, dass sich das Rechtfertigungsurteil auf keinerlei Leistung oder Qualität des Menschen bezieht, sondern vielmehr in Zurechnung der fremden Gerechtigkeit Christi besteht, die der Mensch im Glauben ergreift. Sündenvergebung und Zurechnung der Gerechtigkeit Christi bedeuten nach Melanchthon dabei zugleich die Aufnahme in die Gotteskindschaft, die er im Unterschied zu Luther aber nicht als Einssein mit Christus beschreibt. Wenngleich schon Luther und Melanchthon damit unterschiedliche Akzente in der Auslegung der Rechtfertigung allein aus Glauben ohne alle Werke setzen, bringen sie diese doch gleichermaßen als den zentralen Artikel reformatorischer Theologie zur Geltung.7Vgl. dazu Nüssel, Glauben, 31–48. In der Theologie von Johannes Calvin
und der reformierten Tradition wird dieses Verständnis der Rechtfertigung geteilt. Allerdings wird zum einen die Alleinwirksamkeit der Gnade in der Rechtfertigung mit dem ewigen Erwählungsratschluss Gottes begründet. Zum anderen wird die Bedeutung der Werke in der Heiligung sowohl für die Gewissheit des Einzelnen hinsichtlich seiner Erwählung als auch für das christliche Gemeinwesen stärker betont.
Nach dem Tod Luthers kommt es unter den Anhängern seiner Lehre zu Streitigkeiten über das Verständnis der Rechtfertigung, die in der Konkordienformel von 1577 geschlichtet werden müssen. Für das Verständnis der Rechtfertigung ist vor allem die Ablehnung der These von Andreas Osiander wichtig, wonach die Rechtfertigung Anteil an der göttlichen Gerechtigkeit Christi gebe. Stattdessen wir die Rechtfertigung als Zurechnung (Imputation) der fremden Gerechtigkeit Christi betont. Weiter wird in Rekurs auf den Streit um die Bedeutung der guten Werke betont, dass diese nicht Gegenstand, sondern Folge der Rechtfertigungsverheißung sind. In Bezug auf den Streit zwischen Matthias Illyricus Flacius
und Viktorin Strigel
um das Verständnis der Erbsünde wird schließlich die Einstufung der Erbsünde als formale Substanz von Flacius abgelehnt, die Erbsünde aber als eine Korruption der menschlichen Natur verstanden und damit nicht nur als Akzidens eingestuft.
Im Unterschied zur reformatorischen Rechtfertigungslehre wird im Rechtfertigungsdekret des Trienter Konzils vom Januar 1547 die Rechtfertigung als effektive Gerechtmachung bestimmt, für die eine Vorbereitung in Gestalt freier Zustimmung und Mitwirkung des Menschen nötig ist.8Vgl. DH 1526f. (Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen (= Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum), verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping hrsg. von Peter Hünermann, Freiburg i. Br. 452017). Entsprechend wird in der Taufe als sakramentaler Vermittlung der Rechtfertigung die Sünde nicht nur vergeben, sondern beseitigt, weshalb bei neuer Sünde nach der Taufe die Buße zur Wiederherstellung der Taufgnade notwendig ist. In dem Interesse, die sittliche Erneuerung des Menschen durch die Rechtfertigung zu betonen, verdammt das Konzil die reformatorische Grundeinsicht, dass der Mensch allein aus Glauben gerecht werde. In der Folgezeit verschärft sich der Gegensatz, indem in der Entwicklung der römisch-katholischen Gnadentheologie die Mitwirkung des Menschen im Prozess seiner inneren und äußeren Umwandlung noch stärker betont wird, während in der lutherischen Theologie dem Verständnis der Rechtfertigung als Imputation der fremden Gerechtigkeit zentraler Stellenwert gegeben wird.
4. Aufklärung und Moderne
An einer äußerlich bleibenden Zurechnung der Gerechtigkeit setzt zum einen die pietistische Kritik an mangelnder innerlicher Erneuerung an. Zum anderen erklären die Denker der Aufklärung ähnlich wie schon die Sozinianer die Zurechnung einer fremden Gerechtigkeit für sittlich nicht vertretbar. Diese Kritik profiliert Immanuel Kant in seiner Schrift „Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793/94). Evangelische Theologen im 19. Jahrhundert reformulieren daraufhin die Rechtfertigungslehre, allen voran Friedrich Schleiermacher
in „Der christliche Glaube“ (1820/21, 2. Ausgabe 1830/31). Für ihn geht es in der Vermittlung des Heils um die Aufnahme des Menschen in die Lebensgemeinschaft mit Jesus Christus, welche in der Wiedergeburt geschieht.
