Gleichheit

Wachsende Ungleichheit ist zu einem nicht mehr zu verdrängenden sozialen, gesellschaftlichen wie politischen Phänomen geworden, deren ökonomische und soziologische Hintergründe in den globalisierten Zusammenhängen spätmoderner Gesellschaften zunehmend ins Bewusstsein treten. Dabei werden diese Debatten um Gleichheit und Gerechtigkeit durch Diversity- und Identitätsdebatten noch angeschärft, wie sie in den Kulturwissenschaften sowie in den Gender-, Migrations- und Inklusionsdiskursen vorangetrieben werden. Kann es sein, dass gerade im Bestreben Gleichheit herzustellen, Identitäten verletzt oder missachtet werden? Offensichtlich muss Gleichheit nicht allein gerechtigkeitstheoretisch, sie muss auch identitäts- und differenztheoretisch reflektiert werden.[i] Doch welche Denkkategorien bieten sich dafür an?

[i] Grümme, Bernhard, Öffentliche Politische Theologie. Ein Plädoyer, Freiburg i. Br. 2023, 122–185.

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    Anmerkung der Redaktion
    Dieser Artikel wurde im Wissenschaftlich-Religionspädagogischen Lexikon (WiReLex) erstveröffentlicht: Grümme, Bernhard, Art. Gleichheit, in: WiReLex, 2018 (https://doi.org/10.23768/wirelex.Gleichheit.200353).

    1. Terminologische Klärungen

    Gleichheit ist ein schillernder Begriff, ein „populäres, aber rätselhaftes“ Ideal.1Dworkin, Ronald, Was ist Gleichheit?, Berlin 2014, 7. Er ist abzugrenzen von Identität, Ähnlichkeit und Verschiedenheit. Gleichheit ist zunächst und vor allem eine Beziehung zwischen mehreren Entitäten, die voneinander verschieden sind. Gleich sind sie in einer bestimmten Hinsicht, im Blick auf andere Merkmale sind sie unterschiedlich. Ähnlich wären Entitäten, wenn es eine annähernde Übereinstimmung geben würde, identisch wären sie, wenn es eine volle Übereinstimmung in allen Merkmalen geben würde. Gleichheit bezeichnet also die „Ununterscheidbarkeit verschiedener Objekte in einer bestimmten Hinsicht, gemessen an einem bestimmten Standard. ‚Gleichheit’ liegt also zwischen ‚Identität’ (Ununterscheidbarkeit in jeder Hinsicht) und ‚Ähnlichkeit’ (Fast-Identität in einer bestimmten Hinsicht“).2Krebs, Angelika, Einleitung. Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, in: Krebs, Angelika (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt a. M. 2000, 7–37, 10. Verschiedenheit ist demnach die Voraussetzung von Gleichheit, die nur in Relationen zu verstehen ist. Gleichheit ist kein absoluter Begriff, der losgelöst von anderen Verhältnissen bestimmbar wäre. Die „Equality-of-What-Debatte“ fragt danach, auf welchem Feld Gleichheit bedacht wird (der Ressourcen, der Grundgüter, