1. Einleitung
Als rituelle, symbolisch verdichtete und kulturell eingebettete Praxis kann der Gottesdienst aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven betrachtet werden: u. a. theologisch, liturgisch, religionswissenschaftlich, historisch, sozial- und kulturwissenschaftlich – und auch ethisch. Jede dieser Perspektiven eröffnet eigene Antworten auf die Frage, was Gottesdienst ist bzw. was im Gottesdienst geschieht.
Weiterführende Infos WiReLex
Vergleiche hierzu den Artikel „Gottesdienst, evangelisch“ im WiReLex: 
Saß, Marcell, Art. Gottesdienst, evangelisch, in: WiReLex, 2016 (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/100102/), abgerufen am 07.10.2025.
Im evangelischen Kontext hat sich die Rede von der „Kommunikation des Evangeliums“1Vgl. Grethlein, Christian, Kommunikation des Evangeliums als Programmbegriff, in: Schlag, Thomas et al. (Hrsg.), „Was ist für dich der Sinn?“ Kommunikation des Evangeliums mit Kindern und Jugendlichen (Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheologie Band 1), Stuttgart 2018, 18–27. Vgl. auch Domsgen, Michael/Schröder, Bernd (Hrsg.), Kommunikation des Evangeliums. Leitbegriff der Praktischen Theologie (Arbeiten zur Praktischen Theologie 57), Leipzig 2014. als Leit- und Programmbegriff zur Beschreibung kirchlicher Praktiken etabliert. Von diesem Begriff aus lässt sich auch der Gottesdienst als ein kommunikatives Geschehen2Vgl. Meyer-Blanck, Michael, Gottesdienstlehre, Tübingen 2011. verstehen und mit einem ethischen Erkenntnisinteresse analysieren, zumal das für den Gottesdienst charakteristische Wechselspiel „Gott dient uns und wir dienen ihm“3Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Der Gottesdienst. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche. Vorgelegt vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2009 (https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/gottesdienst.pdf), abgerufen am 07.10.2025, 31. nach evangelischer Auffassung bis ins tägliche Leben der Gläubigen hineinreicht: „Der Gottesdienst am Sonntag und der Gottesdienst im Alltag bilden einen Lebenszusammenhang, der es erlaubt, das ganze christliche Dasein als ein gottesdienstliches Dasein anzusprechen.“4EKD, Gottesdienst, 36. Ethische Zugänge zum Phänomen „Gottesdienst“ richten sich demnach sowohl auf die liturgischen Praktiken als auch auf die Alltagspraktiken der Gläubigen und fragen dabei nach der Unterscheidung und dem Zusammenhang von Gottes Werken und menschlichen Werken. Definiert man Ethik als „selbstreflexive Theorie der Moral“,5Körtner, Ulrich H.J., Grundkurs Pflegeethik, Wien 32017, 15. und unterscheidet man im Hinblick auf die Moral zwischen normativen und evaluativen Aspekten, dann machen ethische Perspektiven auf den Gottesdienst das ganze Spektrum des Moralischen von handlungsbezogenen Normen, Prinzipien und Regeln bis hin zu Werten und personenbezogenen Einstellungen und Lebensformen sichtbar.6Mit dieser Unterscheidung und terminologischen Zuordnung von Moral und Ethos bzw. „Moralität“ und „Sittlichkeit“ folge ich in diesem Beitrag einer Definition von Ethik, die nicht überall, aber in maßgeblichen Teilen des Ethikdiskurses im Anschluss an Kant 
 und Hegel
 und Hegel 
 Verwendung findet, vgl. exemplarisch Habermas, Jürgen, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik, Frankfurt a. M. 42002; vgl. auch Krämer, Hans, Integrative Ethik, Frankfurt a. M. 1995. Im Allgemeinen richtet sich ethisches Reflektieren nicht nur auf die Frage, was Menschen tun sollen, wie ihre Handlungsmaximen begründet werden können und was man als „gerecht“ bezeichnen kann, sondern auch auf das, was sie prägt und trägt, was ihr Leben formt, wonach sie streben, worauf sie hoffen und was für sie zu einem „guten Leben“ gehört. Mit Blick auf besondere Anwendungsfälle wie den Gottesdienst bezieht sich ethisches Nachdenken daher auf ein breites Feld zwischen den interdependenten Polen der „Gerechtigkeit“ und Fragen der Lebensführung sowie dem „guten Leben“ und damit verbundenen Fragen von Lebensformen. Jene Lebensformen lassen sich definieren als „kulturell geprägte Formen menschlichen Zusammenlebens, ‚Ordnungen menschlicher Koexistenz‘, die ein ‚Ensemble von Praktiken und Orientierungen‘, aber auch deren institutionelle Manifestationen und Materialisierungen umfassen“.7Jaeggi, Rahel, Kritik von Lebensformen, Berlin 2014, 20f. Freilich ist die terminologische Zuordnung der Phänomene des Moralischen in der Ethik ebenso umstritten wie die Frage, ob eher die Frage nach Gerechtigkeit und universalisierbaren Prinzipien der Lebensführung oder die Frage nach dem guten Leben bzw. des Ethos Vorrang haben sollten.8Vgl. hierzu die klassische Kontroverse zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, dokumentiert in: Honneth, Axel (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M./New York 1993. Dies gilt auch für ethische Perspektiven auf den Gottesdienst in Liturgie und Alltag, die sowohl regelförmige Handlungsorientierungen als auch Lebensformen thematisieren, wobei letztere nicht nur als Formen eines „guten Lebens“, sondern auch spezifisch als Formen eines geschöpflichen Lebens in den Blick kommen.9Vgl. Ulrich, Hans G., Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, Berlin 32023.