Das Aufgenommenwerden in die Lebensgemeinschaft mit Christo ist als verändertes Verhältniß des Menschen zu Gott betrachtet seine Rechtfertigung, als veränderte Lebensform betrachtet seine Bekehrung.9Schleiermacher, Friedrich, Der christliche Glaube, hrsg. von Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008, § 107, 168.
Wie in der Confessio Augustana und den anderen reformatorischen Bekenntnissen bestimmt Schleiermacher die Rechtfertigung als Sündenvergebung und Anerkennung der Gotteskindschaft, betont aber, dass diese Umänderung des Gottesverhältnisses nur erfolgt, „sofern der Mensch den wahren Glauben an den Erlöser hat.“10Schleiermacher, Glaube, § 109, 191. Albrecht Ritschl nennt dieses Verständnis des Rechtfertigungsurteils analytisch, insofern der Mensch aufgrund der Gerechtigkeit des Glaubens für gerecht erklärt wird. Dagegen bringt er das synthetische Verständnis, welches er bei den Reformatoren findet, zum Zuge, allerdings nun mit dem klaren Fokus auf die Konstitution der Sittlichkeit. Entscheidend ist für Ritschl, dass durch die Rechtfertigung das Schuldbewusstsein des Menschen aufgehoben wird, welches den Menschen hemmt, an der Realisierung des Reiches Gottes mitzuarbeiten. Das könne aber nur durch ein Urteil geschehen, das nicht durch irgendeine Leistung des Menschen hervorgerufen wird, weil es sonst die „reine göttliche Gnadenabsicht“11Ritschl, Albrecht, Unterricht in der christlichen Religion, eingeleitet und hrsg. von Christine Axt-Piscalar, Tübingen 2002, § 45, 62. und den schöpferischen Willen Gottes nicht zum Ausdruck bringe. Das synthetische Rechtfertigungsurteil setzt den Glauben bzw. Sinneswandel zwar nicht voraus, zielt aber gerade in seinem synthetischen Charakter auf Freisetzung der Sittlichkeit und geht mit der Annahme des Schuldbewusstseins von einer zumindest partiellen Sündenerkenntnis des Menschen aus.
In kritischer Abgrenzung vom epistemologischen und sittlichen Optimismus der liberalen Theologie bringen die Vertreter der sog. dialektischen Theologie, insbesondere aber Karl Barth , die Radikalität der Sünde neu zum Zuge. Diese besteht darin, dass der Mensch die Sünde und seine Angewiesenheit auf die Gnade Gottes gerade von Grund auf verkennt und stattdessen „sein eigener Helfer sein“12Barth, Karl, Kirchliche Dogmatik IV/1. Die Lehre von der Versöhnung, Zürich 51986, § 60, 395. will. Nach Barth hat Gott sein Recht im Tod Jesu Christi aufgerichtet und in seiner Auferstehung proklamiert und so dem Menschen das ihm gewährte Recht, Bundesgenosse Gottes zu sein, in Jesus Christus zugesprochen. Doch diese Erwählung und dieser Zuspruch sind „keinem Ersinnen, Erstreben und Vollbringen irgend eines Menschen zugänglich“.13Barth, KD IV/1, § 61, 573. Indem in Jesus Christus die Menschheit schon gerechtfertigt ist, kann der durch den Heiligen Geist Jesu Christi erweckte Glaube nur Anerkenntnis, Erkenntnis und Bekenntnis der geschehenen Aufrichtung des Gottesrechts sein.14Vgl. Barth, KD IV/1, § 63, 836. Gegenüber der lutherischen Betonung der Rechtfertigungslehre als articulus stantis et cadentis,15Siehe dazu Mahlmann, Theodor, Zur Geschichte der Formel „Articulus stantis et cadentis ecclesiae“, in: LuThK 17 (1993), 187–194. die sich im konfessionellen Zeitalter etabliert hat, macht Barth geltend: „Der articulus stantis et cadentis ecclesiae ist nicht die Rechtfertigungslehre als solche, sondern ihr Grund und ihre Spitze: das Bekenntnis zu Jesus Christus, […] die Erkenntnis seines Seins, seines Tuns für uns und mit uns.“16Barth, KD IV/1, § 61, 588.
