1. Werte – ein Ausdruck der moralischen Alltagssprache
In der Alltagssprache und in Politik, Medien und Wirtschaft ist häufig von „Werten“ die Rede. Geläufig ist etwa das Begriffspaar „Werte und Normen“, wenn der Bereich der Moral insgesamt benannt wird. Gerne ist auch von „unseren Werten“ die Rede, wenn (angeblich) allgemein akzeptierte moralische Grundsätze und von allen geteilte Überzeugungen aufgerufen werden sollen. Manchmal ist auch von „christlichen“ oder „westlichen“ Werten die Rede. Dann geht es eher um die Abgrenzung von anderen Gruppen, die diese Werte (angeblich) nicht teilen oder sogar nicht teilen können, etwa, weil sie in anderen religiösen oder kulturellen Milieus verwurzelt sind. Meist wird nicht genau gesagt, worin die Werte bestehen, auf die verwiesen wird – das wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Auch wird kaum begründet, was die Werte eigentlich zu Werten macht. All das kennzeichnet Werte als Ausdruck der moralischen Alltagssprache, die begrifflich wenig festgelegt ist, und macht gleichzeitig auch den politischen Charakter der Wertesprache deutlich: Sie will moralische Gemeinsamkeiten hervorheben oder sogar einschwören, die als wichtig für eine Gesellschaft angesehen werden. In der philosophischen und theologischen Ethik hingegen fristet der Wertbegriff eher eine Randexistenz. Wertethiken gelten heute als problematisch und begrifflich schwer zu handhaben. Wie kommt es dazu, dass Werte einerseits gang und gäbe im Sprechen über Moral sind und andererseits in der Ethik eher ungeliebte Konzepte darstellen? Was sind Werte eigentlich?
2. Wertphilosophie und Wertethiken – eine Problemgeschichte
Der Begriff „Wert“ ist erst spät, nämlich im 19. Jahrhundert, breitenwirksam aus der Ökonomie in die Philosophie übernommen worden.1Vgl. dazu Schnädelbach, Herbert, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt/Main 1983, 193–231. Für einen Überblick unter Einbeziehung interdisziplinärer Perspektiven vgl. Polak, Regina, Values. A Contested Concept. Problem Outline and Interdisciplinary Approaches, in: Polak, Regina/Rohs, Patrick (Hrsg.), Values – Politics – Religion (The European Values Study. Philosophy and Politics – Critical Explorations 26), Cham 2023, 33–93. Diese Übernahme ist ein Krisenphänomen: Nach Hegels Tod verlor mit der spekulativen Systemphilosophie auch die bis dahin aufrechterhaltene Verbindung zwischen den Grundbegriffen Sein, Gutheit, Einheit und Schönheit ihre Überzeugungskraft. Der metaphysische Begriff des Seins büßte seine Zentralstellung ein und wurde zum bloß noch faktischen So-Sein, mit dem keine weiteren Qualitäten – wie eben auch ethisches Gutsein – inhärent verbunden waren. Dass etwas ethisch gut ist oder dass etwas moralisch gesollt ist, ist als eine eigenständige Wertung auszusagen und zu begründen, aber ergibt sich nicht direkt aus einem Sachverhalt. Das Auseinanderfallen von Sein und Gutsein hat zudem zur Folge, dass die grundsätzliche Sinnhaftigkeit von Welt und Existenz fraglich werden.
Weiterführende Infos
Spekulation hat als Begriff eine lange theologische und philosophische Tradition, die von der Reflexion über die Gottesbetrachtung bis hin zur Denkform der Vernunft reicht. Vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/spekulation-spekulativ/1914, abgerufen am 13.06.2025.