 Verwendung findet, vgl. exemplarisch Habermas, Jürgen, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik, Frankfurt a. M. 42002; vgl. auch Krämer, Hans, Integrative Ethik, Frankfurt a. M. 1995. Im Allgemeinen richtet sich ethisches Reflektieren nicht nur auf die Frage, was Menschen tun sollen, wie ihre Handlungsmaximen begründet werden können und was man als „gerecht“ bezeichnen kann, sondern auch auf das, was sie prägt und trägt, was ihr Leben formt, wonach sie streben, worauf sie hoffen und was für sie zu einem „guten Leben“ gehört. Mit Blick auf besondere Anwendungsfälle wie den Gottesdienst bezieht sich ethisches Nachdenken daher auf ein breites Feld zwischen den interdependenten Polen der „Gerechtigkeit“ und Fragen der Lebensführung sowie dem „guten Leben“ und damit verbundenen Fragen von Lebensformen. Jene Lebensformen lassen sich definieren als „kulturell geprägte Formen menschlichen Zusammenlebens, ‚Ordnungen menschlicher Koexistenz‘, die ein ‚Ensemble von Praktiken und Orientierungen‘, aber auch deren institutionelle Manifestationen und Materialisierungen umfassen“.7Jaeggi, Rahel, Kritik von Lebensformen, Berlin 2014, 20f. Freilich ist die terminologische Zuordnung der Phänomene des Moralischen in der Ethik ebenso umstritten wie die Frage, ob eher die Frage nach Gerechtigkeit und universalisierbaren Prinzipien der Lebensführung oder die Frage nach dem guten Leben bzw. des Ethos Vorrang haben sollten.8Vgl. hierzu die klassische Kontroverse zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, dokumentiert in: Honneth, Axel (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M./New York 1993. Dies gilt auch für ethische Perspektiven auf den Gottesdienst in Liturgie und Alltag, die sowohl regelförmige Handlungsorientierungen als auch Lebensformen thematisieren, wobei letztere nicht nur als Formen eines „guten Lebens“, sondern auch spezifisch als Formen eines geschöpflichen Lebens in den Blick kommen.9Vgl. Ulrich, Hans G., Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, Berlin 32023.
2. Historische Perspektiven
Das Wechselspiel von göttlichem Wort und menschlicher Antwort, das sich über den Vollzug des Rituals hinaus auf alle Lebensäußerungen der Gläubigen erstreckt, kennzeichnet evangelische Konzeptionen des Verhältnisses von Gottesdienst und Ethik.10Vgl. Deeg, Alexander, Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt. Überlegungen zu einer evangelischen Fundamentalliturgik, Göttingen 2012. Vgl. auch ders., Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt. Zur Bedeutung der Theologie für die Liturgiepraxis, in: Mildenberger, Irene (Hrsg.), Was für ein Stück wird hier gespielt? Zur Theologie des Gottesdienstes. Leipzig 2011, 121–145. Vgl. auch Bayer, Oswald, Leibliches Wort. Reformation und Neuzeit im Konflikt, Tübingen 1992. Martin Luthers 
 viel zitierte Formel zur Einweihung der Torgauer Schlosskirche aus dem Jahr 1544, wonach sich im Gottesdienst ein Zusammenspiel von Anrede Gottes und Antwort des Menschen ereigne, bei dem „nichts anderes […] geschehe, als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“,11Luther, Martin, WA 49, 588, 15–18. hat das evangelische Gottesdienstverständnis wegweisend geprägt. Als ebenfalls wirkmächtig hat sich die reformierte Form des Predigtgottesdienstes erwiesen, der durchgängig als Hören auf das Zeugnis vom Wort Gottes konzipiert ist.12Vgl. Freudenberg, Matthias, Reformierte Theologie. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 2011, 265f. Beide Formen bilden heute die Grundformen I und II des evangelischen Gottesdienstes in der Agenda der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) und der Vereinigten Evangelischen Kirchen in Deutschland (VELKD). Vgl. Präsidium der UEK und Kirchenleitung der VELKD (Hrsg.), Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (UEK) und für die Vereinigte Evangelisch-lutherische Kirche Deutschlands (VELKD), Leipzig/Bielefeld 2020. Die Confessio Augustana rückt als weiteren Aspekt neben der öffentlichen Wortverkündigung die Lebensförmigkeit der Mahlfeier als realen Vollzug der Gemeinschaft der Gläubigen mit Jesus Christus in den Blick.13„Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta“. CA VII. De ecclesia, in: Apologia Confessionis Augustanae, in: BSLK Göttingen 1930, 139–404. Zugleich wird diese Lebensform vor dem Hintergrund der Rechtfertigungslehre ausdrücklich nicht als Opfer (sacrificium), sondern als Gabe Gottes (beneficium) verstanden.14Vgl. Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 159. Vgl. auch EKD, Gottesdienst, 24. Zur Zeit der lutherischen Orthodoxie und in der Theologie der Aufklärung wurde der Schwerpunkt des Gottesdienstes allerdings auf die Wortverkündigung als moralische Unterweisung der Gemeinde verlagert. Bis heute wirken diese Schwerpunktsetzungen in Tendenzen zu einer Moralisierung des Gottesdienstes nach, insbesondere hinsichtlich der Predigt und der Fürbittengebete.15Vgl. zur Gesamtproblematik die Studie von Josuttis, Manfred, Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart (Studien zur Praktischen Theologie 3), München 1966 und den Überblick bei Deeg, Alexander, Predigt und Derascha. Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum. Vandenhoeck & Ruprecht 2006. Widerspruch gegen eine moralpädagogische Instrumentalisierung des Gottesdienstes kann sich auf Schleiermachers
 viel zitierte Formel zur Einweihung der Torgauer Schlosskirche aus dem Jahr 1544, wonach sich im Gottesdienst ein Zusammenspiel von Anrede Gottes und Antwort des Menschen ereigne, bei dem „nichts anderes […] geschehe, als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“,11Luther, Martin, WA 49, 588, 15–18. hat das evangelische Gottesdienstverständnis wegweisend geprägt. Als ebenfalls wirkmächtig hat sich die reformierte Form des Predigtgottesdienstes erwiesen, der durchgängig als Hören auf das Zeugnis vom Wort Gottes konzipiert ist.12Vgl. Freudenberg, Matthias, Reformierte Theologie. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 2011, 265f. Beide Formen bilden heute die Grundformen I und II des evangelischen Gottesdienstes in der Agenda der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) und der Vereinigten Evangelischen Kirchen in Deutschland (VELKD). Vgl. Präsidium der UEK und Kirchenleitung der VELKD (Hrsg.), Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (UEK) und für die Vereinigte Evangelisch-lutherische Kirche Deutschlands (VELKD), Leipzig/Bielefeld 2020. Die Confessio Augustana rückt als weiteren Aspekt neben der öffentlichen Wortverkündigung die Lebensförmigkeit der Mahlfeier als realen Vollzug der Gemeinschaft der Gläubigen mit Jesus Christus in den Blick.13„Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta“. CA VII. De ecclesia, in: Apologia Confessionis Augustanae, in: BSLK Göttingen 1930, 139–404. Zugleich wird diese Lebensform vor dem Hintergrund der Rechtfertigungslehre ausdrücklich nicht als Opfer (sacrificium), sondern als Gabe Gottes (beneficium) verstanden.14Vgl. Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 159. Vgl. auch EKD, Gottesdienst, 24. Zur Zeit der lutherischen Orthodoxie und in der Theologie der Aufklärung wurde der Schwerpunkt des Gottesdienstes allerdings auf die Wortverkündigung als moralische Unterweisung der Gemeinde verlagert. Bis heute wirken diese Schwerpunktsetzungen in Tendenzen zu einer Moralisierung des Gottesdienstes nach, insbesondere hinsichtlich der Predigt und der Fürbittengebete.15Vgl. zur Gesamtproblematik die Studie von Josuttis, Manfred, Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart (Studien zur Praktischen Theologie 3), München 1966 und den Überblick bei Deeg, Alexander, Predigt und Derascha. Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum. Vandenhoeck & Ruprecht 2006. Widerspruch gegen eine moralpädagogische Instrumentalisierung des Gottesdienstes kann sich auf Schleiermachers 
 Verständnis des Gottesdienstes als „darstellendes Handeln“ des religiösen Bewusstseins beziehen, wonach der Gottesdienst in der Vielfalt seiner Formen ein Kontext spezifischer religiöser Praktiken ist, deren Sinn im Unterschied zum auf Veränderung der Welt gerichteten „wirksamen Handeln“ in ihnen selbst liegt – wie bei einem Fest.16Vgl. Schleiermacher, Friedrich D. E., Die Praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hrsg. v. Jacob Friedrichs, Berlin/New York 1850/1983. Beim Gottesdienst ist die Feier der Werke Gottes jedenfalls von ethischen, auf menschliche Werke bezogenen Aspekten zu unterscheiden. Allerdings sollte diese Unterscheidung nicht zur Trennung zweier unverbundener „Bereiche“ führen, wie dies in bestimmten Auslegungsvarianten der lutherischen  Zwei-Reiche-Lehre erfolgte.17Vgl. Herms, Eilert, Art. Zwei-Reiche-Lehre/Zwei-Regimenten-Lehre, in: RGG4 8 (2005), Sp. 1936–1941. Zur Zeit des Kirchenkampfs wurde der Anspruch des im Gottesdienst erfahrenen Wirkens Gottes auf das ganze Leben der Gläubigen gegen solche Varianten nachdrücklich festgehalten.18Vgl. hierzu insbesondere die Barmer Theologische Erklärung von 1934 sowie Wolf, Ernst, Königsherrschaft Christi und lutherische Zwei-Reiche-Lehre, in: ders., Peregrinatio Bd. 2. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München 1965, 207–229. Vgl. auch Frettlöh, Magdalene L. et al. (Hrsg.), „Gottes kräftiger Anspruch“. Die Barmer Theologische Erklärung als reformierter Schlüsseltext. Zürich 2018. Laut Dietrich Bonhoeffer
 Verständnis des Gottesdienstes als „darstellendes Handeln“ des religiösen Bewusstseins beziehen, wonach der Gottesdienst in der Vielfalt seiner Formen ein Kontext spezifischer religiöser Praktiken ist, deren Sinn im Unterschied zum auf Veränderung der Welt gerichteten „wirksamen Handeln“ in ihnen selbst liegt – wie bei einem Fest.16Vgl. Schleiermacher, Friedrich D. E., Die Praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hrsg. v. Jacob Friedrichs, Berlin/New York 1850/1983. Beim Gottesdienst ist die Feier der Werke Gottes jedenfalls von ethischen, auf menschliche Werke bezogenen Aspekten zu unterscheiden. Allerdings sollte diese Unterscheidung nicht zur Trennung zweier unverbundener „Bereiche“ führen, wie dies in bestimmten Auslegungsvarianten der lutherischen  Zwei-Reiche-Lehre erfolgte.17Vgl. Herms, Eilert, Art. Zwei-Reiche-Lehre/Zwei-Regimenten-Lehre, in: RGG4 8 (2005), Sp. 1936–1941. Zur Zeit des Kirchenkampfs wurde der Anspruch des im Gottesdienst erfahrenen Wirkens Gottes auf das ganze Leben der Gläubigen gegen solche Varianten nachdrücklich festgehalten.18Vgl. hierzu insbesondere die Barmer Theologische Erklärung von 1934 sowie Wolf, Ernst, Königsherrschaft Christi und lutherische Zwei-Reiche-Lehre, in: ders., Peregrinatio Bd. 2. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München 1965, 207–229. Vgl. auch Frettlöh, Magdalene L. et al. (Hrsg.), „Gottes kräftiger Anspruch“. Die Barmer Theologische Erklärung als reformierter Schlüsseltext. Zürich 2018. Laut Dietrich Bonhoeffer 
 zielt der Zusammenhang von Gottesdienst und Alltag darauf, „an der Wirklichkeit Gottes und der Welt in Jesus Christus heute teilzuhaben und das so, daß ich die Wirklichkeit Gottes nie ohne die Wirklichkeit der Welt und die Wirklichkeit der Welt nie ohne die Wirklichkeit Gottes erfahre“.19Bonhoeffer, Dietrich, Ethik (DBW 6), Gütersloh 1992, 40 (Hervorhebung im Original). Durch diese Kontroversen hindurch kann man es daher in gewisser Weise als prägend für die Verhältnisbestimmungen von Gottesdienst und Ethik seit Schleiermacher bezeichnen, dass der Gottesdienst nicht auf einen Motivations- oder Begründungszusammenhang moralischer Handlungen und Urteile reduziert, sondern primär als Ort des Erlebens von Gottes Wirken bzw. dem Hören auf sein wirklichkeitserschließendes Wort erachtet wird.20Vgl. Hofheinz, Marco, Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst. Ethisch-liturgische Konturen, in: Hofheinz, Marco unter Mitarbeit von Kai-Ole Eberhardt (Hrsg.), Die Tradierung von Ethik im Gottesdienst. Symposiumsbeiträge zu Ehren von Hans G. Ulrich (Ethik im Theologischen Diskurs 26), Münster 2019, 81–107. Aus diesem Fokus auf den Gottesdienst als Kontext, in dem sich Menschen dem Handeln Gottes aussetzen und in die Unterscheidung zwischen Gottes Werken und ihren eigenen Werken einüben,21Vgl. Lüpke, Johannes von, Gottesdienst und Ethik in der Perspektive lutherischer Theologie, in: Hofheinz, Marco unter Mitarbeit von Kai-Ole Eberhardt (Hrsg.), Die Tradierung von Ethik im Gottesdienst. Symposiumsbeiträge zu Ehren von Hans G. Ulrich (Ethik im Theologischen Diskurs 26), Münster 2019, 53–68. ergeben sich auch einige aktuelle ethische Perspektiven auf den Gottesdienst.