In der neueren Diskussion hat Wolfhart Pannenberg bei Barth und anderen die Abgeschlossenheit der Versöhnung im Christusereignis und die damit verbundene Unterbestimmung der geschichtlichen Vermittlung kritisiert. Wichtiger noch ist seine Unterscheidung zwischen einem imputativen und deklaratorischen Verständnis des Rechtfertigungsurteils.17Vgl. Pannenberg, Wolfhart, Systematische Theologie 3, Göttingen 1993, 238–265. Wenngleich Pannenberg die reformatorische Kritik am effektiven Verständnis der Rechtfertigung teilt und die Rechtfertigung als forensisches Geschehen versteht, lehnt er das imputative Verständnis als Zurechnung ab und favorisiert mit exegetischer Begründung ein deklaratorisches Verständnis des Rechtfertigungsurteils. Demzufolge wird der Mensch gerechtgesprochen, insofern er glaubt. So wird nicht nur die sittliche Schwierigkeit der Imputation einer fremden Gerechtigkeit vermieden, sondern auch das Problem, wie die Gerechterklärung des Gottlosen als ein gerechtes Urteil Gottes gelten kann. Diese Frage war insbesondere in der lutherischen Theologie im frühen 20. Jahrhundert virulent geworden.
Der forensisch-deklaratorischen Deutung der Rechtfertigung widerspricht Eberhard Jüngel in seiner Monographie „Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens: eine theologische Studie in ökumenischer Absicht“ (1998) und entfaltet demgegenüber Gottes Gerechterklärung als Erweis seiner den Tod überwindenden Liebe. Diese ist wird allerdings ebenso in der forensisch-deklaratorischen Deutung als Grund der Erlösung und Rechtfertigung angesehen. Die beschriebenen Schwierigkeiten der imputativen Rechtfertigungslehre werden mit diesem Ansatz allerdings nicht gelöst, weil die zugerechnete Gerechtigkeit dem Menschen äußerlich bleibt.
Das deklaratorische Verständnis der Rechtfertigung als Gerechterklärung des Glaubenden wiederum erfordert eine konsistente Erschließung des Glaubens als dem Referenzpunkt des Rechtfertigungsurteils, die zu erklären vermag, warum der Glaube keine Leistung des Menschen ist. Der Verweis auf die Wirkung des Glaubens durch den Heiligen Geist reicht hier nicht aus, wenn der Glaube wie im imputativen Verständnis als Akt der Aneignung der Gerechtigkeit Christi verstanden wird. Denn dieses Verständnis bleibt hinter dem umfassenderen Verständnis des Glaubens als Sein in Christus bei Paulus zurück, das durch die Taufe vermittelt wird. Als Sein in Christus ist der Glaube vielmehr verbunden mit dem Selbstverständnis, welches Paulus in Gal 2,20Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.Zur Bibelstelle artikuliert: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ In solchem Glauben wird Christus als Grund des neuen Lebens und damit auch als Grund des neuen Selbstverständnisses verstanden. Der Glaube ist die Wirkung des Geistes Christi, der dem Menschen sein Sein in Christus eröffnet, und damit keine Eigenleistung des Menschen. Wird die Rechtfertigung als Geschehen der Einbindung in Christus verstanden, durch die der Mensch auf Christus vertraut, ist für dieses Geschehen keine Vorbereitung in Form einer Bereitung zur Gnade bzw. ein Begehren der Gnade vorausgesetzt, wie dies in der tridentinischen Rechtfertigungstheologie der Fall ist. Darin, dass die Rechtfertigung in keiner Weise auf irgendeiner Vorleistung des Menschen beruht, kommen deklaratorische und imputative Deutung der Rechtfertigung überein.
