Glück

  • Version 1.0
  • Veröffentlicht 16. Dezember 2025

In der Theologiegeschichte wurde der Glücksbegriff lange stiefmütterlich behandelt. Das liegt zum einen daran, dass bis zur Reformation vor allem die Glückseligkeit als jenseitiges Heil als Ziel des menschlichen Lebens und Strebens gedacht wurde. „Glück“ als irdisches Gut und im Hier und Jetzt Gegebenes kommt erst mit der Neuzeit in den Fokus. Der Versuch einer zeitgenössischen Definition muss mit einem stark subjektivistischen Verständnis von Glück umgehen: „Glück ist das, was Menschen sich darunter vorstellen.“[1] Zwischen Glücksforschern und -angeboten unterschiedlichster Weltanschauungen sucht die christliche Theologie in den letzten Jahrzehnten wieder verstärkt nach einer anschlussfähigen, biblisch reflektierten Orientierung für das menschliche Streben nach Glück.
[1]Braun, Hans, Empirische Glücksforschung. Ein schwieriges Unterfangen, in: ders. (Hrsg.), Glücksforschung. Eine Bestandsaufnahme, Konstanz 2002, 43–58, 48.

Inhaltsverzeichnis

    1. Anstelle einer Definition

    1.1. Spannungsfelder des Glücks

    Die unterschiedlichen Glückskonzepte der Theologie- und Philosophiegeschichte bewegen sich in mehreren Spannungsfeldern, die entsprechend den zeitgenössischen Fragen und Herausforderungen auf unterschiedliche Weise miteinander verschränkt werden.

    • Innen- und Außenperspektive: Glück kann verstanden werden als objektiv Definierbares und als subjektiv Empfundenes. Es kann an äußere Faktoren gebunden und durch innere Haltung bedingt sein.
    • Diesseits und jenseits der eigenen Wirksamkeit: Glück kann als immanent verortet und als transzendent ersehnt werden. Es kann als machbares, verfügbares Ziel erstrebt und als geschenktes, überraschendes Glück, als Gnadengabe empfangen werden. Auch kann Glück als augenblickhaftes, hereinbrechendes Geschehen erlebt und als dauerhaftes, gelingendes Leben erstrebt werden.
    • Individuell und interdependent: Glück kann als das Individuum allein betreffendes und als sozial verankertes, auf Beziehung angewiesenes Glück verstanden werden. Es kann sowohl in der Erfüllung als auch in der Sprengung einer Norm liegen und wird in unterschiedlichen Dependenzen zu Moral und Ethik betrachtet.

    1.2. Konstanten

    Die unterschiedlichen phänomenologisch beschreibbaren Vorstellungen von Glück weisen gemeinsame Konstanten auf.

    • Sie verstehen Glück als etwas Wünschenswertes, das zum Wohlergehen beiträgt.
    • Glück entspricht einem Zustand der Übereinstimmung des Selbst
      • mit sich selbst (Übereinstimmung von Sein und Wollen);
      • mit der Gesellschaft bzw. ihren Normen und Erwartungen (Übereinstimmung von Sein und Sollen);
      • mit Gott bzw. einem übergeordneten Sinnhorizont (Übereinstimmung von Sein und Gewordensein bzw. Werden).
    • Glück kann nicht selbstverständlich werden, ohne zu erlöschen. Glück muss um die Möglichkeit seines Gegenteils wissen.

    2. Antike

    2.1. Der Hedonismus

    Mit Aristipp von Kyrene oes-gnd-iconwaiting... (5./4. Jh.) beginnt der Hedonismus, die abendländische Philosophie zu prägen. Er versteht Glück bzw. das Lustempfinden als zentralen Maßstab menschlichen Handelns. Dabei sollen sinnliche Freuden maßvoll genossen und Gelassenheit (Ataraxie) bewahrt werden. Später entwickelt Epikur von Samos oes-gnd-iconwaiting... (ca. 341–270 v. Chr.) mit seiner Schule eine eigene Ethik der Maßhaltung, denn mit Mäßigung gelebte Lust fördert das langfristige Wohlbefinden. Ein intensiver philosophischer Austausch und gemeinschaftliches Leben in Philosophenhäusern prägen das Leben der Epikureer und ihr Glück.