2.1. Auf der Suche nach objektiven Werten: Wertphilosophie und Wertethik im 19. Jahrhundert
Wo die Wirklichkeit sinnfrei wird, besteht Bedarf an einem neu zu begründenden Orientierungswissen. Genau diese Leerstelle sollte die neue Wertphilosophie füllen, um die sich insbesondere die philosophische Richtung des Neukantianismus bemühte. Als philosophische Herausforderung wurde dabei der drohende Wertrelativismus identifiziert: Wenn Wertaussagen nicht mehr in Seinsaussagen begründet sind, sondern auf Wertungen beruhen – wie müssen dann diese Wertungen aufgefasst werden, um in ihnen nicht bloß subjektive Setzungen oder Interessen zu erkennen? Die neukantianischen Wertphilosophien von Wilhelm Windelband (1848–1915) und Heinrich Rickert
(1863–1936) verfolgten das Ziel, die gesamte nicht-faktische Sinnwirklichkeit, also Logik (Wahrheit), Ästhetik und Ethik wertphilosophisch zu konzipieren. Gegenüber diesen an Kant
orientierten, formalen Wertphilosophien formulierte Max Scheler
(1874–1928) zu Beginn des 20. Jahrhundert seine phänomenologische Wertethik als materiale Ethik, die konkrete moralische Gehalte ausweist. Beide Richtungen, die neukantianisch-formale Wertphilosophie und die phänomenologisch materiale Wertethik, sind auf jeweils eigene Weise darum bemüht, die eigenständige, objektive Geltungs- und Seinsweise von Werten darzulegen. Existieren Werte als ideale Größen in einer eigenen Weise des Gegebenseins? Werden sie erkannt, vernommen oder gefühlt? Der Status der Werte war bereits unter den Zeitgenossen strittig. Größere Breitenwirkung hatte ein anderer Denker: Friedrich Nietzsche
(1844–1900).
Weiterführende Infos
Eine hilfreiche und umfangreiche Sammlung an Zitaten, Erläuterungen und Literaturhinweisen zum Neukantianismus bietet diese Seite:
https://www.kant-cassirer-neukantianismus.eu/themen/neukantianismus, abgerufen am 13.06.2025.
2.2. Nietzsche: „Umwertung aller Werte“
Nietzsches Slogan von der „Umwertung aller Werte“ zielte direkt auf den subjektiven Wertungsaspekt, der aus den Werten so schlecht herauszuhalten war.2Vgl. Seel, Martin, Versuch über die Form des Glücks. Studien zur Ethik, Frankfurt a. M. 1995, 27–33. Alle Moral, so Nietzsches Kritik, ist letztlich interessegeleitet, nämlich vom Interesse der Schwachen, die Starken niederzuhalten. Damit kritisiert Nietzsche vor allem die jüdische und christliche Liebes- und Mitleidsethik, die den ungestümen Lebensdrang hemme und kollektiven Interessen unterordne. Die „Umwertung aller Werte“ setzt dem konsequent individuelles Wertsetzen entgegen, das die eigenen Ziele des Individuums ohne die Einschränkung durch Rücksichtnehmen auf andere verwirklicht. Was Nietzsche als post-christliche Ethik vorschwebt, bleibt zutiefst ambivalent: Der „dionysischen“ Lebenslust, der Befreiung des Individuums von moralischer Heuchelei hin zu authentischer Einzigartigkeit entspricht auf der gesellschaftlichen Ebene die Durchsetzung der Interessen der Starken gegen die der Schwächeren, ein Feiern der Rücksichtlosigkeit als überlegener Lebensform.3Vgl. Joas, Hans, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1995, 37–57. Auch wenn Nietzsche strikt individuell dachte und nicht kollektiv, konnten deutsche Überlegenheitsphantasien und nationalsozialistische Rasse- und Gewaltideologien an diese Motive anknüpfen.