 zielt der Zusammenhang von Gottesdienst und Alltag darauf, „an der Wirklichkeit Gottes und der Welt in Jesus Christus heute teilzuhaben und das so, daß ich die Wirklichkeit Gottes nie ohne die Wirklichkeit der Welt und die Wirklichkeit der Welt nie ohne die Wirklichkeit Gottes erfahre“.19Bonhoeffer, Dietrich, Ethik (DBW 6), Gütersloh 1992, 40 (Hervorhebung im Original). Durch diese Kontroversen hindurch kann man es daher in gewisser Weise als prägend für die Verhältnisbestimmungen von Gottesdienst und Ethik seit Schleiermacher bezeichnen, dass der Gottesdienst nicht auf einen Motivations- oder Begründungszusammenhang moralischer Handlungen und Urteile reduziert, sondern primär als Ort des Erlebens von Gottes Wirken bzw. dem Hören auf sein wirklichkeitserschließendes Wort erachtet wird.20Vgl. Hofheinz, Marco, Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst. Ethisch-liturgische Konturen, in: Hofheinz, Marco unter Mitarbeit von Kai-Ole Eberhardt (Hrsg.), Die Tradierung von Ethik im Gottesdienst. Symposiumsbeiträge zu Ehren von Hans G. Ulrich (Ethik im Theologischen Diskurs 26), Münster 2019, 81–107. Aus diesem Fokus auf den Gottesdienst als Kontext, in dem sich Menschen dem Handeln Gottes aussetzen und in die Unterscheidung zwischen Gottes Werken und ihren eigenen Werken einüben,21Vgl. Lüpke, Johannes von, Gottesdienst und Ethik in der Perspektive lutherischer Theologie, in: Hofheinz, Marco unter Mitarbeit von Kai-Ole Eberhardt (Hrsg.), Die Tradierung von Ethik im Gottesdienst. Symposiumsbeiträge zu Ehren von Hans G. Ulrich (Ethik im Theologischen Diskurs 26), Münster 2019, 53–68. ergeben sich auch einige aktuelle ethische Perspektiven auf den Gottesdienst.
3. Aktuelle Perspektiven
Ausgehend von biblischen Texten wie Röm 12,1Ich ermahne euch nun, Brüder und Schwestern, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.Zur Bibelstelle zählt die Bestimmung des Verhältnisses von Gottesdienst und Alltag zu den bleibend aktuellen Aufgaben ethischen Nachdenkens über den Gottesdienst.22Vgl. Grethlein, Christian, Grundfragen der Liturgik. Ein Studienbuch zur zeitgemäßen Gottesdienstgestaltung, Gütersloh 2001. Einerseits unterbricht der Gottesdienst den Alltag, andererseits verbinden sich Ritual und Alltag im Ethos der Gläubigen zu einem „Lebenszusammenhang, der es erlaubt, das ganze christliche Dasein als ein gottesdienstliches Dasein anzusprechen“.23EKD, Gottesdienst, 36. Hinsichtlich dieses Zusammenhangs lassen sich im Diskurs zwei Ansätze unterscheiden, je nachdem, ob er eher vom Alltag her24Vgl. hierzu paradigmatisch Lange, Ernst, Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart, München 1984. oder eher vom Gottesdienst her25Vgl. paradigmatisch Ulrich, Hans G., Evangelische Ethik – gegenwärtige Perspektiven, in: ders. (Hrsg.), Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihren Grundlagen und Aufgaben, München 1990, 382–411. in den Blick genommen wird. Beide Ansätze müssen sich mit berechtigten Einwänden auseinandersetzen: Der Ansatz bei tagesaktuellen ethischen Themen wie Frieden, Umweltschutz, Migration oder Solidarität sowie bei alltäglichen Sinn- und Orientierungsfragen muss sich daraufhin prüfen lassen, ob hier nicht die Gläubigen zu bestimmten Einstellungen und Verhaltensweisen motiviert werden sollen, was die Kirche auf eine ersetzbare „Moralagentur“ reduzieren könnte bzw. die Frage aufwirft, auf welche Expertise sich deren normative Vorgaben für das Handeln und Verhalten in anderen gesellschaftlichen Kontexten stützen.26Vgl. Joas, Hans, Kirche als Moralagentur? München 2016. Der Ansatz des Gottesdiensts als spezifischem Ort ethischer Praktiken muss sich demgegenüber der kritischen Anfrage stellen, ob er nicht einem kommunitaristischen Sonderethos Vorschub leiste, der die Kirche zur Kontrastgemeinschaft herabstufe.27Vgl. Körtner, Ulrich H. J., Politische Ethik und Politische Theologie, in: Jahrbuch für Recht und Ethik/Annual Review of Law and Ethics 19 (2011) (http://www.jstor.org/stable/43593859), abgerufen am 07.10.2025, 19–33. Konstruktive Antworten auf diese Kritik und tragfähige Perspektiven auf den Zusammenhang von Gottesdienst und Ethik bieten theologisch-ethische Zugänge, die den Gottesdienst in die Perspektive einer Öffentlichen Theologie rücken28Vgl. Bedford-Strohm, Heinrich, Öffentliche Theologie in der Zivilgesellschaft, in: Höhne, Florian/Oorschot, Friederike van (Hrsg.), Grundtexte Öffentliche Theologie, Leipzig 2015, 211–226. oder die Konzepte des „politischen Gottesdienstes“ für aktuelle Herausforderungen weiterentwickeln.29Vgl. Meireis, Torsten, Politischer Gottesdienst als öffentliche Theologie – Bedeutung, Rahmen und theologische Bedingungen, in: Kusmierz, Katrin/Plüss, David (Hrsg.), Politischer Gottesdienst?! Zürich 2013, 153–175. Hinzu kommen auch praktisch-theologische Klärungen des Zusammenhangs von Gottesdienst und Ethik30Vgl. hierzu