In der modernen ökumenischen Debatte hat die reformatorische Rechtfertigungstheologie die Frage auf sich gezogen, ob die Betonung der reinen Passivität des Menschen im Rechtfertigungsgeschehen nicht bedeute, dass wir – wie Karl-Heinz Menke plakativ formuliert – „mit uns ohne uns“18Menke, Karl-Heinz, Rechtfertigung. Gottes Handeln an uns ohne uns? Jüdisch perspektivierte Anfragen an einen binnenchristlichen Konsens, in: Catholica 63/1 (2009), 58–72. gerechtfertigt werden. Die Frage nach dem personalen Beteiligtsein des Menschen war auch schon ein Thema in der innerreformatorischen Diskussion, wie sich an den verschiedenen Modellen erkennen lässt, in denen der Gedanke der innigen Vereinigung des Menschen mit Gott im Glauben (unio mystica) entwickelt wurde. Die unio mystica wird dabei in Analogie zur Vereinigung göttlicher und menschlicher Natur in der Inkarnation des Logos konzipiert. Die konkrete Vereinigung von Gottheit und Menschheit wird in der lutherischen und reformierten Dogmatik zwar übereinstimmend als communio und communicatio bestimmt, aber unterschiedlich ausgelegt. In der Tübinger lutherischen Christologie wird ein Verständnis entwickelt, wonach die Einheit der Person Jesu Christi durch die vorbehaltlose wechselseitige Kommunikation zwischen Gottheit und Menschheit konstituiert wird. Christus ist die gottmenschliche Person in Wechselverhältnis von Geben und Empfangen bzw. Teilgabe und Teilhabe.19Vgl. dazu ausführlicher Nüssel, Friederike, Geschenkte Reziprozität. Luthers Kritik am Messopfer im Licht des Gabediskurses, in: Wasmuth, Jennifer/Zeeb, Frank (Hrsg.), Ökumenische Herausforderung der Lutherforschung. FS Theodor Dieter, Leipzig 2024, 47–62. Dieses dynamische Verständnis der Personkonstitution steht im Hintergrund, wenn Friedrich Schleiermacher
die Erlösung darin sieht, dass der Erlöser die Gläubigen in sein Gottesbewusstsein aufnimmt.20Schleiermacher, Glaube, § 100, 104. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Tübinger lutherischer Christologie und Schleiermacher Nüssel, Friederike, Luther and Schleiermacher. Schleiermacher’s Transformation of Luther’s Christological Legacy, in: Kärkkäinen, Pekka/Vainio, Olli-Pekka (Hrsg.), Apprehending Love. Theological and Philosophical Inquiries. FS Risto Saarinen (Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft 73), Helsinki 2019, 163–181. In Analogie zu dem vom Sein Gottes in ihm bestimmten Gottesbewusstsein Jesu wird die Empfänglichkeit der Glaubenden als „lebendige Empfänglichkeit“21Zur tragenden Bedeutung des Konzepts von der lebendigen Empfänglichkeit siehe Schmidtke, Sabine, Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heiligung. ‚Lebendige Empfänglichkeit‘ als soteriologische Schlüsselfigur der ‚Glaubenslehre‘ (DoMo 11), Tübingen 2015. gedacht, durch die die Glaubenden an ihrer Aufnahme in die Lebensgemeinschaft mit Christus personal beteiligt sind. Wenngleich Pannenberg
sich in seiner Argumentation nicht auf Schleiermacher stützt, wird der Glaube doch in ähnlicher Weise als Teilnahme am Sohnesverhältnis Jesu verstanden.22Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie 3, 238.262–265.