2.3. Neuansätze nach 1945
Nach 1945 bestand das Bedürfnis, eine moralische und rechtliche Alternative sowohl zur faschistischen Willkür als auch zum Rechtspositivismus zu finden, der sich gegenüber der antidemokratischen Rechtsverdrehung als hilflos erwiesen hatte. Dazu wurde auch an objektive Wertethiken wieder angeknüpft, etwa an die bereits 1925 erschienene Wertethik von Nicolai Hartmann (1882–1950). Hartmann setzt Schelers Wertphilosophie insofern fort, als ihm zufolge Werte im menschlichen Erleben erschlossen werden, und zwar gerade in einem Gegebensein, das sich nicht dem subjektiven Hervorbringen oder Setzen durch Menschen verdankt. In einem Grundsatzurteil griff das deutsche Bundesverfassungsgericht 1958 diese Vorstellung auf und hielt fest, die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes repräsentierten eine „objektive Wertordnung“. Das Gericht folgerte daraus, dass die Grundrechte nicht nur die staatliche Gewalt verpflichten, sondern dass sie die Rechtsordnung insgesamt durchdringen und damit auch für die Verhältnisse zwischen Privatpersonen gelten. Heute ist allerdings strittig, ob zur Begründung dieser Kernaussage der Grundrechtstheorie die Idee einer „objektiven Wertordnung“ erforderlich ist.4Vgl. Jochum, Georg, Die Grundrechte als Objektive Wertordnung und was daraus geworden ist, in: Zeitschrift für Öffentliches Recht (ZöR)/ Journal of Public Law 77 (2022), 621–626. Spätestens in den 1960er Jahren büßte die Idee objektiver Werte ihre Überzeugungskraft ein. Angesichts des gesellschaftlichen Wandelns wirkte das Wertdenken beengend und repressiv. Seitens der kritischen Theorie wurde außerdem der Verdacht geäußert, „Werte“ würden ihren ökonomischen Unterton niemals los und wären Teil der Ökonomisierung sozialer Lebensbereiche.
Wertethiken werden aktuell nur vereinzelt vertreten.5Vgl. z. B. Bohlken, Eike, Die Grundlagen einer interkulturellen Ethik. Perspektiven einer transzendentalen Kulturphilosophie Heinrich Rickerts, Würzburg 2002; Krijnen, Christian, Nachmetaphysischer Sinn. Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zur Wertphilosophie Heinrich Rickerts, Würzburg 2002; Spiekermann, Sarah, Digitale Ethik. Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert, München 2019. Zwar haben in der Wende zum 20. Jahrhundert in der Theologie wertphilosophische Gedanken durchaus Resonanz erfahren. So sprach Adolf von Harnack etwa vom „unendlichen Wert der Menschenseele“, oder hat Ernst Troeltsch
sich intensiv mit neukantianischen Werttheorien auseinandersetzt. Wirkmächtig war auch Rudolf Ottos
religionsphilosophische Bestimmung des Heiligen als „Wertkategorie“. Auch in der theologischen Ethik wurden wertethische Ansätze aufgegriffen. Johannes Fischer
weist etwa auf die einflussreichen Ethiken von Albrecht Ritschl
oder Georg Wünsch
hin.6Vgl. Fischer, Johannes et al., Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik, Stuttgart ²2007, 447f. Diese Ansätze waren freilich niemals unumstritten. So formulierte etwa Eberhard Jüngel
grundsätzlichen Widerspruch gegen jegliches theologisches Aufnehmen der Werttheorie (etwa mit Gott als „Höchstwert“): Das ethische Handeln von Christ*innen sei Liebeshandeln am konkreten Nächsten, das von der Begegnung mit der Wahrheit Gottes motiviert sei, das aber nicht als Verwirklichen abstrakter Werte aufgefasst werden könne.7Vgl. Jüngel, Eberhard, Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens, München 1990, v. a. 90–108.