    Als Gegenposition zur Konzentration auf die körperliche Lust entwickelt sich u. a. die Stoa, die das gute Leben als unabhängig von äußerer Lust und Schmerz versteht und es in der Tugend und im inneren Gleichmut findet.

    2.2. Aristoteles

    Aristoteles oes-gnd-iconwaiting... (384–322 v. Chr.) interpretiert das Glück in seinem handlungstheoretischen Zusammenhang. Eudaimonía, wie er sie vor allem in der Nikomachischen Ethik und in der Eudemischen Ethik herausarbeitet, ist das höchste anzustrebende Gut und das Ziel allen menschlichen Strebens und Handelns.1Vgl. Aristoteles, Eudemische Ethik. Übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier, Darmstadt 31979; ders., Nikomachische Ethik. Übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier, Anmerkungen von Ernst A. Schmid, Stuttgart 2003, 1097b22.

    Das einfache Volk hält eudaimonía für etwas Greifbares, Sichtbares,2Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095a23f. während die Gebildeteren sie als Idee betrachten, als das, was alle Güter gut macht.3Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095a26.

    Eudaimonía ist in sich vollkommen und autark,4Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1097a34; b20. manifestiert sich aber auch als „tugendgemäße Tätigkeit der Seele“,5Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1098a16. das heißt im ethisch guten Verhalten.

    Schließlich besteht das herrlichste, glücklichste bzw. glückselige Leben schlechthin in der theoría, in der ungetrübten Anschauung Gottes.6Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1177a17ff.

    3. Biblischer Befund

    3.1. Hebräische Bibel (AT)

    Dazu gehören in der hebräischen Bibel Wörter rund um die Begriffe ṯwv – gut; zlḥ – Gelingen; šlwm Frieden; ´šr – selig; rṣw – Gnade; yšu´h – Hilfe; brḥ – Segen; śmḥh – Freude.

    Diese Begriffe unterscheiden nicht zwischen spirituellem, sozialem und materiellem Wohlergehen. Die alttestamentliche Anthropologie kennt keine Unterscheidung von Körper und Seele, von innerem und äußerem Menschen. Wohl gibt es aber die Strömungen, die angesichts der Vergänglichkeit des Menschen Gott allein als Ermöglichungsgrund allen Glücks sehen (Ps 146,5Wohl dem, dessen Hilfe der Gott Jakobs ist,der seine Hoffnung setzt auf den Herrn, seinen Gott,Zur Bibelstelle) und Glück als aus einer heilvollen Gottesbeziehung heraus entstehend (Jes 61,10Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt.Zur Bibelstelle). Glück kann aber auch ganz weltlich, bodenständig gedacht werden in Verbindung mit Wohlstand (Ps 112,1Halleluja!Wohl dem, der den Herrn fürchtet,der große Freude hat an seinen Geboten!Zur Bibelstelle), Familie, Gesundheit, militärischer Sicherheit (Dtn 33,29Wohl dir, Israel! Wer ist dir gleich? Du Volk, das sein Heil empfängt durch den Herrn, der deiner Hilfe Schild und das Schwert deines Sieges ist! Deine Feinde werden dir schmeicheln, und du wirst auf ihren Höhen einherschreiten.Zur Bibelstelle) o. ä.

    3.2. Neues Testament (NT)

    In der Basisbibel kommt der Begriff „Glück“ häufiger vor, in anderen deutschen Übersetzungen des NT kaum. Im Umfeld von „Glück/glücklich“ zu verorten: hêdonê – Lust; euangelízomai – sich freuen; euodóomai – wohlergehen; eirênê – Frieden; eudokéō/ eudokía – Wohlgefallen; eulogéō/ eulogía – Lob; makarios – selig; dektos – angenehm; sōtêría – Rettung.