5. Ökumene und gegenwärtige Bedeutung
Am Ende des 20. Jahrhunderts ist der kirchentrennende Gegensatz in der Rechtfertigungslehre mit der Unterzeichnung der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (GER) am Reformationstag in Augsburg 1999 als überwunden erklärt worden. In der Aufarbeitung der einzelnen Lehrdifferenzen in differenzierenden Konsensen ist es gelungen, die Alternative zwischen forensischer und effektiver Interpretation der Rechtfertigung vor dem Hintergrund der Übereinstimmung in der Alleinwirksamkeit der Gnade Gottes zu vermitteln. In der nachfolgenden Diskussion wurde allerdings deutlich, dass der anthropologische Gegensatz im Verständnis des menschlichen Willens und seiner Freiheit, der in der Debatte zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin Luther
über die Willensfreiheit 1525 hervortrat, in modifizierter Form bis heute besteht. Nach katholischem Verständnis verfügt der Mensch über die Freiheit, die Gnade zu erstreben, so dass von ihm das Erstreben der Gnade als Vorbereitung auf die Rechtfertigung erwartet werden kann. Darin besteht nach katholischem Verständnis das personale Beteiligtsein des Menschen. In der evangelischen Theologie wird hingegen diese Möglichkeit bestritten, weil der Mensch durch die Sünde so in sich verkrümmt ist, dass er sich nicht daraus befreien kann und ganz auf Gottes Zuwendung in seiner Gnade angewiesen ist. Da in der römisch-katholischen Lehre aber die Beteiligung des Menschen in Gestalt der Vorbereitung des Menschen auf die Gnade auch selbst wieder auf Gottes Gnadenwirken zurückgeführt und darin die Alleinwirksamkeit der Gnade in der Heilsaneignung betont wird, ist es sachgerecht, dass der Unterschied im Freiheitsverständnis in der GER nicht als kirchentrennend thematisiert wird.23Vgl. GER, 31.10.1999 (https://lutheranworld.org/sites/default/files/2022-02/joint_declaration_2019_de.pdf), abgerufen am 15.04.2025, 13–14, Nr. 19–21. Die Überzeugung von der Alleinwirksamkeit der göttlichen Gnade in der Rechtfertigung dürfte auch der Grund dafür sein, dass im Jahr 2007 der Weltrat der Methodistischen Kirchen und im Jahr 2017 sowohl die Reformierte Weltgemeinschaft wie auch der Anglikanische Konsultativausschuss der GER offiziell zustimmen konnten, obwohl auch hier Differenzen im Verständnis der Freiheit des Menschen und der Bedeutung der Heiligung bestehen.
Weiterführende Infos Konfessionskunde
Zur ökumenischen Dimension vgl. Swarat, Uwe, Art. Rechtfertigung, in: Konfessionskunde (https://konfessionskunde.de/themen/begriff/rechtfertigung/), abgerufen am 15.04.2025.
Entscheidend für die Erklärung der Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre ist die Differenz zwischen dem Geschehen, welches der Terminus „Rechtfertigung“ bezeichnet, und der Rechtfertigungslehre. Der Ausdruck „Rechtfertigung“ bezeichnet einen Aspekt des umfassenden Heilsgeschehens, in dem Gott in Jesus Christus durch seinen Geist dem Menschen seine Gerechtigkeit erschlossen hat, in der er den Menschen zur Vollendung der gottebenbildlichen Bestimmung des Menschen in der Gemeinschaft mit Gott und Mitgeschöpfen führt. Mit dem Begriff „Rechtfertigung“ wird betont, dass Gott durch sein Heilswerk Gerechtigkeit schenkt. Er setzt darin aber bereits ein Wissen um das Heilswerk, welches im Evangelium verkündigt wird, voraus und ist gewissermaßen ein theologischer „insider“-Begriff. Martin Luther hat in der Erklärung der Gnadenzusage des Evangeliums in seinen Katechismen und Predigten Gottes heilsame Zuwendung zum Menschen zumeist ohne Rekurs auf den Begriff der Rechtfertigung erklärt. Während sich auf den Begriff der „Rechtfertigung“ in der Verkündigung verzichten lässt, ist die Rechtfertigungslehre hingegen in ihrer kriteriologischen Funktion für die Verkündigung unverzichtbar. Die in den particulae exclusivae sola gratia, solo Christo, solo verbo und sola fide spezifizierte Alleinwirksamkeit Gottes im Heilsgeschehen ist das Grundprinzip, an dem sich die Evangeliumsverkündigung zu orientieren hat. In dieser kriteriologischen Bedeutung hat die Rechtfertigungslehre durch die Übereinkunft in der GER interkonfessionelles Gewicht gewonnen. Das gilt unbeschadet dessen, dass sich „Katholiken von mehreren Kriterien in Pflicht genommen sehen“.24GER, 13, Nr. 18; welches diese sind, wird in GER 18 nicht gesagt, im Dialog werden aber bestimmte Kriterien in Bezug auf das Verständnis und die institutionelle Gestalt von Kirche in Anschlag gebracht. In ihrer kriteriologischen Bedeutung fungiert die Rechtfertigungslehre als regulative Idee für die Explikation des Evangeliums, ist darin aber gerade von dem mit dem Terminus „Rechtfertigung“ adressierten Heilsgeschehen zu unterscheiden. Die Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre basiert mithin auf der Berücksichtigung dieser Differenz und realisiert sich in ihrer kriteriologischen Funktion.