In der anglophonen Philosophie verlief die Diskussion in gänzlich anderen Bahnen. Hier wurden beispielsweise in der sprachphilosophischen analytischen Philosophie Werttheorien ausführlich diskutiert.8Vgl. Schroeder, Mark, Art. Value Theory, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Winter 2024 Edition (https://plato.stanford.edu/archives/win2024/entries/value-theory/), abgerufen am 13.06.2025. Auf diesem Umweg wurden „Werte“ auch in Deutschland wieder zu einem Thema. In Anknüpfung an die amerikanische philosophische Strömung des Pragmatismus entwickelt Hans Joas eine Theorie der Wertbindung.9Vgl. Joas, Entstehung. Dass Menschen sich an ihre Wertüberzeugungen gebunden fühlen und diese Bindung nicht als einschränkend, sondern als erfüllend erlebten, spreche dagegen, Werte als individuelle „Setzungen“ zu verstehen. Die subjektiven Bindungen an Werte seien außerdem keine Erfahrungen moralischen Verpflichtetseins. Wertebindungen würden vielmehr als attraktive Orientierungen zu einem erfüllenden und authentischen Leben dazugehören und Menschen würden daraus motivierende Kraft schöpfen. Im Gegensatz zu ethischen Theorien, die nach vernünftigen Begründungen für die Geltung von Werten fragen, hält Joas diese für sekundär beim Zustandekommen von Wertbindungen. Hinter Wertüberzeugungen stünden signifikante Erfahrungen, die zu Werten verdichtet würden. Einem Wertrelativismus hält Joas den spezifischen Erfahrungsgehalt von Werten entgegen, die auf „Selbstbindung“ und „Selbstranszendenz“ beruhten: Zu Wertüberzeugungen gehört, dass die jeweiligen Werte als persönlich „unmittelbar angehend“ und gleichzeitig über das Individuum hinaus als wertvoll erfahren würden. Sofern die Erfahrungen, auf denen Wertbindungen beruhen, generalisiert werden und damit für die Erfahrungen anderer anschlussfähig werden könnten, sei eine intersubjektive Verständigung über Werte möglich. Joas‘ Theorie der Wertbildung und Wertbindung ist auch in der Theologie rezipiert worden.10Vgl. z. B. Brauer, Susanne (Hrsg.), „Alle Religion ist erfahrungsbasiert“. Im Gespräch mit Hans Joas, Zürich 2015; Große Kracht, Hermann-Josef (Hrsg.), Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014.
3. Wertewandel in westlichen Gesellschaften: empirische Werteforschung
Das verbreitete Sprechen über Werte in Medien und Politik hängt ganz wesentlich mit der Bedeutung der empirischen Moralforschung in der modernen Gesellschaft zusammen. Soziale Systeme wie Wirtschaft und Politik sowie Institutionen wie Parteien und Unternehmen sind daran interessiert, wie Menschen sich verhalten, welche Entscheidungen sie als Konsument*innen, Wähler*innen und Arbeitnehmer*innen treffen und welchen lang- und mittelfristigen Präferenzen sie folgen. Dies gilt umso mehr seit Ronald Inglehart 1977 einen tiefgreifenden Wertewandel für die westlichen Gesellschaften konstatiert hat, die zunehmend von materialistischen zu postmaterialistischen Wertorientierungen übergingen.11Vgl. Wurthmann, Lucas Constantin, Art. Werte und Wertwandel, in: Handwörterbuch des politischen Systems, 2021 (https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/handwoerterbuch-politisches-system/202212/werte-und-wertewandel/), abgerufen am 13.06.2025; Inglehart, Ronald, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1977. Da sich dies auf politische Einstellungen, sowie auf Einstellungen gegenüber dem Arbeitsleben, gegenüber Ehe und Familie usw. auswirkt, finden insbesondere langfristig angelegte Vergleichsstudien zu Werteentwicklungen und Wertewandel große Aufmerksamkeit in Politik und Öffentlichkeit. In der empirischen Wertforschung hat sich – bei aller Pluralität der Ansätze – die Unterscheidung zwischen Werten und Einstellungen durchgesetzt. Im Unterschied zu Einstellungen sind Werte grundlegende und weitgehend stabile Orientierungen, die mit Vorstellungen des Wünschenswerten verbunden sind und langfristige Auswirkungen auf das politische Verhalten ausüben. Einstellungen können hingegen schwankender sein und beziehen sich eher auf spezifische politische oder kulturelle Sachverhalte. Werte werden in der Regel im Zuge der Sozialisation des Individuums während der ersten zwanzig Lebensjahre aufgenommen und sind von Erfahrungen und Widerfahrnissen geprägt. Aufgrund von gleichen Rahmenbedingungen der Sozialisation spricht die Soziologie auch von „Generationen“, wie der „Nachkriegsgeneration“ oder der „1968er-Generation“, die