Atheismus ist ein genuin neuzeitliches Phänomen. Nicht nur eine Distanz zum religiösen Glauben bis hin zu seiner programmatischen Negierung wird damit bezeichnet. Der Atheismus ist zugleich eingebettet in ein ab etwa 1500 sich langsam, aber nachhaltig veränderndes Weltverhältnis, mit dem der Mensch dem, was ihn umgibt, gegenübertritt: Gott, der Natur, politischen wie sozialen Formen der Gemeinschaft, sich selbst. Dabei kann der Atheismus sowohl als Quelle dieser Gegenüberstellung verstanden werden, aber auch als Resultat jener Objektivierung. Insofern ist der Atheismus und seine historische Bedeutung für „den“ Westen wesentlich verbunden mit anderen geschichtsphilosophischen Konzepten. Dazu zählen die „Neuzeit“, die Idee der sich säkularisierenden (Früh)Moderne, das Aufkommen des Rationalismus und Individualismus sowie ein naturalistisches Verständnis des Kosmos.1Vgl. dazu Koselleck, Reinhart, „Neuzeit“. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders. (Hrsg.), Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 112020, 300–348, vor allem 315–317.
1. Zur Geschichte des Atheismus
Zwar kennt auch die antike Tradition die atheoi als jene, die unter polytheistischen Voraussetzungen den „falschen Götter“ anhängen (Platon , Apologie 26c). Und auch im Alten Testament ist von den „Toren“ (נָבָ֣ל) die Rede, die Gott leugnen (Ps 14,1Die Toren sprechen in ihrem Herzen:»Es ist kein Gott.«Sie taugen nichts; ihr Treiben ist ein Gräuel;da ist keiner, der Gutes tut.Zur Bibelstelle; 53,2Die Toren sprechen in ihrem Herzen:»Es ist kein Gott.«Sie taugen nichts; ihr Treiben ist ein Gräuel;da ist keiner, der Gutes tut.Zur Bibelstelle; Dtn 5,7Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.Zur Bibelstelle). Zudem sind, global betrachtet, die nicht-theistischen Traditionen vor allem des Konfuzianismus, Hinduismus und Buddhismus zu beachten.2Vgl. Ghosh, Raghunath, Indian Materialism, in: Bilimoria, Purushottama et al. (Hrsg.), History of Indian Philosophy, London/New York 2018, 99–109. Doch für die komplexen Entwicklungen im Westen kann man festhalten: Erst mit der Entstehung moderner Wissenschaften,3Vgl. dazu Funkenstein, Amos, Theology and the Scientific Imagination. From the Middle Ages to the Seventeenth Century, Princeton 1986, ch. V. den Entdeckungen unbekannter Kontinente und fremder Kulturen sowie der Religionspluralität, die zur Relativierung unbedingter Ansprüche und der Notwendigkeit von Toleranz gegenüber weltanschaulichen Alternativen zwang, war die Geste der Verneinung vorbereitet. Dem entspricht, dass der Term „atheism“ erst seit 1540 belegt ist.4Vgl. Buckley, Michael J., At the Origins of Modern Atheism, New Haven 1987, 29. Üblich wird die Bezeichnung im 17. Jh., als Artikulation einer umfassenden Weltdeutung wiederum nicht früher als um 1850.
Es lassen sich bestimmte Phasen des Atheismus unterscheiden, die sich teilweise überschneiden. Dennoch ist eine zumindest heuristische Chronologie möglich.
- Atheismus als apologetische Fremdbezeichnung: Hier bezieht sich Atheismus als Verneinung nur auf ganz bestimmte dogmatische Lehrstücke. Ein Beispiel: Als Atheist konnte im 16. Jh. jemand benannt werden, der die volle Gottheit Christi bestritt und demnach auch zur klassischen Trinitätslehre auf Distanz ging. Hier ist gerade nicht die Existenz Gottes als solche abgewiesen. Vielmehr ist eine arianische (vgl. Arius
) Position im Blick, nach der die singuläre Transzendenz und Absolutheit Gottes zwar gelehrt wird, der Sohn dem Vater als „wesensungleich“ jedoch unterzuordnen sei. Genau diese Abweichung von der Orthodoxie konnte in der frühen Neuzeit als Atheismus bezeichnet werden.5Vgl. Barth, Hans-Martin, Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert, Göttingen 1971, 97–106.