    Vorstellungen von Glück im NT beziehen sich überwiegend auf die Gottesbeziehung und auf die Verkündigung des Evangeliums. Ein rein materielles, innerweltliches Glück ist dem NT fremd.7Vgl. Marquart, Oliver, Glück in der Bibel. Will Gott, dass wir in dieser Welt glücklich sind?, 21.10.2022  (https://www.sonntagsblatt.de/artikel/glaube/glueck-bibel-gott-gluecklich), abgerufen am 22.11.2025.

    Insbesondere bei Lk ist die Verkündigung, sei es durch Engel (Lk 2,9ff.;[9] Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. [10] Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; [11] denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.Zur Bibelstelle 2,14Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.Zur Bibelstelle), sei es durch Jesus selbst (Lk 4,43Er sprach aber zu ihnen: Ich muss auch den andern Städten das Evangelium predigen vom Reich Gottes; denn dazu bin ich gesandt.Zur Bibelstelle) oder durch die Apostel (Apg 13,31f.und er ist an vielen Tagen denen erschienen, die mit ihm von Galiläa hinauf nach Jerusalem gegangen waren; die sind jetzt seine Zeugen vor dem Volk.[32] Und wir verkündigen euch die Verheißung, die an die Väter ergangen ist,Zur Bibelstelle), mit großer Freude verbunden. Glück liegt auch darin, Gott zu loben und ihm zu danken, z. B. bei Tisch (Mt 14,19Und er ließ das Volk sich lagern auf das Gras und nahm die fünf Brote und die zwei Fische, sah auf zum Himmel, dankte und brach’s und gab die Brote den Jüngern, und die Jünger gaben sie dem Volk.Zur Bibelstelle) oder beim Abendmahl (1Kor 10,16Der Kelch des Segens, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi?Zur Bibelstelle). In den sog. Seligpreisungen (Mt 5,3–12[3] Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.[4] Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.[5] Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.[6] Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.[7] Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.[8] Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.[9] Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.[10] Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.[11] Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und allerlei Böses gegen euch reden und dabei lügen. [12] Seid fröhlich und jubelt; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.Zur Bibelstelle und Lk 6,21ff.[20] Und er hob seine Augen auf über seine Jünger und sprach:Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. [21] Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen. [22] Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und euch ausstoßen und schmähen und verwerfen euren Namen als böse um des Menschensohnes willen. [23] Freut euch an jenem Tage und tanzt; denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Denn das Gleiche haben ihre Väter den Propheten getan.Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgarthttps://www.die-bibel.de/bibel/LU17/LUK.6.20-LUK.6.23Zur Bibelstelle) wird Glück im Kontrast zu den äußeren, weltlichen Gegebenheiten zugesagt. Eine von Gott geschenkte Realität des Glaubens wird aufgebaut, die die herkömmlichen Bewertungsmuster von Wohlergehen und Leid durchbricht und ihnen dialektisch entgegengesetzt ist.

    Vor allem in den paulinischen und deuteropaulinischen Briefen wird die christologische Dimension des Glückes explizit. Die Glaubenden werden durch Christus gesegnet, en christō haben sie Anteil an seinem Leiden und an seiner Auferstehung (2Kor 2,3Und ebendies habe ich geschrieben, damit ich nicht, wenn ich komme, von denen traurig gemacht werde, über die ich mich freuen sollte. Habe ich doch zu euch allen das Vertrauen, dass meine Freude euer aller Freude ist.Zur Bibelstelle; 7,4Ich rede mit großem Freimut zu euch; mir wird viel Ruhm zuteil euretwegen; ich bin erfüllt mit Trost; ich habe überschwängliche Freude in aller unsrer Bedrängnis.Zur Bibelstelle.13Dadurch sind wir getröstet worden.Mehr noch als über diesen Trost aber haben wir uns gefreut über die Freude des Titus; denn sein Geist ist erquickt worden von euch allen.Zur Bibelstelle; Kol 1,24Nun freue ich mich in den Leiden, die ich für euch leide, und erfülle durch mein Fleisch, was an den Leiden Christi noch fehlt, für seinen Leib, das ist die Gemeinde.Zur Bibelstelle). So ist Leiden nicht einfach nur Leiden, sondern bedeutet Gemeinschaft mit Christus und trägt in sich seine Überwindung in der Auferstehung. Selbst im Leiden ist also der Keim des Glücks gelegt.