sich durch jeweils spezifische Werthaltungen auszeichnen.12Vgl. Pickel, Gert, Religion und Wertorientierungen, in: Pollack, Detlef et al. (Hrsg.), Handbuch Religionssoziologie, Wiesbaden 2018, 957–979, 958. Ingleharts einflussreiche Wertewandel-These ging davon aus, dass der Anteil der Materialisten an der Bevölkerung ab- und der der Postmaterialisten zunehmen werde. Als Erklärung nahm er an, dass Menschen mit Kriegs- und Mangelerfahrungen tiefliegende Bedürfnisse nach politischer und ökonomischer Sicherheit hätten, während Generationen, die in westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften aufwachsen, eher an Werten wie Selbstverwirklichung und Partizipation ausgerichtet seien. Im selben Zusammenhang wird auch ein Rückgang an religiösen Werten und kirchlichen Bindungen angenommen. Die empirische Werteforschung hat u. a. gezeigt, dass es seit den 1980er Jahren zu einer Pluralisierung an Werttypen sowie auch zu materialistischen bzw. konservativen Gegenbewegungen gekommen ist, und entsprechend zu einer Pluralisierung im Parteienspektrum sowohl auf der „linken“ bzw. grün-alternativen, als auch auf der „rechten“ Seite.13Vgl. Wurthmann, Werte.
4. Aktuelle Problemstellungen
4.1. Religion und rechtsextremistische Einstellungen
Zu den gegenwärtigen Problemstellungen gehört daher die Erforschung des fortschreitenden Wertewandels im vereinten Europa, das in Ost- und Westeuropa durch sehr unterschiedliche Generationenerfahrungen gekennzeichnet ist. Insbesondere das Erstarken rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien im 21. Jahrhundert wirft die Fragen auf, ob dies auf einem Neuaufkommen reaktionärer bzw. autoritärer Werthaltungen beruht oder ob solche Werte schon bisher vorhanden waren, die entsprechenden Wähler*innen jedoch von gemäßigten Parteien eingebunden werden konnten. Seit dem 11. September 2001 und seit den Fluchtbewegungen von 2015 nach Europa gewinnen antimuslimische und antisemitische Feindbilder an Zustimmung und werden von rechtsorientierten politischen Kräften als ideologische Abgrenzungsmarker „wir gegen die anderen“ und zur Mobilisierung von Anhänger*innenschaften benutzt. Dabei kommt es auch zur rhetorischen Wiederaufnahme der Idee vom „christlichen Abendland“, das gegen muslimische Zuwanderung verteidigt werden müsse. Diese Idee wird zugleich gegen die europäische Integration und zur Untermauerung christlich-nationalistischen Denkens genutzt. Deutlich ist damit einerseits der Stellenwert von Religion – vorwiegend die Feindbilder Islam und Judentum – als Projektionsfläche und als Mobilisierungsinstrument für rechtsextreme und rechtspopulistische Bewegungen. Weniger eindeutig ist andererseits die Bedeutung von Religion für die Nähe oder Ferne von Menschen zu rechten Einstellungen: Eine aktive Kirchenzugehörigkeit kann entweder immun gegen rechtes Gedankengut machen oder die Brücke zu rechten Einstellungen schlagen. Die neuere Forschung legt nahe, dass die Art der Religiosität dafür entscheidend ist. Während ein sozial engagiertes Christentum eher zur Abgrenzung von rechtem Gedankengut führt, stimmen Gläubige mit fundamentalistischen religiösen Einstellungen eher rechten Positionen zu.14Vgl. Schneider, Verena/Pickel, Gert/Öztürk, Cemal, Was bedeutet Religion für Rechtsextremismus? Empirische Befunde zu Verbindungen zwischen Religiosität, Vorurteilen und rechtsextremen Einstellungen, in: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 5 (2021) 557–597 (https://doi.org/10.1007/s41682-021-00073-1), abgerufen am 13.06.2025; Pickel, Susanne/Pickel, Gert, Political Values and Religion. A Comparison Between Western and Eastern Europe, in: Polak, Regina/Rohs, Patrick (Hrsg.), Values – Politics – Religion (The European Values Study. Philosophy and Politics – Critical Explorations, 26), Cham 2023, 157–203 (https://doi.org/10.1007/978-3-031-31364-6_5), abgerufen am 13.06.2025. Einstellungen wie die Ablehnung von Homosexualität und von Menschen mit nicht-binärer Genderidentität, das Betonen traditioneller Gender-Vorstellungen sowie das Misstrauen gegenüber Migrant*innen und Geflüchteten fungieren dabei als „Brücke“ zwischen religiösen und rechten Milieus. Vor allem in Osteuropa ist außerdem festzustellen, dass damit zusätzlich eine Abkehr vom Modell der liberalen Demokratie und die Hinwendung zu einem autoritären Regierungsstil einhergeht.15Vgl. dazu insbesondere Pickel/Pickel, Political Values.