Deeg, Alexander, Essen, was wir sind. Oder: Die Politik des Abendmahls, in: Kerygma und Dogma 66/2 (2020), 140–156. Vgl. ders., Metaphern und Moves, Poesie und Pathos. Wahrnehmungen und Fragen zur gegenwärtigen Transformation der Predigtsprache, in: Pastoraltheologie 10 (2019), 400–421 sowie Greifenstein, Johannes, Wie ist der Gottesdienst politisch?, in: ZEE 62 (2018), 102–114. Vgl. auch Bubmann, Peter/Deeg, Alexander (Hrsg.), Der Sonntagsgottesdienst. Ein Gang durch die Liturgie, Göttingen 2018. insbesondere mit Blick auf die Predigt31Vgl. die Beiträge in Schwier, Helmut (Hrsg.), Ethische und politische Predigt. Beiträge zu einer homiletischen Herausforderung, Leipzig 2015. Vgl. Fritz, Regina, Ethos und Predigt. Eine ethisch-homiletische Studie zur Konstitution und Kommunikation sittlichen Urteilens (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 9), Tübingen 2011. Vgl. Hoffmann, Martin, Ethisch und politisch predigen. Grundlagen und Modelle, Leipzig 2011. Vgl. aus Perspektive der systematischen Theologie Honecker, Martin, Ethik und Predigt. Ethische Themen in der Predigt, in: ders., Auf der Suche nach Orientierung im Labyrinth der Ethik, Stuttgart 2017, 171 –184. sowie kirchliche Auseinandersetzungen mit der Frage nach der Reichweite und Geltung kirchlicher Ethik.32Vgl. Rat der EKD (Hrsg.), Das rechte Wort zur rechten Zeit. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, Gütersloh 2008.
Prägend für den aktuellen Diskurs – und paradigmatisch für den Ansatz beim Gottesdienst und seinen Praktiken – waren seit den 1990er Jahren auch ökumenische Projekte wie „Worship and Ethics“,33Vgl. Bayer, Oswald/Suggate, Alan (Hrsg.), Worship and Ethics. Lutherans and Anglicans in Dialogue, Berlin/New York 1996. die zu einer „Wiederentdeckung des Gottesdienstes als Ort von Ethik“34Hofheinz, Marco, Die Wiederentdeckung des Gottesdienstes als Ort von Ethik, in: Hofheinz, Marco unter Mitarbeit von Kai-Ole Eberhardt (Hrsg.), Die Tradierung von Ethik im Gottesdienst. Symposiumsbeiträge zu Ehren von Hans G. Ulrich (Ethik im Theologischen Diskurs 26), Berlin 2019, 1–20. geführt haben. In die Dynamik jenes Interesses am Zusammenhang von Gottesdienst und Ethik gehören auch Bernd Wannenwetschs 
 Entwurf „Gottesdienst als Lebensform“ von 1997, wonach Menschen durch die Praktiken und Sprachspiele des Gottesdienstes die Grammatik des christlichen Lebens erlernen35Vgl. Wannenwetsch, Bernd, Gottesdienst als Lebensform. Ethik für Christenbürger, Stuttgart/Berlin/Köln 1997. und das von Stanley Hauerwas
 Entwurf „Gottesdienst als Lebensform“ von 1997, wonach Menschen durch die Praktiken und Sprachspiele des Gottesdienstes die Grammatik des christlichen Lebens erlernen35Vgl. Wannenwetsch, Bernd, Gottesdienst als Lebensform. Ethik für Christenbürger, Stuttgart/Berlin/Köln 1997. und das von Stanley Hauerwas 
 und Samuel Wells
 und Samuel Wells 
 herausgegebene „Blackwell Companion to Christian Ethics“ von 2006, das die wesentlichen Topoi der christlichen Ethik entlang der liturgischen Stücke des Gottesdienstes entfaltet.36Vgl. Hauerwas, Stanley/Wells, Samuel (Hrsg.), The Blackwell Companion to Christian Ethics, Oxford 2006. Zuvor hatte der Methodist Stanley Hauerwas in den USA die christliche Ethik bereits ausdrücklich von den wiederkehrenden und formativen Praktiken des Gottesdienstes her als eine im Kontext der christlichen Gemeinde verortete Tugendethik entwickelt: Vgl. Hauerwas, Stanley, A Community of Character. Toward a Constructive Christian Social Ethic, Notre Dame 1991. Vgl. Hauerwas, Stanley, In Good Company. Church as Polis, Notre Dame 1997. Während der von Hauerwas angestoßene Zugang zur Ethik des Gottesdienstes im deutschsprachigen Diskurs kontrovers rezipiert und als binnenkirchliche Engführung von Ethik kritisiert wurde, hat der reformierte Systematische Theologe Marco Hofheinz wichtige Impulse jener Ethik aufgenommen, produktiv weitergeführt und Brücken zwischen dieser und weiteren anglo-amerikanischen Forschungen zum Themenfeld von Gottesdienst und Ethik gebaut.37Vgl. Hofheinz, Marco unter Mitarbeit von Kai-Ole Eberhardt (Hrsg.), Die Tradierung von Ethik im Gottesdienst. Symposiumsbeiträge zu Ehren von Hans G. Ulrich (Ethik im Theologischen Diskurs 26), Münster 2019. Vgl. ders., Der Gottesdienst als Raum der Öffentlichkeit. Ethische Konturen einer etwas anderen Öffentlichen Theologie, in: Wabel, Thomas et al. (Hrsg.), Zwischen Diskurs und Affekt. Vergemeinschaftung und Urteilsbildung in der Perspektive Öffentlicher Theologie (Öffentliche Theologie 35), Leipzig 2018, 193–213. Vgl. auch Hofheinz, Marco/Browning, Peter D. unter Mitarbeit von Raphael Döhn, Kai-Ole Eberhardt, Jan-Philip Tegtmeier und Ingrid Kuhn-Wendlandt (Hrsg.), Protestantische Ethik in den USA des 20. Jahrhunderts. Ein kommentierter Reader, Stuttgart 2023. Vgl. ders., Gottesdienstliche Praktiken des Friedensstiftens und die