    In AT und NT gleichermaßen bedeutsam ist die gemeinschaftliche Dimension des Glücks. Da der Mensch im AT weniger als Individuum denn vielmehr als Teil seines Volkes in den Blick kommt, ist auch sein Glück nicht individuell zu verstehen, sondern in seiner Bedeutung für das Kollektiv. Im NT ist die Gemeinde als Gemeinschaft der sich zu Jesus Bekennenden der Ort, an dem Glück empfangen und geteilt wird (Röm 15,32damit ich mit Freuden zu euch komme nach Gottes Willen und mich mit euch erquicke.Zur Bibelstelle; Phil 4,1Also, meine lieben Brüder und Schwestern, nach denen ich mich sehne, meine Freude und meine Krone, steht fest in dem Herrn, ihr Lieben.Zur Bibelstelle; 1Thess 2,19f.[19] Denn wer ist unsre Hoffnung oder Freude oder unser Ruhmeskranz – seid nicht auch ihr es vor unserm Herrn Jesus, wenn er kommt? [20] Ihr seid ja unsre Ehre und Freude.Zur Bibelstelle) und im Gotteslob und entsprechenden Miteinander seine Ausdrucksform findet.

    4. Glücksverständnis bis zur Reformation

    4.1. Augustin

    Das theologische Nachdenken über das Glück wurde ab dem 4. Jh. n.Chr. entscheidend geprägt von Augustinus oes-gnd-iconwaiting... (354–430). Glück ist nach ihm nur losgelöst von allem Irdischen zu finden. Gott selbst hat das Verlangen nach ihm ins menschliche Herz gelegt (vgl. Confessiones, I,1: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir“8Augustinus, Aurelius, Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Otto F. Lachmann, Leipzig 1888 u. ö., I, 1.); der göttlichen Schöpfungsordnung gemäß ist der Mensch auf dieses ewige Glück hin ausgerichtet. Glückseligkeit besteht als visio beatifica in der seligen Schau Gottes im Jenseits.9Vgl. Augustinus, Aurelius, Vom Gottesstaat. Aus dem Lateinischen übersetzt von Wilhelm Thimme, eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, München 2007, XXII, 30.

    So steht jedes Nachdenken über Glück als irdisches Gut in der christlich-abendländischen Theologie seit Augustinus unter dem Verdacht des Hedonismus und der Missachtung des Reiches Gottes.

    4.2. Luther

    Die Reformation verstärkt die Skepsis gegen das irdische Glück und erschwert gleichzeitig das Nachdenken über das verheißene Heil.

    Denn ist das Heil das dem Menschen sola gratia geschenkte Gut, so wird das menschliche Streben nach Glück zum verdammenswerten Selbstrechtfertigungsversuch. Ferner wird durch Luthers oes-gnd-iconwaiting... frühe Lehre von der „resignatio ad infernum“,10Vgl. Luther, Martin, Römerbriefkommentar (1515/16), in: WA 56, 388ff. d. h. davon, dass der Mensch angesichts seiner Sündhaftigkeit keinerlei Recht auf eine ewige Glückseligkeit hat und nur einstimmen kann in Gottes Verdammungsurteil, der Fantasie über die Freuden des ewigen Lebens, die im Mittelalter aufgeblüht war, der Riegel vorgeschoben.

    Die Ethik erhält bei Luther ihren Platz im „Reich Gottes zur Linken“ und dient ausschließlich der Stabilisierung einer sozialen Ordnung, ihr Zusammenhang mit der Erlangung des Heils wird gekappt. Dennoch birgt der Glauben als solcher für Luther eine Fröhlichkeit, die er als „lieb und lust zu gott“11Vgl. Luther, Martin, Schriften 1520/21, in: WA 7, 36, 3. bezeichnen kann. Der Zusammenhang von Glücksstreben und Religion wird mit Luther also aufgelöst, nicht aber der von Glück und Glauben.