4.2. Werteerziehung und Religion
In einem gesellschaftlichen Kontext, der einerseits durch die Repolitisierung von Religion zur Markierung von Zugehörigkeit und Abgrenzung (u. a. antisemitische und antimuslimische Einstellungen) und andererseits durch abnehmende Kirchenbindung und religiösen Traditionsabbruch gekennzeichnet ist, steht die Erwartung an die christlichen Kirchen, sozialen Zusammenhalt und demokratische Werthaltungen zu vermitteln, vor besonderen Herausforderungen.16Vgl. etwa Nord, Ilona/Schlag, Thomas (Hrsg.), Die Kirchen und der Populismus. Interdisziplinäre Recherchen in Gesellschaft, Religion, Medien und Politik, Leipzig 2021. Dabei wird vor allem auf die Schule verwiesen, die als Querschnittsaufgabe die Werteerziehung bzw. Wertebildung entlang des Leitbilds des/der „mündigen Bürger*in“ habe. Angesichts des gesellschaftlichen Wertewandels stellt sich jeweils neu die Frage, wie im staatlichen Schulwesen das staatliche Neutralitätsgebot mit einer Werteerziehung, die ja nicht als reines Informationsangebot über Werte funktionieren kann, auszutarieren ist.17Vgl. Weilert, A. Katarina (Hrsg.), Werteerziehung durch die Schule. Begriffliche Grundlagen, staatstheoretische Basis und institutionelle Ziele, Tübingen 2023. Der kirchlich verantwortete Religionsunterricht steht einerseits in der Spannung, dass christlicher Glaube und damit auch christliche Religionsbildung nicht auf gesellschaftlich definierte Wertevermittlung reduziert werden können, aber ein Beitrag zum Ethos einer demokratisch verfassten, pluralistischen Gesellschaft zum christlichen Ethos dazugehört. Andererseits bleibt Wertevermittlung, die notwendig auf einem Beziehungsgeschehen beruhen sollte, um auch performativ die Wertschätzung gegenüber den Schüler*innen als eigenständigen Subjekte zu artikulieren, im engen Rahmen des Schulunterrichts eine theologische und religionspädagogische Herausforderung.18Vgl. Naurath, Elisabeth, Art. Bildung, Werte-, in: WiReLex, 2017 (https://doi.org/10.23768/wirelex.Bildung_Werte.100191), abgerufen am 13.06.2025.