Spiritualität der Friedfertigkeit, in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens. Ein friedenstheologisches Lesebuch, Leipzig 2019, 269–278. Inzwischen liegen auch zahlreiche weitere Ansätze vor, die den Gottesdienst mit seinen auf Gottes Wirken bezogenen Praktiken selbst zum Gegenstand ethischer Reflexion machen, z.B. anhand der Praktiken des Friedengrußes,38Vgl. Heuser, Stefan, Der Frieden Gottes als Metapher, in: Deeg, Alexander/Lehnert, Christian (Hrsg.), Krieg und Frieden. Metaphern der Gewalt und der Versöhnung im christlichen Gottesdienst, Leipzig 2022, 69–84. Vgl. ders., Der Friedensgruß im Gottesdienst. Einstimmen in das Friedenshandelns Gottes, in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens. Ein friedenstheologisches Lesebuch, Leipzig 2019, 287–293. des Vergebens,39Vgl. Schliesser, Christine, Vergebung, in: Deeg, Alexander/Lehnert, Christian (Hrsg.), Krieg und Frieden. Metaphern der Gewalt und der Versöhnung im christlichen Gottesdienst, Leipzig 2022, 295–301. des Betens der Psalmen40Vgl. Brock, Brian, Singing the Ethos of God. On the Place of Christian Ethics in Scripture, Grand Rapids 2007. und des Vaterunsers41Vgl. Ulrich, Hans G., Ethik lernen mit dem Vaterunser. Das Gebet als paradigmatische Praxis einer Lebensform, in: Thaidigsmann, Edgar/Lüpke, Johannes von (Hrsg.), Denkraum Katechismus. Festgabe für Oswald Bayer zum 70. Geburtstag, Tübingen 2009, 435–448. oder der Mahlgemeinschaft.42Vgl. Zeindler, Matthias, Mahlgemeinschaft, in: Deeg, Alexander/Lehnert, Christian (Hrsg.), Krieg und Frieden. Metaphern der Gewalt und der Versöhnung im christlichen Gottesdienst, Leipzig 2022, 303–309. Ein wichtiger Impulsgeber für diese Diskurse ist der Sozialethiker Hans G. Ulrich
 herausgegebene „Blackwell Companion to Christian Ethics“ von 2006, das die wesentlichen Topoi der christlichen Ethik entlang der liturgischen Stücke des Gottesdienstes entfaltet.36Vgl. Hauerwas, Stanley/Wells, Samuel (Hrsg.), The Blackwell Companion to Christian Ethics, Oxford 2006. Zuvor hatte der Methodist Stanley Hauerwas in den USA die christliche Ethik bereits ausdrücklich von den wiederkehrenden und formativen Praktiken des Gottesdienstes her als eine im Kontext der christlichen Gemeinde verortete Tugendethik entwickelt: Vgl. Hauerwas, Stanley, A Community of Character. Toward a Constructive Christian Social Ethic, Notre Dame 1991. Vgl. Hauerwas, Stanley, In Good Company. Church as Polis, Notre Dame 1997. Während der von Hauerwas angestoßene Zugang zur Ethik des Gottesdienstes im deutschsprachigen Diskurs kontrovers rezipiert und als binnenkirchliche Engführung von Ethik kritisiert wurde, hat der reformierte Systematische Theologe Marco Hofheinz wichtige Impulse jener Ethik aufgenommen, produktiv weitergeführt und Brücken zwischen dieser und weiteren anglo-amerikanischen Forschungen zum Themenfeld von Gottesdienst und Ethik gebaut.37Vgl. Hofheinz, Marco unter Mitarbeit von Kai-Ole Eberhardt (Hrsg.), Die Tradierung von Ethik im Gottesdienst. Symposiumsbeiträge zu Ehren von Hans G. Ulrich (Ethik im Theologischen Diskurs 26), Münster 2019. Vgl. ders., Der Gottesdienst als Raum der Öffentlichkeit. Ethische Konturen einer etwas anderen Öffentlichen Theologie, in: Wabel, Thomas et al. (Hrsg.), Zwischen Diskurs und Affekt. Vergemeinschaftung und Urteilsbildung in der Perspektive Öffentlicher Theologie (Öffentliche Theologie 35), Leipzig 2018, 193–213. Vgl. auch Hofheinz, Marco/Browning, Peter D. unter Mitarbeit von Raphael Döhn, Kai-Ole Eberhardt, Jan-Philip Tegtmeier und Ingrid Kuhn-Wendlandt (Hrsg.), Protestantische Ethik in den USA des 20. Jahrhunderts. Ein kommentierter Reader, Stuttgart 2023. Vgl. ders., Gottesdienstliche Praktiken des Friedensstiftens und die Spiritualität der Friedfertigkeit, in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens. Ein friedenstheologisches Lesebuch, Leipzig 2019, 269–278. Inzwischen liegen auch zahlreiche weitere Ansätze vor, die den Gottesdienst mit seinen auf Gottes Wirken bezogenen Praktiken selbst zum Gegenstand ethischer Reflexion machen, z.B. anhand der Praktiken des Friedengrußes,38Vgl. Heuser, Stefan, Der Frieden Gottes als Metapher, in: Deeg, Alexander/Lehnert, Christian (Hrsg.), Krieg und Frieden. Metaphern der Gewalt und der Versöhnung im christlichen Gottesdienst, Leipzig 2022, 69–84. Vgl. ders., Der Friedensgruß im Gottesdienst. Einstimmen in das Friedenshandelns Gottes, in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens. Ein friedenstheologisches Lesebuch, Leipzig 2019, 287–293. des Vergebens,39Vgl. Schliesser, Christine, Vergebung, in: Deeg, Alexander/Lehnert, Christian (Hrsg.), Krieg und Frieden. Metaphern der Gewalt und der Versöhnung im christlichen Gottesdienst, Leipzig 2022, 295–301. des Betens der Psalmen40Vgl. Brock, Brian, Singing the Ethos of God. On the Place of Christian Ethics in Scripture, Grand Rapids 2007. und des Vaterunsers41Vgl. Ulrich, Hans G., Ethik lernen mit dem Vaterunser. Das Gebet als paradigmatische Praxis einer Lebensform, in: Thaidigsmann, Edgar/Lüpke, Johannes von (Hrsg.), Denkraum Katechismus. Festgabe für Oswald Bayer zum 70. Geburtstag, Tübingen 2009, 435–448. oder der Mahlgemeinschaft.42Vgl. Zeindler, Matthias, Mahlgemeinschaft, in: Deeg, Alexander/Lehnert, Christian (Hrsg.), Krieg und Frieden. Metaphern der Gewalt und der Versöhnung im christlichen Gottesdienst, Leipzig 2022, 303–309. Ein wichtiger Impulsgeber für diese Diskurse ist der Sozialethiker Hans G. Ulrich 