- Atheismus als frühneuzeitlicher Naturalismus: Im frühen 17. Jh. kommen schließlich zwei Stränge zusammen: zum einen der empiristische (Isaac Newton
, Samuel Clarke
), der wissenschaftlich auf Beobachtung und Experiment setzt; zum anderen der rationalistische (René Descartes
, Nicolas Malebranche
), der vom Denkakt als Gründung von allem Nicht-Denkenden ausgeht.6Vgl. Dupré, Louis, On the Intellectual Sources of Modern Atheism, in: IJPR 45:1 (1999), 1–11, 5f. Damit war die methodische Suspension der Annahme Gottes zumindest präpariert. Das Credo dieses (späteren) methodischen Atheismus lautet folglich: etsi deus non daretur. Es handelt sich demnach noch nicht um eine Leugnung Gottes, sondern um die vorsichtigere Devise, nach der die Hypothese, dass Gott existiere, wissenschaftlich eingeklammert bzw. faktisch als folgenlos deklariert wird.7Vgl. Schröder, Winfried, Atheismus. Fünf Einwände und eine Frage, Hamburg 2021, 60.
- Die aufklärerische Beerbung Gottes durch die Vernunft: Beide genannten Linien kommen in Immanuel Kants
Religions- und Moralphilosophie zusammen. Nicht mehr Gott begründet Erkennen und Handeln, sondern Gott wird epistemisch zum prinzipiell unerkennbaren Nicht-Objekt und moralisch zum Postulat, das zwei Eigenschaften mit sich führt: Erstens soll es als Schluss auf die beste Erklärung zwischen Glückseligkeit und Pflicht so vermitteln, dass Gott (real oder, wie später, „als ob“) angenommen werden müsse, um beides – Glück und Norm – zusammenzudenken. Zweitens wird Gott als Postulat derart aufgefasst, dass er selbst als (oder vermittelt über) die Idee des höchsten Gutes dem unbedingten Gesetz untersteht.8Vgl. dazu Kant, Immanuel, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft [A: 1793 / B: 1794], in: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.), Kant Werke, Band IV, Darmstadt 2011, 645–879, B VI. Bei Johann Gottlieb Fichte
wird dieser zuletzt genannte Aspekt zugespitzt: Gott wird nun zum Inbegriff des moralischen „Weltregiments“, sodass die vera religio und die wahrhafte Moralität letztlich zu identifizieren sind. Eben diese (drohende) Gleichsetzung mündete 1799 in den sog. „Atheismusstreit“.9Vgl. dazu Fichte, Johann Gottlieb, Der Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung [1798], in: Medicus, Fritz (Hrsg.), Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band III, Darmstadt 1962, 119–133, bes. 130.
- Theismus als Kunstreligion: Atheist zu sein, war zu diesem Zeitpunkt als kritische Selbstbezeichnung (wie etwa bei Denis Diderot
) möglich, wodurch der Glaube von einer weitgehend unhinterfragten Gewissheit zu einer prinzipiell negierbaren und nicht mehr zu bestrafenden Option wurde.10Vgl. Taylor, Charles, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge, 1989, ch. 6. In dieser Zeit entwickelte sich – so jedenfalls eine der Thesen neuerer Forschung – der Theismus als Antwortversuch auf die um sich greifende Krise. Angesichts der quasi-atheistischen Alternativen in Form des Materialismus (Paul Henri Thiry d’Holbach
) oder Pan(en)theismus (Baruch de Spinoza
) wäre der Theismus also eine Replik gewesen, mit deren Hilfe der angegriffene Glaube verteidigt werden sollte. Das bedeutet: Gott zur supranaturalen Geistperson mit vollkommenen Eigenschaften (klassisch: Allmacht, Allgüte, Omnipräsenz, usw.) zu erklären, wäre demnach gerade nicht der theologische Standard gewesen. Vielmehr würde es sich um ein rationalistisches Kunstprodukt um 1800 handeln, das selbst erst auf die Bestreitung Gottes apologetisch reagiert.11Vgl. Amesbury, Richard, Changing the Subject. Atheism, „Friendly Fire“, and Contemplative Philosophy, in: Dalferth, Ingolf U./Sass, Hartmut von (Hrsg.), The Contemplative Spirit. Dewi Z. Phillips on Religion and the Limits of Philosophy (RPT 49), Tübingen 2010, 267–291, 269.