    5. Kant und die Folgen

    Im 18. Jh. setzt Immanuel Kant oes-gnd-iconwaiting... diese Linie im Zusammenhang von Glück und Ethik fort.

    Kant erkennt zwar an, dass Menschen natürlicherweise nach Glück streben, doch moralisches Handeln soll nicht aus dem Wunsch nach Glück (das auf subjektiven Neigungen basiert), sondern aus Achtung vor dem moralischen Gesetz erfolgen.12Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft (AA V), Köln 2009, 71. Im Zentrum seiner Moralphilosophie steht die Pflicht. „Wenn Eudämonie (das Glücksprincip) statt der Eleutheronomie (das Freiheitsprincip der inneren Gesetzgebung) zum Grundsatz aufgestellt wird, so ist die Folge davon Euthanasie (der sanfte Tod) aller Moral.“13Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten (AA VI), 1. Auflage 1731, Berlin 1963, 17. Die Spannung besteht also darin, dass der moralisch Handelnde zwar Glück verdient, dass er aber nicht aus diesem Motiv heraus handeln darf. Kant definiert Glückseligkeit als „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seines Daseins alles nach Wunsch und Willen geht“.14Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 16, Frankfurt a. M. 42016.

    Das höchste Gut ist für ihn „die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit“15Kant, Kritik, 110. und wird zusammengedacht mit der Idee eines gerechten Gottes im Jenseits, der sicherstellt, dass Tugend schließlich mit Glück belohnt wird – jedoch nicht als moralische Motivation, sondern als metaphysische Hoffnung.

    Die Frage nach dem Glück bzw. nach der Glückseligkeit verschwindet immer mehr aus dem deutschsprachigen philosophischen und theologischen Diskurs. Die utilitaristischen Glückskonzepte, die im 19. Jh. im anglo-amerikanischen Bereich populär werden und Glück mit Bedürfnisbefriedigung gleichsetzen, verschärfen diesen Trend. Die Philosophie im alten Europa empfindet das als Verflachung, ohne dem etwas entgegensetzen zu können.16Vgl. Lauster, Jörg, Gott und das Glück. Das Schicksal des guten Lebens im Christentum, Gütersloh 2004, 113f.

    6. Theologische Neuansätze für ein christliches Glück

    Eine neue Bestimmung des Glücksbegriffes muss nicht nur mit dem Utilitarismus, sondern auch mit der wachsenden Individualisierung und Subjektivierung des Glücksbegriffs umgehen. Schließlich erfordern die historischen Katastrophen des 20. Jhs. eine ganz neue theologische Reflektion über die Möglichkeit und Erreichbarkeit von Glück, die nur sehr zaghaft in Gang kommt.

    6.1. Dietrich Bonhoeffer

    Ohne dass er sich explizit dem Thema „Glück“ gewidmet hätte, hat Dietrich Bonhoeffer oes-gnd-iconwaiting... einen interessanten Neuansatz im theologischen Nachdenken über das Glück ermöglicht. Er zeigt einen Weg jenseits der Dichotomie von irdischem Glück und verheißenem Heil. In der „Ethik“17Vgl. Bonhoeffer, Dietrich, Ethik (DBW 6), Gütersloh 22006. prägt er den Begriff der „Christuswirklichkeit“, in der „Weltwirklichkeit“ und „Gottes Wirklichkeit“ gleichermaßen gegenwärtig sind. Ein Leben in der Christuswirklichkeit führt weder zu Weltabgewandtheit noch zu Hedonismus, sondern zu einem verantwortungsvollen, d. h. im Dienst des Reiches Gottes stehenden Sein in der Welt. „Mit dem Wirklichkeitsbegriff sucht Bonhoeffer ein Jenseits von Sollen und Sein, Idealismus und Positivismus, Normethik und Sozialethik, Naturrecht und Rechtspositivismus Gegebenes zu finden.“18Moltmann, Jürgen, Gemeinde im Horizont der Herrschaft Christi. Neue Perspektiven protestantischer Theologie, Neukirchen 1959, 41. Eine solche Wirklichkeit in der Versöhnung der Gegensätze, in der Übereinstimmung mit sich selbst, mit dem Mitmenschen, mit der Gesellschaft, mit Gott birgt Glück.