 mit seinem Entwurf „Wie Geschöpfe leben“, der die ethische Reflexion auf das Erlernen, die Einübung und die Tradierung von Praktiken bezieht, in denen sich Menschen im Gottesdienst ausdrücklich dem Wirken Gottes aussetzen und dabei eine „geschöpfliche“ Existenzform einüben.43Vgl. Ulrich, Geschöpfe. Von diesem Ansatz aus gewinnt Ulrich auch ethische Perspektiven auf den Gottesdienst im Alltag, wonach Gottesdienst überall dort geschieht, wo Menschen auf Gottes zurechtbringendes Wirken treffen und in seine eschatologische Wirklichkeit (vgl. Art. Erlösung) hineingerufen werden. Der Alltag wird so durch den Eintritt in die Praktiken des Teilens, des Verzeihens, des Hörens, Weitergebens und Wohltuns als ethische Situation der Heiligung beschreibbar: „Die ethische Situation ist […] von dem bestimmten Tun Gottes definiert, wie es im Gottesdienst erbeten und erinnert wird. In diesem bestimmten Tun Gottes, in seinen Praktiken […] findet die ethische Situation ihren Umriss: im Trösten, im Zurechtbringen, in der Vergebung, im Urteil, im Helfen und Beistand, in den guten Werken.“44Ulrich, Geschöpfe, 98. Der Gottesdienst lässt sich dann – paradigmatisch in seiner Gestalt als Sonntagsgottesdienst – als Ort der „primären Verifikation“ einer vom Geist Gottes initiierten Wirklichkeit begreifen, die sich im Medium der von Gottes Geschichte mit seinen Geschöpfen bestimmten und sie bezeugenden gottesdienstlichen Praktiken mit den Lebensgeschichten von Menschen verbindet.45Vgl. Ritschl, Dietrich, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 1984, 130f. Ausgehend von diesen Impulsen lässt sich Forschungsbedarf in Richtung pneumatologischer Explorationen des Zusammenhangs von Gottesdienst und Ethik erkennen. Dabei sollte weder die Diskrepanz zwischen theologischen Erwartungen und der realen Gottesdienstpraxis übersehen werden,46Vgl. EKD (Hrsg.), Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft und soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014 (https://www.ekd.de/download/ekd_v_kmu2014.pdf), abgerufen am 07.10.2025. noch der Umstand, dass die liturgische und homiletische Praxis selbst kritikbedürftig und davon bedroht ist, auf moralische Bildungszwecke reduziert zu werden. Das gilt auch für digitale Gottesdienstformate, die auf Social Media Portalen Teilnahmeschwellen senken, alternative Möglichkeiten zur Interaktion und Partizipation schaffen und religiöse Vergemeinschaftung jenseits räumlicher und zeitlicher Grenzen organisieren sollen. Ein vollständig von KI Applikationen generierter und im Nachgang viel diskutierter „KI-Gottesdienst“ auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2023 in Nürnberg wurde als „Meilenstein“, aber zugleich auch als „inhaltsleer und nicht sehr überzeugend“47Puzio, Anna, KI-Gottesdienst. Rückblick und Zusammenfassung, 2023 (https://www.anna-puzio.com/post/ki-gottesdienst-r%C3%BCckblick-und-zusammenfassung), abgerufen am 07.10.2025. Vgl. hierzu auch die Diskussion in: Puzio, Anna et al. (Hrsg.), Alexa, wie hast du’s mit der Religion? Theologische Zugänge zu Technik und Künstlicher Intelligenz, Darmstadt 2023. beurteilt. Aus ethischer Perspektive ist unter anderem bemerkenswert, dass in diesem KI-Gottesdienst eine „massive Moralisierung und Ethisierung der Botschaft“48Deeg, Alexander, Für Menschen als Liturg:innen, in: feinschwarz. Theologisches Feuilleton, 26.06.2023 (https://www.feinschwarz.net/fuer-menschen-als-liturginnen/#_ednref2), abgerufen am 07.10.2025. beobachtet wurde, die nicht auf die KI selbst, sondern auf die Datenquellen zurückgeht, mit denen sie trainiert wurde. Dies wirft einerseits die Frage auf, in welchem Maße in auf öffentlichen Webseiten zugänglichen Gottesdiensten, Predigten und Gebeten ein kritikwürdiger Moralismus enthalten ist. Andererseits verdeutlicht es die Notwendigkeit, KI-Modelle zur Generierung von Gottesdiensten gezielt mit inhaltlich qualifizierten und reflektierten Datensätzen zu trainieren. An Gottesdiensten besteht jedenfalls in analoger wie in digitaler Form dauerhafter Arbeits- und Reformbedarf, damit Menschen hier Gelegenheit finden, Erfahrungen von Gottes Frieden, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Vergebung zu machen und in die geschöpfliche Lebensform derer einzutreten, die Gott an sich handeln lassen.