- Atheistische Religionskritik: Spätestens im Nachgang der Aufklärung weitete sich der Umfang der atheistischen Leugnung aus. Nun war die Religion nicht mehr in separaten Teilen, sondern als solche Ziel der Kritik: mit der schon bei Gotthold Ephraim Lessing
aufkommenden Bibelkritik und der daraus folgenden Frage nach dem problematisch werdenden Wahrheitsgehalt des Alten und Neuen Testaments; mit der nach-hegelschen Auflösung Gottes in den Geschichtsprozess; mit Gott als purer Projektion des Menschen, der seine eigenen Gattungsmerkmale divinisiert (Ludwig Feuerbach
); mit dem Christentum als Aufstand der sich zusammenrottenden Schwachen, die nicht wahrhaben wollen, dass die Starken Gott längst getötet haben (Friedrich Nietzsche
); als die Verschleierung von meist ausbeuterischen Machtverhältnissen (Karl Marx
); als Tradition einer nur sublimierten Vaterfigur, die zumindest imaginativ zu ermorden sei (Sigmund Freud
); oder aber als resignative Absage an Gott angesichts des unvorstellbaren Bösen (u. a. Theodor W. Adorno
).
- Atheismus als Ideologie: Als Produkt klassischer Religionskritik gibt es insbes. in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s nicht mehr nur religionskritische, sondern offen religionsfeindliche Strömungen. Zwei überaus unterschiedliche Beispiele seien genannt: Zum einen gehört hierher die marxistisch-leninistische DDR-Ideologie, deren Materialismus für systemexterne und ggf. -kritische Kräfte keinen Raum vorsah (das gilt für viele, aber längst nicht alle osteuropäischen Staaten; man denke an Polen und seine starke katholische Tradition). Die Marginalisierung von Kirche und Glaube hat in etwas gemündet, das theologisch als „Gottesvergessenheit“ bezeichnet werden kann.12Vgl. Krötke, Wolf, Gottes Klarheiten. Eine Neuinterpretation der Lehre von Gottes „Eigenschaften“, Tübingen 2001, 148–159. Zum anderen kann der „new atheism“ (etwa von Richard Dawkins
, D. C. Dennett
, Sam Harris
oder Christopher Hitchens
) genannt werden, der auf eine rigorose Absage an die Religion abzielt. Religion – insbes. die christliche – wird als verblendendes Modul der Dummheit, als Vehikel der Wissenschaftsfeindlichkeit, als Werkzeug für Unterdrückung, Sexismus, Gewalt und Unmoral dargestellt. Dabei kann der religionsfeindliche Gestus seinerseits religionsanaloge Züge annehmen.13Vgl. Harris, Sam, An Atheist Manifesto, 07.12.2005 (https://samharris.org/an-atheist-manifesto/), abgerufen am 23.07.2024. Immer wieder ist dabei hervorgehoben worden, dass der „new atheism“ sich auf die Binnendynamik der Religion nicht einlässt und damit kaum Neues jenseits der klassischen Religionskritik vorträgt. Das mag rein thematisch betrachtet zutreffen, wenngleich die Art der bereits wieder abgeflauten Debatte in ihrer Polemik und öffentlichen Wirksamkeit durchaus neue Züge aufweist.14Vgl. Kettell, Steven, Faithless. The Politics of New Atheism, in: Secularism and Nonreligion 2 (2013), 61–72, 64.
Diese hier lediglich skizzierten Entwicklungen unterliegen keiner Zwangläufigkeit, sodass es sich um kontingente Prozesse handelt. Mittlerweile jedoch hat der Atheismus das ehemals Kämpferische und Empörte als einer noch heute bestimmenden Bewegung eingebüßt. Nicht mehr der Kampf und also eine aktive Bezugnahme auf Religionen bestimmt die Debatte im Westen, sondern häufig Formen religiöser Indifferenz, die die alte Opposition von Glauben und seiner Verneinung einklammert.
