Nachfolge

Nachfolge (imitatio Christi) bleibt in der evangelischen Theologie ein sperriger Begriff, der in aktuellen Debatten oft vermieden wird. In diesem Artikel wird Nachfolge hingegen als christliches Empowermentkonzept insbesondere im Horizont religiöser Erfahrungen, theologischer Sprachfähigkeit und gelebter Theologie diskutiert. So kann Nachfolge als Schlüsselkonzept einer von Ernst Lange oes-gnd-iconwaiting... geforderten, befreiungstheologisch inspirierten Bildung als „Sprachschule für die Freiheit“[i] verstanden werden.

[i] Lange, Ernst, Sprachschule für die Freiheit. Bildung als Problem und Funktion der Kirche, in: Schloz, Rüdiger/Butenuth, Alfred (Hrsg.), Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns, München/Gelnhausen 1992.

Inhaltsverzeichnis

    Anmerkung der Redaktion
    Dieser Artikel ist eine gekürzte und leicht überarbeitete Nachveröffentlichung von: Müller, Sabrina, Art. Nachfolge (als freiheitliche und lebensfördernde theologische Praxis), in: WiReLex, 2022 (https://doi.org/10.23768/wirelex.Nachfolge_als_freiheitliche_und_lebensfrdernde_theologische_Praxis.201049).

    1. Einleitung

    Sowohl historisch als auch im Weltchristentum spielt Nachfolge (englisch: discipleship) eine wesentliche Rolle.1Der Titel der 13. Weltmissionskonferenz 2018 des Ökumenischen Rates der Kirchen in Arusha (Tansania) lautete etwa: Moving in the Spirit. Called to Transforming Discipleship, vgl. Anders, Christoph et. al. (Hrsg.), Vom Geist bewegt – zu verwandelnder Nachfolge berufen. Zur Weltmissionskonferenz in Tansania, Hamburg 2018. Bis heute wird er dagegen in aktuellen (vorwiegend deutschsprachigen) praktisch-theologischen und systematisch-theologischen Debatten vermieden. Dies könnte zum Hintergrund haben, dass der Begriff mehrere starke Konnotationen aufweist, die eine Eingliederung in eigene Konzeptionen erschweren könnten: Zum einen steht der Begriff im Zusammenhang mit einem der zentralen Werke Dietrich Bonhoeffers oes-gnd-iconwaiting... im Horizont des Dritten Reichs, zum anderen wird Nachfolge, zum Teil auch unter dem Begriff der Jüngerschaft, in eher evangelikal-geprägter Literatur aufgegriffen.2Dies zeigt sich besonders in der praxisorientierten evangelikalen Literatur, etwa zu Glaubenskursen, vgl. dazu Kapitel 4 in: Müller, Sabrina, Art. Nachfolge (als freiheitliche und lebensfördernde theologische Praxis), in: WiReLex, 2022 (https://doi.org/10.23768/wirelex.Nachfolge_als_freiheitliche_und_lebensfrdernde_theologische_Praxis.201049), abgerufen am 10.06.2025. Desweiteren spielt der Begriff in der katholischen Theologie im Rahmen befreiungstheologischer Konzeptionen eine zentrale Rolle, auf die deshalb später näher eingegangen wird.

    Im Folgenden wird der Nachfolgebegriff knapp neutestamentlich und systematisch-theologisch nachvollzogen.

    Danach wird Nachfolge auf eine spätmoderne Gesellschaft bezogen und als christliches Empowermentkonzept diskutiert, das auch praktisch-theologisch anschlussfähig ist.3Vgl. zu den praktisch-theologischen und religionspädagogischen Konsequenzen: Müller, Nachfolge.