 mit seinem Entwurf „Wie Geschöpfe leben“, der die ethische Reflexion auf das Erlernen, die Einübung und die Tradierung von Praktiken bezieht, in denen sich Menschen im Gottesdienst ausdrücklich dem Wirken Gottes aussetzen und dabei eine „geschöpfliche“ Existenzform einüben.43Vgl. Ulrich, Geschöpfe. Von diesem Ansatz aus gewinnt Ulrich auch ethische Perspektiven auf den Gottesdienst im Alltag, wonach Gottesdienst überall dort geschieht, wo Menschen auf Gottes zurechtbringendes Wirken treffen und in seine eschatologische Wirklichkeit (vgl. Art. Erlösung) hineingerufen werden. Der Alltag wird so durch den Eintritt in die Praktiken des Teilens, des Verzeihens, des Hörens, Weitergebens und Wohltuns als ethische Situation der Heiligung beschreibbar: „Die ethische Situation ist […] von dem bestimmten Tun Gottes definiert, wie es im Gottesdienst erbeten und erinnert wird. In diesem bestimmten Tun Gottes, in seinen Praktiken […] findet die ethische Situation ihren Umriss: im Trösten, im Zurechtbringen, in der Vergebung, im Urteil, im Helfen und Beistand, in den guten Werken.“44Ulrich, Geschöpfe, 98. Der Gottesdienst lässt sich dann – paradigmatisch in seiner Gestalt als Sonntagsgottesdienst – als Ort der „primären Verifikation“ einer vom Geist Gottes initiierten Wirklichkeit begreifen, die sich im Medium der von Gottes Geschichte mit seinen Geschöpfen bestimmten und sie bezeugenden gottesdienstlichen Praktiken mit den Lebensgeschichten von Menschen verbindet.45Vgl. Ritschl, Dietrich, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 1984, 130f. Ausgehend von diesen Impulsen lässt sich Forschungsbedarf in Richtung pneumatologischer Explorationen des Zusammenhangs von Gottesdienst und Ethik erkennen. Dabei sollte weder die Diskrepanz zwischen theologischen Erwartungen und der realen Gottesdienstpraxis übersehen werden,46Vgl. EKD (Hrsg.), Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft und soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014 (https://www.ekd.de/download/ekd_v_kmu2014.pdf), abgerufen am 07.10.2025. noch der Umstand, dass die liturgische und homiletische Praxis selbst kritikbedürftig und davon bedroht ist, auf moralische Bildungszwecke reduziert zu werden. Das gilt auch für digitale Gottesdienstformate, die auf Social Media Portalen Teilnahmeschwellen senken, alternative Möglichkeiten zur Interaktion und Partizipation schaffen und religiöse Vergemeinschaftung jenseits räumlicher und zeitlicher Grenzen organisieren sollen. Ein vollständig von KI Applikationen generierter und im Nachgang viel diskutierter „KI-Gottesdienst“ auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2023 in Nürnberg wurde als „Meilenstein“, aber zugleich auch als „inhaltsleer und nicht sehr überzeugend“47Puzio, Anna, KI-Gottesdienst. Rückblick und Zusammenfassung, 2023 (https://www.anna-puzio.com/post/ki-gottesdienst-r%C3%BCckblick-und-zusammenfassung), abgerufen am 07.10.2025. Vgl. hierzu auch die Diskussion in: Puzio, Anna et al. (Hrsg.), Alexa, wie hast du’s mit der Religion? Theologische Zugänge zu Technik und Künstlicher Intelligenz, Darmstadt 2023. beurteilt. Aus ethischer Perspektive ist unter anderem bemerkenswert, dass in diesem KI-Gottesdienst eine „massive Moralisierung und Ethisierung der Botschaft“48Deeg, Alexander, Für Menschen als Liturg:innen, in: feinschwarz. Theologisches Feuilleton, 26.06.2023 (https://www.feinschwarz.net/fuer-menschen-als-liturginnen/#_ednref2), abgerufen am 07.10.2025. beobachtet wurde, die nicht auf die KI selbst, sondern auf die Datenquellen zurückgeht, mit denen sie trainiert wurde. Dies wirft einerseits die Frage auf, in welchem Maße in auf öffentlichen Webseiten zugänglichen Gottesdiensten, Predigten und Gebeten ein kritikwürdiger Moralismus enthalten ist. Andererseits verdeutlicht es die Notwendigkeit, KI-Modelle zur Generierung von Gottesdiensten gezielt mit inhaltlich qualifizierten und reflektierten Datensätzen zu trainieren. An Gottesdiensten besteht jedenfalls in analoger wie in digitaler Form dauerhafter Arbeits- und Reformbedarf, damit Menschen hier Gelegenheit finden, Erfahrungen von Gottes Frieden, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Vergebung zu machen und in die geschöpfliche Lebensform derer einzutreten, die Gott an sich handeln lassen.
Weiterführende Infos
Einen Einblick in neue Gottesdienstformen bietet die EKD, z. B. hier: Sikinger, Daniel, Wegweiser in die Zukunft. Pioniere erproben neue Ausdrucksformen von Kirche, 12.01.2018 (https://www.ekd.de/pionierkirchen-neue-ausdrucksformen-von-kirche-31678.htm), abgerufen am 07.10.2025 (unten findet sich eine Liste kirchlicher „Pionierprojekte“).
Auch die Seite „Kirche im Dialog“ präsentiert Inspirationen für neue Gottesdienste: https://www.kircheimdialog.de/inspiration, abgerufen am 07.10.2025.