Selbst wenn man anerkennt, dass (wie etwa in Südamerika) eine Wiedererstarkung des Religiösen bis hin zu fundamentalistischen Positionen zu beobachten ist, bleibt es bei dem Befund, dass der Atheismus als religionsdiagnostisches Instrument, aber auch als religionskritische Parole seine einstmalige Kraft weitgehend verloren hat.15Vgl. dazu Sass, Hartmut von, Nachspielzeit. Zu neueren Texten theologischer Religionsdiagnostik, in: VuF 61:2 (2016), 84–100.
2. Typen des Atheismus
Es lassen sich unterschiedliche Typen des Atheismus unterscheiden. Derartigen Typologien haftet häufig etwas Künstliches an, was ihren orientierenden Wert jedoch nicht mindern muss. Dieser Wert hängt davon ab, welche Hinsicht den Vergleich zwischen jenen Typen bestimmt. Drei sich ergänzende Typologien möchte ich anbieten: (1) eine, die die inhaltliche Reichweite der mit dem Atheismus verbundenen Verneinung thematisiert; (2) eine, die entlang unterschiedlicher lebensweltlicher Haltungen den möglichen Sinn des Atheismus präzisiert; und schließlich (3) eine, die die ideen- und geistesgeschichtliche Funktion des Atheismus genauer beleuchtet.
(1) Zunächst geht es um die Art und den Umfang der Verneinung, deren inhaltliche Erweiterung wir historisch gerade haben nachverfolgen können. Das lässt sich unabhängig von geschichtlichen Bezügen auch etwas technischer ausdrücken. Folgende Varianten können dabei differenziert werden:
- R glaubt, dass p (faktualer Glaube)
- R glaubt nicht, dass p (faktualer Unglaube)
- R glaubt, dass non-p (programmatische Verneinung)
- R glaubt weder p noch non-p (Nicht-Glaube)
- R weiß nicht, ob p oder non-p oder q (Agnostizismus)
- Für R spielt die Differenz p / non-p keine Rolle (Indifferenz)
Strikt gefasst ist Atheismus allein der Fall (iii), wenn für p „Gott existiert“ (oder Äquivalente) eingesetzt werden. Demgegenüber ist (ii) eine etwas vorsichtigere Verneinung, die im Vergleich zu (iii) weniger darauf aus ist, Andersdenkende zu überzeugen.
(2) Dann können unterschiedliche Atheismen differenziert werden, die die lebensweltliche Haltung betreffen. Der katholische Theologe Jacques Maritain hat dabei vorgeschlagen, zwischen subjektiven und inhaltlichen Bestimmungen zu unterscheiden. Vom Subjekt des Atheismus auszugehen, mündet in folgende Varianten:
- praktischer Atheist: Dieser meint, zu glauben, verneint dies aber performativ durch das, was er tut;
- Pseudo-Atheist: Dieser glaubt, nicht zu glauben, tut es aber unbewusst doch, zumal das, was sein Atheismus verneint, gar nicht Gott betrifft;
- absoluter Atheist: Dieser verneint tatsächlich den Gott, an den der Glaubende glaubt.16Vgl. Maritain, Jacques, On the Meaning of Contemporary Atheism, in: The Review of Politics 11:3 (1949), 267–280, 267f.
Vom Objekt und also vom Inhalt aus betrachtet unterteilt Maritain zwei weitere Versionen:
- negativer Atheismus: Hier wird die Idee Gottes beiseite geschoben und faktisch durch anderes (Maritain meint: durch eine „Leere“) ersetzt);
- positiver Atheismus: Hier handelt es sich um eine aktiv-bewusste Abweisung von allem, das an Gott erinnert, sodass der Atheismus in einen Anti-Theismus übergeht.