    Dieses Glück ist für Bonhoeffer oes-gnd-iconwaiting... in der Kirche erfahrbar und gestaltbar, als Teilhabe an der Wirklichkeit Gottes inmitten der Wirklichkeit der Welt. Es ist nicht ausschließlich auf das Reich Gottes ausgerichtet, sondern auch ganz weltlicher Selbstzweck. Diesen Gedanken vertieft Bonhoeffer in seinen Briefen aus der Haft anhand der Unterscheidung von Letztem und Vorletztem. Die Ausrichtung auf das Letzte gibt dem jetzigen Leben eine besondere Würde: sie befreit dazu, die Welt in ihrer Schönheit und in ihrer Not umso intensiver wahrzunehmen und zu nutzen, gerade weil sie nicht beliebig ist, sondern eine durch das Letzte begrenzte Welt. So eröffnet Bonhoeffer den Raum für ein rein säkulares Glück und Glücksstreben, das aber im österlichen Glauben in ein neues Licht getaucht wird. In diesem Licht ist auch das Leid beschienen und wird damit aufgenommen in das umfassende Glück der Christuswirklichkeit. „Schon richtet sich unser Blick auf das Letzte, aber noch haben wir unsere Aufgaben, unsere Freuden und unsere Schmerzen, auf dieser Erde und die Kraft des Lebens ist uns durch Ostern zuteil.“19Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (DBW 8), Gütersloh 1998, 379. (10.04.1944).

    6.2. Glück und Glaube

    Einzelne Ansätze versuchen in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. eine theologische Neudefinition von Glück. Dorothee Sölle oes-gnd-iconwaiting... z. B. erkennt in der Furchtlosigkeit Jesu, in seiner vollständigen Integration von Über-Ich und Es sowie in seiner Bereitschaft zu teilen ein tiefes Glück, daher sieht sie Jesus als „den glücklichsten Menschen, der jemals gelebt hat.“20Sölle, Dorothee, Phantasie und Gehorsam. Überlegungen zu einer künftigen christlichen Ethik, Stuttgart 71976, 64.

    Nach der Jahrtausendwende entsteht angesichts der Marginalisierungstendenzen von Kirche, angesichts der globalen Herausforderungen und Bedrohungen ein neues theologisches Bemühen, die Relevanz von Glauben für ein glückliches Leben zu reflektieren und die eingangs erwähnten Spannungsfelder neu auszuloten. Zwei Motive treten in den neueren Reflexionen in den Vordergrund:

    • Die Ahnung des Transzendenten: Glück kann gedeutet werden als der „Überschuss“, der den Menschen über diese Welt hinausweist und ihm vergegenwärtigt, dass er seine Erfüllung nicht nur in dieser Welt findet. So sieht z. B. Jörg Lauster oes-gnd-iconwaiting... die Aufgabe einer theologischen Glückslehre darin, „an diesen Bezug zu einer letzten, den Menschen übersteigenden und doch das Leben prägenden Wirklichkeit zu erinnern“21Lauster, Jörg, Gott und das Glück. Das Schicksal des guten Lebens im Christentum, Gütersloh 2004, 190. und den „Überschuss als das Aufleuchten göttlicher Gegenwart in der Welt“22Lauster, Jörg, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2020, 13. verstehen zu helfen.
      Dem korrespondiert eine hohe Bedeutung des Themas „Dankbarkeit“ im aktuellen theologischen Glücksdiskurs. Eine Haltung der Dankbarkeit, die das Leben versteht als Geschenk aus Gottes Güte, ist glückvoll.23Vgl. Domradio.de, „Jeder Sonnenstrahl ist ein Geschenk“, 20.03.2024 (https://www.domradio.de/artikel/gluecksforscher-sieht-verbindung-zwischen-glueck-und-glaube), abgerufen am 22.11.2025. Dankbarkeit steht der Gleichgültigkeit, der Resignation und dem inneren Rückzug entgegen. In dieser Hinsicht ist sie verschwistert mit der Klage, die gegen den Schmerz nicht abstumpft, ihn nicht ignoriert und auch nicht in sich hineinfrisst, sondern ihn vor Gott ausschüttet. Klage ermöglicht somit die Erfahrung, das Leid adressieren zu können, statt an ihm zu zerbrechen. Das wiederum birgt die Ahnung eines Glücks, das weit jenseits der Frage nach einem gelingenden Leben liegt.24Vgl. Frank, Helmut, Neues Buch von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm. Macht der Glaube glücklich?, 26.06.2022 (https://www.sonntagsblatt.de/artikel/glaube/neues-buch-von-landesbischof-heinrich-bedford-strohm-macht-der-glaube-gluecklich), abgerufen am 22.11.2025. So stellen Klage und Dank das Leben vor einen das eigene Leben übersteigenden Horizont und machen es durchlässig für glück-ahnende Transzendenzerfahrungen.25Vgl. Lauster, Jörg, Glück in der Religion, in: Richter, Cornelia (Hrsg.), Gutes Leben. Fragile Vielfalt zwischen Glück, Vertrauen, Leid und Angst, Würzburg 2014, 77–99.
    • Der Umgang mit Unvollkommenheit und Endlichkeit: Die Einsicht, dass dem Menschen eine vollkommene Lebensführung nicht gelingen wird und dass unter den Bedingungen von Endlichkeit ein vollkommenes Glück nicht zu erreichen ist, führt zur Entwicklung des Konzepts der „gelingenden Unvollkommenheit“26Hofmann, Matthias et al. (Hrsg.), Gelingende Unvollkommenheit. Glück als Herausforderung der Ethik, Leipzig 2025, 8. als ein neues ethisches Leitprinzip, das in den Spannungsfeldern des Glücks immer wieder neu durchbuchstabiert werden muss.27Großhans, Hans-Peter, Vom Glück eines guten Lebens. Über Glückserwartungen des Gottesglaubens und menschlichen Perfektionismus, in: Krüger, Malte/Schlenke, Dorothea (Hrsg.), Glück und Gott? Zur Hermeneutik des guten Lebens, Leipzig 2025, 81–100, 81.
      Dabei ist schon die Einsicht selbst, dass vollkommenes Glück trotz seiner medial suggerierten Greifbarkeit nicht gelebt und wohl noch nicht einmal gedacht werden kann, ein Schritt auf dem Weg des unvollkommenen Glücks unter den Bedingungen von Endlichkeit. Die Risse der Unvollkommenheit geben wiederum Raum für die Ahnung dessen, was unsere Endlichkeit übersteigt und umfängt und damit für einen Widerschein von Glück.

    Weiterführende Literatur

    Bindseil, Christiane, Es ist das Ja zum Glück. Ein theologischer Entwurf im Gespräch mit Bonhoeffer und Adorno, Neukirchen 2011.

    Claussen, Johann Hinrich, Glück und Gegenglück. Philosophische und theologische Variationen über ein alltägliches Thema, Tübingen 2005.

    Großhans, Hans-Peter, Vom Glück eines guten Lebens. Über Glückserwartungen des Gottesglaubens und menschlichen Perfektionismus, in: Krüger, Malte/Schlenke, Dorothea (Hrsg.), Glück und Gott? Zur Hermeneutik des guten Lebens, Leipzig 2025, 81–100.

    Hofmann, Matthias et al. (Hrsg.), Gelingende Unvollkommenheit. Glück als Herausforderung der Ethik, Leipzig 2025.

    Lauster, Jörg, Gott und das Glück. Das Schicksal des guten Lebens im Christentum, Gütersloh 2004.

    Lauster, Jörg, Glück in der Religion, in: Richter, Cornelia (Hrsg.), Gutes Leben. Fragile Vielfalt zwischen Glück, Vertrauen, Leid und Angst, Würzburg 2014, 77–99.

    Lauster, Jörg, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2020.

     

    Einzelnachweise

    • 1
      Vgl. Aristoteles, Eudemische Ethik. Übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier, Darmstadt 31979; ders., Nikomachische Ethik. Übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier, Anmerkungen von Ernst A. Schmid, Stuttgart 2003, 1097b22.
    • 2
      Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095a23f.
    • 3
      Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095a26.
    • 4
      Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1097a34; b20.
    • 5
      Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1098a16.
    • 6
      Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1177a17ff.
    • 7
      Vgl. Marquart, Oliver, Glück in der Bibel. Will Gott, dass wir in dieser Welt glücklich sind?, 21.10.2022  (https://www.sonntagsblatt.de/artikel/glaube/glueck-bibel-gott-gluecklich), abgerufen am 22.11.2025.
    • 8
      Augustinus, Aurelius, Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Otto F. Lachmann, Leipzig 1888 u. ö., I, 1.
    • 9
      Vgl. Augustinus, Aurelius, Vom Gottesstaat. Aus dem Lateinischen übersetzt von Wilhelm Thimme, eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, München 2007, XXII, 30.
    • 10
      Vgl. Luther, Martin, Römerbriefkommentar (1515/16), in: WA 56, 388ff.
    • 11
      Vgl. Luther, Martin, Schriften 1520/21, in: WA 7, 36, 3.
    • 12
      Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft (AA V), Köln 2009, 71.
    • 13
      Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten (AA VI), 1. Auflage 1731, Berlin 1963, 17.
    • 14
      Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 16, Frankfurt a. M. 42016.
    • 15
      Kant, Kritik, 110.
    • 16
      Vgl. Lauster, Jörg, Gott und das Glück. Das Schicksal des guten Lebens im Christentum, Gütersloh 2004, 113f.
    • 17
      Vgl. Bonhoeffer, Dietrich, Ethik (DBW 6), Gütersloh 22006.
    • 18
      Moltmann, Jürgen, Gemeinde im Horizont der Herrschaft Christi. Neue Perspektiven protestantischer Theologie, Neukirchen 1959, 41.
    • 19
      Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (DBW 8), Gütersloh 1998, 379.
    • 20
      Sölle, Dorothee, Phantasie und Gehorsam. Überlegungen zu einer künftigen christlichen Ethik, Stuttgart 71976, 64.
    • 21
      Lauster, Jörg, Gott und das Glück. Das Schicksal des guten Lebens im Christentum, Gütersloh 2004, 190.
    • 22
      Lauster, Jörg, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2020, 13.
    • 23
      Vgl. Domradio.de, „Jeder Sonnenstrahl ist ein Geschenk“, 20.03.2024 (https://www.domradio.de/artikel/gluecksforscher-sieht-verbindung-zwischen-glueck-und-glaube), abgerufen am 22.11.2025.
    • 24
      Vgl. Frank, Helmut, Neues Buch von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm. Macht der Glaube glücklich?, 26.06.2022 (https://www.sonntagsblatt.de/artikel/glaube/neues-buch-von-landesbischof-heinrich-bedford-strohm-macht-der-glaube-gluecklich), abgerufen am 22.11.2025.
    • 25
      Vgl. Lauster, Jörg, Glück in der Religion, in: Richter, Cornelia (Hrsg.), Gutes Leben. Fragile Vielfalt zwischen Glück, Vertrauen, Leid und Angst, Würzburg 2014, 77–99.
    • 26
      Hofmann, Matthias et al. (Hrsg.), Gelingende Unvollkommenheit. Glück als Herausforderung der Ethik, Leipzig 2025, 8.
    • 27
      Großhans, Hans-Peter, Vom Glück eines guten Lebens. Über Glückserwartungen des Gottesglaubens und menschlichen Perfektionismus, in: Krüger, Malte/Schlenke, Dorothea (Hrsg.), Glück und Gott? Zur Hermeneutik des guten Lebens, Leipzig 2025, 81–100, 81.
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