4.3. Umweltbedrohung und Klimaschutz – Eigenwert der Natur?
Klimawandel, Umweltverbrauch und abnehmende Artenvielfalt stellen epochale Gefährdungen für das Überleben der Menschheit auf unserem Planeten dar. Für viele Menschen weltweit gehen damit bereits heute schwerwiegende Einschränkungen für ein gutes Weiterleben einher. Mit den weiterhin strittigen Gegenmaßnahmen, die in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ergriffen werden müssen, um dem entgegenzusteuern, hängt auch eine grundlegende Frage zusammen: Müssen wir die Umwelt (zum Umweltbegriff vgl. den Art. Natur) eigentlich schützen, weil sie für uns Menschen wichtig ist, oder hat sie einen Eigenwert, der sie an sich schützenswert macht? Dies ist keine rein theoretische Frage, sondern kann für das Ziel und das Ausmaß unserer Umweltbewahrungsanstrengungen entscheidend sein. Denn wenn sich die Bedeutung von Natur und Umwelt allein aus ihrer Bedeutung für die Menschheit und ihr Gedeihen ergibt, müssen sich die Maßnahmen des Umweltschutzes auch nur darauf richten. Der Erhalt von Tier- und Pflanzenarten oder von Ökosystemen, die für unsere Existenz keine wesentliche Bedeutung haben oder die ersetzt werden können, wäre dann nicht erforderlich. Das Konzept der „Ökosystemdienstleistungen“ markiert dieses Dilemma: Mit diesem Ansatz ist es möglich, die „Leistungen“ ökonomisch zu bemessen, die die Natur für uns erbringt, etwa indem Insekten Obstplantagen bestäuben oder Wälder Kohlendioxid speichern. So können die enormen Kosten berechnet werden, die der Verlust der Biodiversität mit sich bringt – der Schaden, den unser Umweltverbrauch mit sich bringt, bleibt damit nicht abstrakt, sondern wird als Wohlstandsverlust konkret erkennbar.19Vgl. Eser, Uta, Das Konzept der Ökosystemdienstleistungen. Ein Brückenschlag zwischen Ökologie, Ökonomie und Naturschutz, in: Natur und Landschaft 91 (2016) (PDF, https://www.umweltethikbuero.de/wordpress/wp-content/uploads/2024/05/Eser_2016_OeDL.pdf), abgerufen am 13.06.2025.
Weiterführende Infos
In diesem Videobeitrag der Deutschen Welle (dw) wird die Idee eines Preisschilds für Bäume, Bienen usw. anschaulich thematisiert:
https://www.dw.com/de/welchen-wert-hat-ein-baum-welchen-preis-ein-wal/video-66542856, abgerufen am 13.06.2025.
Allerdings ruft das moralische Einwände hervor: Wird die Natur damit nicht zu einer Dienstfunktion des Menschen herabgewürdigt? Ist das mit dem christlichen Verständnis von Schöpfung vereinbar? Führt das Konzept nicht dazu, dass statt Umweltschutz das Ersetzen von Naturdienstleistungen durch technische Systeme gewählt wird? Müssen wir statt eines Anthropozentrismus, der von unseren Interessen an der Natur ausgeht, nicht einen Standpunkt einnehmen, der den Eigenwert der Natur anerkennt? Die umweltethische Debatte über Alternativen zum Anthropozentrismus, die sich stattdessen an der Leidensfähigkeit von Lebewesen (Pathozentrismus) oder am Eigenwert des Lebens (Biozentrismus) oder der Natur insgesamt (Physiozentrismus) orientieren, ist intensiv geführt worden.20Vgl. Krebs, Angelika, Natur- und Umweltethik, in: Neuhäuser, Christian et al. (Hrsg.), Handbuch Angewandte Ethik, Stuttgart 2023, 329–335 (https://doi.org/10.1007/978-3-476-05869-0_46), abgerufen am 13.06.2025. Dabei ist klargeworden: Eine ethische Wertung vornehmen – und damit auch: den Eigenwert von Natur anerkennen – kann nur der Mensch. Um einen methodischen Anthropozentrismus kommt man also nicht herum. Aber die Einstellung von Menschen zu Natur und Umwelt muss sich ändern: Der „Wert“ von Natur kann nicht mehr bloß auf ihren instrumentellen Nutzwert reduziert werden. Vielmehr müssen der ästhetische Genuß von Naturphänomenen, die Ehrfurcht vor der Einzigartigkeit, der Erhabenheit und der Wildheit von Natur sowie ihr religiöser Transzendenzverweis als Schöpfung Gottes neu gewürdigt und respektiert werden.