    2. Neutestamentliche Perspektive

    Jesu Wirken ist untrennbar mit seinem Ruf zur Nachfolge verbunden, ebenso wie christliche Nachfolge stets auf ihn verweist. Er ruft Frauen (Mk 15,40f[40] Und es waren auch Frauen da, die von ferne zuschauten, unter ihnen Maria Magdalena und Maria, die Mutter Jakobus des Kleinen und des Joses, und Salome, [41] die ihm nachgefolgt waren, als er in Galiläa war, und ihm gedient hatten, und viele andere Frauen, die mit ihm hinauf nach Jerusalem gegangen waren.Zur Bibelstelle; Lk 8,1–3[1] Und es begab sich danach, dass er von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf zog und predigte und verkündigte das Evangelium vom Reich Gottes; und die Zwölf waren mit ihm, [2] dazu etliche Frauen, die er gesund gemacht hatte von bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, genannt Magdalena, von der sieben Dämonen ausgefahren waren, [3] und Johanna, die Frau des Chuza, eines Verwalters des Herodes, und Susanna und viele andere, die ihnen dienten mit ihrer Habe.Zur Bibelstelle) und Männer gleichermaßen in seinen Jünger*innen-Kreis.4Vgl. Luz, Ulrich, Art. „Ortsgemeinde und Gemeinschaft im Neuen Testament“, in: Evangelische Theologie 70 (2010), 404–415, 407. Sein Ruf ist geschlechtsunabhängig, meist unmittelbar und fordert eine sofortige Entscheidung. Die Evangelien berichten sowohl von Menschen, die alles stehen und liegen lassen (Mk 1,16–18[16] Als er aber am Galiläischen Meer entlangging, sah er Simon und Andreas, Simons Bruder, wie sie ihre Netze ins Meer warfen; denn sie waren Fischer. [17] Und Jesus sprach zu ihnen: Kommt, folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen! [18] Und sogleich verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach.Zur Bibelstelle), als auch von solchen, die dem Ruf nicht folgen (Mt 8,18–20[18] Als aber Jesus die Menge um sich sah, befahl er, hinüber ans andre Ufer zu fahren. [19] Und es trat ein Schriftgelehrter herzu und sprach zu ihm: Meister, ich will dir folgen, wohin du gehst. [20] Jesus sagt zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.Zur Bibelstelle). Dabei lassen sich im Neuen Testament zwei Dimensionen der Nachfolge unterscheiden:5Vgl. Luz, Ulrich, Art. Nachfolge Jesu I, in: Theologische Realenzyklopädie 23 (1994), 678–686, 678.

    1. Der Begriff ἀκολουθέω (jemandem folgen, mitgehen, sich leiten lassen) bezieht sich zum einen konkret auf die irdische Jesus-Nachfolge des engen Jünger*innen-Kreises, die sich durch bestimmte Spezifika auszeichnet: Wanderschaft, Bruch mit der Familie, Ehelosigkeit, Armut und das Angewiesen sein auf Gastfreundschaft.6Vgl. Kittel, Gerhard, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament 1, Stuttgart 1966, 214. Gleichzeitig bezieht sie sich auf das unmittelbar bevorstehende Reich Gottes mit seinen Vorboten (Wunder, Heilungen, Exorzismen und Totenauferweckungen, vgl. z. B. Mk 1,15und sprach: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!Zur Bibelstelle).
    2. In der nachösterlichen Kirche wandelt sich der Nachfolgebegriff von der konkreten, physischen Aktion zum abstrakteren Konzept der imitatio Christi. Diese Entwicklung knüpft an die Evangelien an, in denen Nachfolge bereits abstrakt verstanden wird: „Ähnlich wie ‚Jünger‘ zu einem ekklesiologischen Begriff wurde, der transparent für die gegenwärtigen Leser und Leserinnen war […] wurde auch ἀκολουθέω für die Gegenwart transparent und zu einem Inbegriff des christlichen Lebens überhaupt.“7Luz, Nachfolge, 683. Besonders deutlich wird dies in der Kreuzesnachfolge (Mk 8,34f.[34] Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. [35] Denn wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s behalten.Zur Bibelstelle par), die wirkungsgeschichtlich als „Gemeinschaft mit dem Leiden Jesu“8Roloff, Jürgen, Die Kirche im Neuen Testament, Göttingen 1993, 156. gedeutet wird. Der Aspekt der Nachahmung Christi dominiert vor allem in den paulinischen Briefen (vgl. 1Kor 4,16Darum ermahne ich euch: Folgt meinem Beispiel!Zur Bibelstelle; Gal 4,12Werdet doch wie ich, denn auch ich wurde wie ihr, Brüder und Schwestern, ich bitte euch. Ihr habt mir kein Leid getan.Zur Bibelstelle; Gal 5,1[1] Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!Zur Bibelstelle; 1Thess 1,6Und ihr seid unsere Nachfolger geworden und die des Herrn und habt das Wort aufgenommen in großer Bedrängnis mit Freuden im Heiligen Geist,Zur Bibelstelle).9Vgl. Sim, David et al., Art. Nachfolge Christi, in: RGG Online, 2007 (https://doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_COM_024002), abgerufen am 10.06.2025.
    Weiterführende Infos WiBiLex

    Nachfolge und Nachahmung Christi werden auch im Kontext der Aussendung und Mission der Apostel thematisiert. Vgl. Kok, Kobus, Art. Aussendung/Mission/Apostel, in: WiBiLex (https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/neues-testament/aussendung-mission-apostel), abgerufen am 10.06.2025.

    3. Systematisch-theologische Perspektive

    Das Nachfolgeverständnis wandelte sich im Laufe der christlichen Geschichte. Es zeigt sich in der Bereitschaft der Märtyrer:innen zu Leiden und Sterben, im Mönchtum mit Gehorsam, Armut und Keuschheit, in den Kreuzzügen, bei Anhänger:innen radikaler Reformation sowie in der pietistischen Frömmigkeit von Philipp Jacob Spener oes-gnd-iconwaiting..., August Hermann Francke oes-gnd-iconwaiting... und Nikolaus Ludwig von Zinzendorf oes-gnd-iconwaiting.... Bonhoeffer oes-gnd-iconwaiting... prägte die protestantische Theologie der Neuzeit entscheidend, während in der katholischen Theologie heute besonders befreiungstheologische Ansätze den Nachfolgediskurs prägen.

    3.1. Nachfolge bei Dietrich Bonhoeffer

    Nachfolge hat oft keinen dezidierten Platz im Rahmen protestantischer Dogmatik und Ethik.10Vgl. das Fehlen der Nachfolge-Thematik in aktuellen dogmatischen Grundlagewerken: Körtner, Ulrich, Dogmatik (LETh 5), Leipzig 2018; Härle, Wilfried, Dogmatik, Berlin/Boston 52018. Zu einem ähnlichen Befund kommt auch schon Riches, John K., Art. Nachfolge Jesu III, in: TRE 23 (1994), 699–710, 710. Auch das Werk von Bonhoeffer oes-gnd-iconwaiting... ist eher erbaulicher Natur denn ein systematisches Werk. Dennoch hat dieser den Begriff der Nachfolge im besonderen Maße in den Vordergrund gerückt. Eines seiner meistgelesenen und einflussreichsten Werke trägt ebendiesen Titel. Das 1937 erschienene Werk ist Ausdruck einer kontextuellen Theologie. Es reagiert auf die historische Situation der Kirche im Nationalsozialismus und kann somit als eine Form des literarischen Widerstandes gelten.11Vgl. Tietz, Christiane, Dietrich Bonhoeffer. Theologe im Widerstand, München 22019, 69–73; Schmitz, Florian, Nachfolge. Zur Theologie Dietrich Bonhoeffers, Göttingen 2013.

    Bonhoeffer wendet sich gegen die „billige Gnade“,12Bonhoeffer, Dietrich, Nachfolge, in: Kuske, Martin/ Tödt, Ilse, Dietrich Bonhoeffer Werke 4, München 21994, 29–30. eine „Gnade ohne Preis und Kosten“13Bonhoeffer, Nachfolge, 29. und betont stattdessen die „teure Gnade“: „Teuer ist sie, weil sie in die Nachfolge ruft, Gnade ist sie, weil sie in die Nachfolge Jesu Christi ruft.“14Bonhoeffer, Nachfolge, 31. Gnade ist für ihn untrennbar mit Gehorsam verbunden: „Nur der Glaubende ist gehorsam und nur der Gehorsame glaubt.“15Bonhoeffer, Nachfolge, 52.

    Sein Werk hat einen ekklesiologischen Fokus: „Wollen wir seinen Ruf in die Nachfolge hören, so müssen wir ihn dort hören, wo er selbst ist. Der Ruf Jesu Christi ergeht in der Kirche durch sein Wort und Sakrament.“16Bonhoeffer, Nachfolge, 215. Nachfolge bedeutet für die Kirche eine klare Abgrenzung vom weltlichen Leben, zugleich aber Verantwortung für die Welt. Bonhoeffer stellt die Forderung auf, dass „Welt Welt sei und die Gemeinde Gemeinde und daß doch das Wort Gottes von der Gemeinde ausgehe über alle Welt.“17Bonhoeffer, Nachfolge, 277ff.

    Auch Karl Barth oes-gnd-iconwaiting... greift die Nachfolge auf, insbesondere in seiner Lehre der Heiligung. Er übernimmt zentrale Gedanken Bonhoeffers: „Die Nachfolge entsteht im Glauben, um sofort in der Tat des Jesus geleisteten Gehorsams zu bestehen.“18Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik. Die Lehre von Gott IV/2, Zollikon–Zürich 1955. 

    Das Verständnis vom Christ:insein als Nachfolge bei Bonhoeffer wird u. a. in diesem Gespräch mit Prof. Dr. Peter Zimmerling verdeutlicht: Das Lernen der Nachfolge: Bonhoeffer und das Gemeinsame Leben – Gespräch mit Prof. Dr. Zimmerling (Profundum Austria), 09.05.2024.

    3.2. Befreiungstheologische und feministisch-theologische Ansätze im katholischen Bereich

    Auch in der katholischen Theologie erweist sich Nachfolge nicht als Grundbegriff.19Beispiele aus unterschiedlichen theologischen Disziplinen, in denen Nachfolge nicht im Register auftaucht sind: Haslinger, Herbert, Pastoraltheologie, Paderborn 2015; Merks, Karl-Wilhelm, Theologische Fundamentalethik, Freiburg 2020; Rahner, Karl, Hörer des Wortes, Sämtliche Werke 4, Freiburg 1997; Rahner, Karl, Geist in Welt, Sämtliche Werke 2, Freiburg 1996. Zwar greift Hans Küng oes-gnd-iconwaiting... die Thematik in seinem breit rezipierten Werk Christ Sein als einen Bestandteil des christlichen Glaubens auf, die Monografie versteht sich selbst aber weniger als wissenschaftliches, denn als katechetisches Werk respektive als „eine kleine ‚Summa‘ des christlichen Glaubens“ (Küng, Hans, Christ Sein, München 1976, 17). Allerdings findet sich das Thema in der Befreiungstheologie und der feministischen Theologie als zentrales Anliegen. Jean Baptiste Metz oes-gnd-iconwaiting... betont: „Vor allem im Rückgriff auf […] das Nachfolgemotiv vergewisserte sich diese neue Politische Theologie der biblischen Wurzel ihrer Gottesrede.“20Metz, Jean Baptiste, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg 2017, 230.

    Das Verständnis des Begriffes ist in diesen Strömungen zumeist abhängig von der spezifischen befreiungstheologischen Christologie, die sich Überlegungen zu Christus aus einer „Perspektive der Opfer21Sobrino, Jon, Der Glaube an Jesus Christus. Eine Christologie aus der Perspektive der Opfer, Ostfildern 2008, 29. heraus nähert. Christologie wird hier also weniger mit einem theoretischen als mehr mit einem praktischen Interesse verfolgt, das dazu beitragen soll, Glauben in einer Situation der politischen Unterdrückung zu denken. Eine politische Dimension des Handelns Christi soll daher betont werden.22Vgl. Bussmann, Claus, Befreiung durch Jesus? Die Christologie der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, München 1980, 60. Christus gilt hier als der Befreier, der radikal auf der Seite der Armen steht, dessen Handeln sich nicht nur auf das Individuum, sondern ebenso auf die Bekämpfung von sozialer, struktureller und politischer Sünde bezieht.23Vgl. Riches, Nachfolge, 701.

    Exemplarisch wird dies bei Jon Sobrino oes-gnd-iconwaiting... sichtbar, der betont:

    […] wichtig ist aber, dass die christologischen Texte nicht nur davon sprechen, wer Christus ist. Sie sprechen auch davon, dass, wer eine Haltung ihm gegenüber einnimmt, in ein ganzes Gefüge von Wirklichkeiten gestellt wird, dem gegenüber man eine Haltung einnehmen muss. Der Glaube an Jesus Christus ist mehr als der Glaube an ihn.24Sobrino, Glaube, 28.

    Diese die ganze Wirklichkeit umfassende Haltung liegt in dem spezifischen Verständnis von Nachfolge als „eine auferstandene Nachfolge“.25Sobrino, Glaube, 38. Durch Nachfolge soll das sichtbar gemacht werden, „was es in der Auferstehung an Sieg über die Unterdrückungen in der Geschichte gibt“.26Sobrino, Glaube, 41.

    Auch in der feministischen Theologie wurde der Nachfolgebegriff aufgenommen, dabei wurde u. a. von Elisabeth Schüssler Fiorenza oes-gnd-iconwaiting... immer wieder darauf hingewiesen, dass die geistliche Autorität von Frauen zurückgewonnen werden muss. In ihrem feministischen Ansatz von Nachfolge (discipleship) werden insbesondere Aspekte von Gerechtigkeit, Befreiung, gleichzeitig aber auch die Anerkennung von Frauen in ihrer je eigenen Individualität betont. Schüssler Fiorenzas Reflexion der Nachfolge von Gleichen bzw. Gleichberechtigten stellt die Gleichwertigkeit in Vielfalt ins Zentrum.27Vgl. Schüssler Fiorenza, Elisabeth, Discipleship of Equals. A Critical Feminist Ekklēsia–Logy of Liberation. New York 1993, 70.

    Wie in diesem kurzen systematischen Abriss gezeigt wurde, hängt die Deutung des Begriffs von der kontextuellen Situation und von aktuellen Gegebenheiten ab.

    4. Nachfolge als theologisches Empowerment

    In vielen evangelischen Kirchen stehen Gnade und Rechtfertigung im Zentrum. Wer in Kontinentaleuropa aber Nachfolge betont, gerät schnell unter den Verdacht, pietistisch-evangelikal geprägt zu sein, geistliche Hierarchien mit primi inter pares zu etablieren oder Werkgerechtigkeit zu postulieren. Doch ein Ausklammern des Themas würde den Anschluss an das weltweite Christentum verlieren, in dem Nachfolge – wie im Neuen Testament und der christlichen Tradition – zentral bleibt.

    Im Folgenden wird daher ein spätmodernes Verständnis von Nachfolge als theologisches Empowerment entfaltet, das sich von einer einseitig theologischen Ausrichtung löst. So wird Nachfolge als gemeinsamer und individueller hermeneutischer Prozess verstanden, der Menschen befähigt, ihre religiösen Erfahrungen zu deuten und sich als mündige Subjekte im Horizont des Allgemeinen Priestertums zu entwickeln.

    Weiterführende Infos WiReLex

    Für eine religionspädagogische Vertiefung und weiterführende Informationen zu „Empowerment“ vgl. Bucher, Georg, Art. Empowerment, in: WiReLex (https://doi.org/10.23768/wirelex.400003), abgerufen am 10.06.2025.

    Seit der Reformation steht beim Allgemeinen Priestertum die Überzeugung im Zentrum, dass jede Person die Bibel selbst lesen und verstehen kann, was die religiöse Verantwortung und theologische Mündigkeit betont.28Vgl. Kunz, Ralph/Zeindler, Matthias (Hrsg.), Alle sind gefragt. Priestertum aller Gläubigen heute, Zürich 2018, 7. Es geht weniger um spezifisches Wissen als um die Begleitung theologischer und religiöser Glaubens-, Zweifel- und Suchprozesse.29Vgl. Müller, Sabrina, Discipleship. Eine kirchentheoretische Grundfigur in der Spannung von Bekenntnisorientierung und Deutungsoffenheit, in: Praktische Theologie 53/1 (2018), 34–37, 35. Es ist die alltägliche, gelebte Theologie, in der die Glaubenskonstruktion des Menschen sichtbar wird und ernst genommen werden muss.

    Im deutschsprachigen Raum fehlt für diese gelebte Theologie ein fester Begriff, während im angelsächsischen Raum ein breiter Diskurs geführt wird. So wies Jeff Astley oes-gnd-iconwaiting... mit dem Begriff „ordinary theology“ schon 2002 auf die Bedeutung der Alltagstheologie hin.30Vgl. Müller, Sabrina, Gelebte Theologie. Impulse für eine Pastoraltheologie des Empowerments (Theologische Studien 14), Zürich 2019, 33–34. Diese gelebte Theologie gibt keine Antwortsicherheit, sondern sie hält die Spannung einer fragenden Existenz zwischen Anfechtung und Gewissheit aufrecht. Sie ist keine normative Wissenschaft, sondern eine diskursive, praxisorientierte und hermeneutische Tätigkeit, die sich der Möglichkeit transzendenter Existenz verpflichtet fühlt.

    Anders als gelebte Religion oder gelebter Glaube, die oft vorreflexive Momente beschreiben,31A. Dinter oes-gnd-iconwaiting... und G. Heimbrock oes-gnd-iconwaiting... beschreiben mit gelebter Religion einen offenen Erfahrungsprozess im Alltag, bei dem es speziell um den Versuch geht, mit der vorreflexiven Unmittelbarkeit in Berührung zu kommen. Die Autoren verweisen auf alltägliche Erscheinungen, die vom Individuum als bedeutsam, aber nicht als explizit religiös eingestuft werden. Vgl. Dinter, Astrid et al. (Hrsg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, Göttingen 2007, 73–74. bezeichnet gelebte Theologie eine erfahrene und reflektierte Glaubenspraxis, die ein kritisches Moment des Zweifelns und Fragens beinhaltet: „Gelebte Theologie gründet in der Erfahrungswelt und Lebensrealität der Menschen. Sie wird dann zur Theologie, wenn sie reflektierten Ausdruck findet und auf öffentliche Resonanz stösst.“32Müller, Theologie, 39. Ihre Gestalt ist nicht Antwortsicherheit, „sondern fragende Existenz zwischen Anfechtung und Gewissheit.“33Luther, Henning, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 23. Theologie in diesem Horizont ist nicht primär eine normative und ergebnissichernde Wissenschaft, sondern ebenso eine diskursive, praxisbezogene und hermeneutische Tätigkeit,34Vgl. u. a. Tracy, Davi, Talking about God. Doing Theology in the Context of Modern Pluralism, New York 1983; Pears, Angie, Doing Contextual Theology, Abingdon/New York 2009; Storrar, William/Morton, Andrew, Public Theology for the 21st Century, London/New York 2004; Francis, Leslie J./Astley, Jeff (Hrsg.), Exploring Ordinary Theology. Everyday Christian Believing and the Church, Farnham/Burlington 2013. die sich dem „etsi Deus daretur“,35Dalferth, Ingolf U., God first. Die reformatorische Revolution der christlichen Denkungsart, Leipzig 2018, 52. also der Möglichkeit transzendenter Existenz, verpflichtet weiß.36Vgl. Suhner, Jasmine, Menschenrechte – Bildung – Religion. Bezugsfelder, Potentiale, Perspektiven, Paderborn 2021,120–150. In diesem Austauschprozess entwickelt sich die theologische Sprachfähigkeit des Individuums und es kann individuelle und gemeinschaftliche Theologieproduktivität entstehen. Durch das Theologisieren werden fundamentale menschliche Orientierungsweisen und -fragen angesprochen, die in ihrer existentiellen Dimension konstruktiv-kritische Hermeneutik des Menschseins sind.37„Revelation is the manifestation of what concerns us ultimately. The mystery which is revealed is of ultimate concern to us because it is the ground of our being.“ (Tillich, Paul, Systematic Theology 1, Chicago 11973, 110). In dieser Funktion kann die Theologie katalytische Wirkungen entfalten, indem sie religiöse Erfahrungen,38Vgl. dazu ausführlich Müller, Sabrina, Religiöse Erfahrung und ihre transformative Kraft. Qualitative und hermeneutische Zugänge zu einem praktisch-theologischen Grundbegriff, Berlin/Boston 2023. die für das Individuum als intuitiver Wissens- und Erkenntnisgewinn fungieren, wahrnimmt, distanzierend herausstellt, nach einer Sprache für diese Erfahrungen sucht und sie kritisch auf lebensfördernde und lebenshindernde Mechanismen prüft.39Vgl. Müller, Sabrina/Suhner, Jasmine, Eine Frage der Relation. Praktisch-theologische Annäherungen an die Frage nach Irrtum und Erkenntnis, in: conexus 2 (2019), 8–24, 9–10.

    Der hier beschriebene Modus des gemeinsamen Theologisierens ist auf den Alltag, die religiöse Erfahrung, die alltägliche gelebte Religion und die gelebte Theologie des Individuums bezogen. Er bedeutet eine permanente Verschränkung von Erfahrung und Praxis der Freiheit,40Vgl. Hermelink, Jan, Art. Lange, Ernst (1927–1974), in: TRE Online, 2010 (https://www.degruyter.com/document/database/TRE/entry/tre.20_436_6/html), abgerufen am 10.06.2025. mit dem Ziel, lebensfördernde Prozesse anzuregen und zu einer „Sprachschule für die Freiheit“41Lange, Sprachschule. anzuleiten. Nachfolge im Sinne dieses gemeinsamen Theologisierens ist also auf ein Empowerment zur persönlichen Alltagshermeneutik angewiesen. Durch Partizipation und Anteilnahme kann die eigene Existenz so im Licht persönlicher und manchmal auch pneumatologischer Hoffnungsperspektiven wahrgenommen und transformiert werden kann.

    Weiterführende Infos

    Ein Beispiel für theologisches Empowerment von Laienmiterabeiter:innen weltweit wird z. B. in diesem Artikel geschildert: Bauer, Christian, Der geteilte Hirtenstab. Laienmitarbeiter:innen solidarisieren sich weltweit, 10.10.2023 (https://www.feinschwarz.net/der-geteilte-hirtenstab-laienmitarbeiterinnen-solidarisieren-sich-weltweit/), abgerufen am 10.06.2025.

    Weiterführende Literatur

    Francis, Leslie J./Astley, Jeff (Hrsg.), Exploring Ordinary Theology. Everyday Christian Believing and the Church, Farnham/Burlington 2013.

    Kunz, Ralph/Zeindler, Matthias (Hrsg.), Alle sind gefragt. Priestertum aller Gläubigen heute, Zürich 2018.

    Lange, Ernst, Sprachschule für die Freiheit. Bildung als Problem und Funktion der Kirche, in: Schloz, Rüdiger/Butenuth, Alfred (Hrsg.), Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns, München/Gelnhausen 1992.

    Luther, Henning, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992.

    Müller, Sabrina, Gelebte Theologie. Impulse für eine Pastoraltheologie des Empowerments, Theologische Studien, Zürich 2019.

    Einzelnachweise

    • 1
      Der Titel der 13. Weltmissionskonferenz 2018 des Ökumenischen Rates der Kirchen in Arusha (Tansania) lautete etwa: Moving in the Spirit. Called to Transforming Discipleship, vgl. Anders, Christoph et. al. (Hrsg.), Vom Geist bewegt – zu verwandelnder Nachfolge berufen. Zur Weltmissionskonferenz in Tansania, Hamburg 2018.
    • 2
      Dies zeigt sich besonders in der praxisorientierten evangelikalen Literatur, etwa zu Glaubenskursen, vgl. dazu Kapitel 4 in: Müller, Sabrina, Art. Nachfolge (als freiheitliche und lebensfördernde theologische Praxis), in: WiReLex, 2022 (https://doi.org/10.23768/wirelex.Nachfolge_als_freiheitliche_und_lebensfrdernde_theologische_Praxis.201049), abgerufen am 10.06.2025.
    • 3
      Vgl. zu den praktisch-theologischen und religionspädagogischen Konsequenzen: Müller, Nachfolge.
    • 4
      Vgl. Luz, Ulrich, Art. „Ortsgemeinde und Gemeinschaft im Neuen Testament“, in: Evangelische Theologie 70 (2010), 404–415, 407.
    • 5
      Vgl. Luz, Ulrich, Art. Nachfolge Jesu I, in: Theologische Realenzyklopädie 23 (1994), 678–686, 678.
    • 6
      Vgl. Kittel, Gerhard, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament 1, Stuttgart 1966, 214.
    • 7
      Luz, Nachfolge, 683.
    • 8
      Roloff, Jürgen, Die Kirche im Neuen Testament, Göttingen 1993, 156.
    • 9
      Vgl. Sim, David et al., Art. Nachfolge Christi, in: RGG Online, 2007 (https://doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_COM_024002), abgerufen am 10.06.2025.
    • 10
      Vgl. das Fehlen der Nachfolge-Thematik in aktuellen dogmatischen Grundlagewerken: Körtner, Ulrich, Dogmatik (LETh 5), Leipzig 2018; Härle, Wilfried, Dogmatik, Berlin/Boston 52018. Zu einem ähnlichen Befund kommt auch schon Riches, John K., Art. Nachfolge Jesu III, in: TRE 23 (1994), 699–710, 710.
    • 11
      Vgl. Tietz, Christiane, Dietrich Bonhoeffer. Theologe im Widerstand, München 22019, 69–73; Schmitz, Florian, Nachfolge. Zur Theologie Dietrich Bonhoeffers, Göttingen 2013.
    • 12
      Bonhoeffer, Dietrich, Nachfolge, in: Kuske, Martin/ Tödt, Ilse, Dietrich Bonhoeffer Werke 4, München 21994, 29–30.
    • 13
      Bonhoeffer, Nachfolge, 29.
    • 14
      Bonhoeffer, Nachfolge, 31.
    • 15
      Bonhoeffer, Nachfolge, 52.
    • 16
      Bonhoeffer, Nachfolge, 215.
    • 17
      Bonhoeffer, Nachfolge, 277ff.
    • 18
      Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik. Die Lehre von Gott IV/2, Zollikon–Zürich 1955.
    • 19
      Beispiele aus unterschiedlichen theologischen Disziplinen, in denen Nachfolge nicht im Register auftaucht sind: Haslinger, Herbert, Pastoraltheologie, Paderborn 2015; Merks, Karl-Wilhelm, Theologische Fundamentalethik, Freiburg 2020; Rahner, Karl, Hörer des Wortes, Sämtliche Werke 4, Freiburg 1997; Rahner, Karl, Geist in Welt, Sämtliche Werke 2, Freiburg 1996. Zwar greift Hans Küng oes-gnd-iconwaiting... die Thematik in seinem breit rezipierten Werk Christ Sein als einen Bestandteil des christlichen Glaubens auf, die Monografie versteht sich selbst aber weniger als wissenschaftliches, denn als katechetisches Werk respektive als „eine kleine ‚Summa‘ des christlichen Glaubens“ (Küng, Hans, Christ Sein, München 1976, 17).
    • 20
      Metz, Jean Baptiste, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg 2017, 230.
    • 21
      Sobrino, Jon, Der Glaube an Jesus Christus. Eine Christologie aus der Perspektive der Opfer, Ostfildern 2008, 29.
    • 22
      Vgl. Bussmann, Claus, Befreiung durch Jesus? Die Christologie der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, München 1980, 60.
    • 23
      Vgl. Riches, Nachfolge, 701.
    • 24
      Sobrino, Glaube, 28.
    • 25
      Sobrino, Glaube, 38.
    • 26
      Sobrino, Glaube, 41.
    • 27
      Vgl. Schüssler Fiorenza, Elisabeth, Discipleship of Equals. A Critical Feminist Ekklēsia–Logy of Liberation. New York 1993, 70.
    • 28
      Vgl. Kunz, Ralph/Zeindler, Matthias (Hrsg.), Alle sind gefragt. Priestertum aller Gläubigen heute, Zürich 2018, 7.
    • 29
      Vgl. Müller, Sabrina, Discipleship. Eine kirchentheoretische Grundfigur in der Spannung von Bekenntnisorientierung und Deutungsoffenheit, in: Praktische Theologie 53/1 (2018), 34–37, 35.
    • 30
      Vgl. Müller, Sabrina, Gelebte Theologie. Impulse für eine Pastoraltheologie des Empowerments (Theologische Studien 14), Zürich 2019, 33–34.
    • 31
      A. Dinter oes-gnd-iconwaiting... und G. Heimbrock oes-gnd-iconwaiting... beschreiben mit gelebter Religion einen offenen Erfahrungsprozess im Alltag, bei dem es speziell um den Versuch geht, mit der vorreflexiven Unmittelbarkeit in Berührung zu kommen. Die Autoren verweisen auf alltägliche Erscheinungen, die vom Individuum als bedeutsam, aber nicht als explizit religiös eingestuft werden. Vgl. Dinter, Astrid et al. (Hrsg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, Göttingen 2007, 73–74.
    • 32
      Müller, Theologie, 39.
    • 33
      Luther, Henning, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 23.
    • 34
      Vgl. u. a. Tracy, Davi, Talking about God. Doing Theology in the Context of Modern Pluralism, New York 1983; Pears, Angie, Doing Contextual Theology, Abingdon/New York 2009; Storrar, William/Morton, Andrew, Public Theology for the 21st Century, London/New York 2004; Francis, Leslie J./Astley, Jeff (Hrsg.), Exploring Ordinary Theology. Everyday Christian Believing and the Church, Farnham/Burlington 2013.
    • 35
      Dalferth, Ingolf U., God first. Die reformatorische Revolution der christlichen Denkungsart, Leipzig 2018, 52.
    • 36
      Vgl. Suhner, Jasmine, Menschenrechte – Bildung – Religion. Bezugsfelder, Potentiale, Perspektiven, Paderborn 2021,120–150.
    • 37
      „Revelation is the manifestation of what concerns us ultimately. The mystery which is revealed is of ultimate concern to us because it is the ground of our being.“ (Tillich, Paul, Systematic Theology 1, Chicago 11973, 110).
    • 38
      Vgl. dazu ausführlich Müller, Sabrina, Religiöse Erfahrung und ihre transformative Kraft. Qualitative und hermeneutische Zugänge zu einem praktisch-theologischen Grundbegriff, Berlin/Boston 2023.
    • 39
      Vgl. Müller, Sabrina/Suhner, Jasmine, Eine Frage der Relation. Praktisch-theologische Annäherungen an die Frage nach Irrtum und Erkenntnis, in: conexus 2 (2019), 8–24, 9–10.
    • 40
      Vgl. Hermelink, Jan, Art. Lange, Ernst (1927–1974), in: TRE Online, 2010 (https://www.degruyter.com/document/database/TRE/entry/tre.20_436_6/html), abgerufen am 10.06.2025.
    • 41
      Lange, Sprachschule.
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