Bei Maritain geht diese Typologie, die die Trias von Gottabwesenheit, Gottlosigkeit und Gottesleugnung spiegelt, in eine Verteidigung des Glaubens über. Diese soll sich aus der (vermeintlichen) Inkonsistenz umfassender Verneinung ergeben. Auch hier gibt es unterschiedliche Möglichkeiten:
- Verneinung als religiöser Akt: Wer klassisch atheistisch Gott verneint, habe selbst Anteil an einem religiösen Phänomen (s. o., wie die „new atheists“);
- transitive Verehrung: Wer Gott verneint, muss dies im Namen eines anderen Wertes tun, der dann an die Stelle Gottes – als neuer „Gott“ – tritt;
- performative Inanspruchnahme: Gott zu verneinen, widerspricht sich analog zur Behauptung „Ich existiere nicht“; es handelt sich nicht um einen semantischen Widerspruch, sondern um eine aktuale Kollision von Sprechakt und Inhalt.17So etwa vgl. Dalferth, Ingolf U., Die Krise der öffentlichen Vernunft. Über Demokratie, Urteilskraft und Gott, Leipzig 2022, 129, Anm. 224.
Aus der faktischen oder expliziten Bestreitung soll deren Unmöglichkeit erwiesen werden (ähnlich zum ontologischen Argument, vgl. Art. Gottesbeweise). Ob hier Inkonsistenzen vorliegen, ist allerdings zweifelhaft.
(3) Arten des Atheismus können schließlich auch danach differenziert werden, welchen praktischen Status und welche ideengeschichtliche Funktion sie besitzen:
- Methodischer Atheismus: Hier wird der religiöse Glaube nicht verneint, sondern im Blick auf wissenschaftliches Arbeiten suspendiert. Theologische Annahmen dürfen folglich nicht gemacht werden, ohne mit ihnen die methodisch geleitete Arbeit zu diskreditieren. So kommt etwa die Mechanik ohne die Gotteshypothese aus oder würde methodisch problematisch werden, ließe sie Raum für theologische Voraussetzungen, die physikalisch relevant werden würden.18Vgl. Pannenberg, Wolfhart, Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze 1, Göttingen 1967, 347–360, 348.
- Philosophischer Atheismus: Beweise oder zumindest Indizien gegen jene Annahme Gottes sollen einer intellektuellen Version zufolge erbracht werden. Programmatisch wird hier die Existenz Gottes abgewiesen; entweder, weil Gott unerkennbar ist (epistemisch), oder weil der Begriff „Gott“ unverständlich bleibt (semantisch), oder diese Annahme als sinnlos und als unausweisbar gilt (anti-supranaturalistisch) oder weil „Gott“ zwischen Güte, Allmacht und der Faktizität des Bösen und Übel widersprüchlich ist (anti-metaphysisch) oder weil Gott und Religion in ihren Effekten negativ bewertet werden (politisch, moralisch, sozial) oder weil die Welt so erfahren wird, dass Gott in ihr nicht mehr vorkommt (existentiell).
- Atheismus und Humanismus: Hier ist der Atheismus immer noch als eine Leerstelle präsent, die entweder durch Neues gefüllt wird oder in der die Absenz Gottes festgehalten wird.19Instruktiv vgl. Vainio, Olli-Pekka/Visala, Aku, Varieties of Unbelief. A Taxonomy of Atheistic Positions, in: NZSTh 57:4 (2015), 483–500, 493–496. Diese Form kann man als humanistischen Atheismus bezeichnen. Hier werden grundlegende Anliegen des Glaubens und der Religion säkularisiert, transformiert und entsprechend beerbt. Ein Beispiel bietet die Figur der Gottebenbildlichkeit, die in bestimmter Weise in der modernen Vorstellung einer unantastbaren Würde des Menschen fortlebt.
3. Theologische Rezeption des Atheismus
Die Rede von einem theologischen oder religiösen Atheismus sowie die Vorstellung eines atheistischen Glaubens ist kaum klar umgrenzt. Im Gegenteil, oft mag die darin zum Ausdruck kommende Kopplung von Glaube und seiner herkömmlichen Verneinung kontraintuitiv erscheinen. Atheismus gilt demgegenüber als das Ergebnis eines Erosionsprozesses, der auf externe Kräfte zurückgeht und folglich den Glauben untergräbt.
Es hat sich jedoch ein genuin theologisches Interesse am Atheismus ausgebildet, das zwei Formen annimmt. Die eine geht auf die Einsicht zurück, dass – analog zur Säkularisierung – der Atheismus dem Christentum gerade nicht fremd ist, sondern entweder auf dessen Entwicklung selbst zurückgeht oder der Glaube atheistische Elemente in sich trägt. Dann aber haben wir es mit dem Glauben inhärenten Dynamiken zu tun.20Vgl. dazu Geyer, Hans-Georg, Atheismus und Christentum [1970], in: ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hrsg. von Hans Theodor Goebel et al., Tübingen 2003, 91–111, 103f. Die stärkere Form eines theologischen Atheismus enthält den Versuch, atheistische Elemente in ein theologisches Programm zu integrieren; etwa: die Kritik des Theismus (A-Theismus), die Dialektik des Glaubens, der vom Unglauben nicht frei ist (Anfechtung), die Kritik an der Rede von Gottes Existenz und der Versuch, seine Seinsweise neu und anders anzudrücken (Metaphysik-Kritik).
Ohne annähernd Vollständigkeit anstreben zu können, seien wesentliche Projekte atheistischer Theologie knapp skizziert:
- Gott-ist-tot-Theologie: Die auf Georg W. F. Hegel
und Friedrich Nietzsche
zurückgehende Formel vom Tod Gottes bezieht sich auf einen konkreten Erfahrungshorizont, in dem Gott nicht nur überflüssig oder problematisch wurde, sondern mit dem sich das Subjekt an Gottes Stelle setzt. Doch gibt es einen genuin christologischen Kern, den amerikanische Theologen wie Thomas J. J. Altizer
und William Hamilton
erneut freigelegt haben: Im Zentrum des Christentums steht der Tod Gottes am Kreuz und mit der Inkarnation des Logos die Selbstauflösung Gottes in die Welt.21Vgl. u. a. Hamilton, William, The Death of God Theology, in: The Christian Scholar 48:1 (1965), 27–48. Allerdings thematisiert bereits die reformatorische Theologie diesen Tod Gottes, indem sie umgekehrt fragt, was dieser Tod für Gott und den Begriff von ihm bedeutet.
- Depotenzierung Gottes: Vor allem unter dem (Ein)Druck erkenntnistheoretischer, ontologischer, sprachphilosophischer und moraltheologischer Einwände ist es zum Umbau in der Eigenschaftslehre gekommen: entweder so, dass die Prämisse von Gottes Leidensunfähigkeit aufgegeben wird (Jürgen Moltmann
); oder die Voraussetzung seiner Unwandelbarkeit verabschiedet wird (Prozesstheologien; trinitarische Ansätze); oder indem Gottes Allmacht zugunsten seiner Schwachheit oder gar Ohnmacht eingeschränkt (Dietrich Bonhoeffer
, John D. Caputo
), umgedeutet (Paul Tillich
, John Robinson
) oder (etwa als Macht der Liebe) untergeordnet wird (Eberhard Jüngel
). All dies kann als a-theistische Theologie angesprochen werden, weil wesentliche Bestimmungen des Theismus verabschiedet sind.
- Stellvertretung Gottes: Hier wird mit dem Gedanken ernst gemacht, dass der einst mächtige Gott aus der Welt herausgedrängt wurde. Nicht er ist es, der am Kreuz den Menschen vertritt, sondern nach dem Vorbild Jesu muss Gott in der gefallenen Welt nun selbst vertreten werden. Dies gilt unter der atheistischen Bedingung, dass es keine supranaturale Absicherung mehr gibt und der Glaube auch keinen „metaphysischen Vorteil“ gegenüber seinen Alternativen besitzt. Glaube zeigt sich im radikalen Handeln für die Welt, der sich Gott vollständig entäußert habe. Auf Gottes Intervention zu hoffen, muss durch ein politisch engagiertes Christentum ersetzt werden, um gerade so der Sache Jesu treu zu bleiben. Dorothee Sölle
hat dies explizit als einen atheistischen Glauben gekennzeichnet.22Klassisch vgl. Sölle, Dorothee, Atheistisch an Gott glauben. Beiträge zur Theologie, Olten/Freiburg i. Br. 1968, bes. 79 und 83f.
- Absenz Gottes als seine Anwesenheit: Aus der Abwesenheit Gottes (des deus absconditus) muss nicht dessen Inexistenz gefolgert werden. Doch genau so ist das, was noch Friedrich Hölderlin
das „Fehl Gottes“ nannte, später verstanden worden. Tragisch kann an dieser Form sein, dass das Nichtsein Gottes anerkannt, aber seine Abwesenheit tief empfunden wird, weil sie durch nichts ersetzt werden kann. Gerade in dieser Abwesenheit mag jedoch Gott als anwesend erlebt werden (Jacques Derrida
, Mark C. Taylor
). Der Schriftsteller Martin Walser
hat sich dieser Dialektik ausgesetzt und dabei Motive der Dialektischen Theologie (insbes. Karl Barths
) aufgenommen. Es reicht nicht zu sagen, Gott gebe es nicht, wenn nicht hinzugefügt wird, dass und wie er fehlt. Wer das nicht tut, hat – wie der herkömmliche Atheist – „keine Ahnung“, so Walser.23Walser, Martin, Über Rechtfertigung, eine Versuchung, Reinbek bei Hamburg 2012, 33.
- Immanentisierung: Hierher gehören Ansätze, die Transzendenz als Element der Welt denken, nicht als deren Überschreitung. Dies sind entweder Programme, die Religion und Glaube ganz ohne Gott denken, um intrinsische „Werte“ (wie Leben, Würde, Freiheit, Schönheit), die in einer Religion artikuliert werden, herauszuarbeiten (Ronald Dworkin
) bzw., die „Glauben“ als bestimmte Grundorientierung (des Dankes, der Demut, der Hoffnung) verstehen (Alain de Botton
).24Vgl. Dworkin, Ronald, Religion without God, Cambridge, 2013, ch. 1. Oder es handelt sich um Versuche, Gott innerhalb des sich selbst transzendierenden Immanenten zu lokalisieren: als Leerstelle, als Potenz, als Bruch, das Fremde, als Irritation, wobei der Glaube als eine bestimmte Weise charakterisiert wird, das Leben angesichts dieses (ganz) Anderen zu verstehen und karitativ zu führen.25Vgl. Braithwaite, Richard B., An Empiricist’s View of the Nature of Religious Belief, Cambridge 1955.
- Theologischer Atheismus: Vom traditionellen Atheismus können auch programmatische Merkmale produktiv genutzt werden: die a-theistische Absage an den Theismus samt all seiner oft versteckten Derivate; die Zurückweisung der Vorstellung von einer „Existenz“ Gottes zugunsten der Idee, mit Gott werde buchstäblich alles neu qualifiziert;26Vgl. Sass, Hartmut von, Inverse Apologetik. Zur theologischen Verarbeitung des Atheismus, in: EvTh 74:4 (2014), 292–310. die Integration der Verneinung des Glaubens oder des Zweifels in diesen Glauben selbst (vgl. Mk 9,24Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben!Zur Bibelstelle). Konstruktiv wird sich eine derartige Theologie bemühen müssen, alternative, mitunter Theismus-kritische Artikulationsformen für Gottes Wirklichkeit und Wirken anzubieten; etwa: als Atmosphäre, als widerfahrendes Ereignis, als Performanz, der der Glaubende nicht unbeteiligt gegenübersteht, sondern an der er teilnimmt, indem sie ihm widerfährt.27Vgl. dazu Sass, Hartmut von, Atheist und trotzdem gläubig – geht das?, 25.12.2022 (https://youtube/GdudxPTpFAQ), abgerufen am 23.07.2024.
All diese (und weitere) „atheistischen“ Ansätze polarisieren. Für die einen handelt es sich um problematische Reduktionismen, die dem Gehalt des christlichen Glaubens kaum gerecht werden. Für andere haben wir es mit Versuchen zu tun, theologisch neue Wege zu finden, um sowohl unsere spätmoderne Gegenwart als auch die Eigenlogik religiösen Glaubens ernst zu nehmen.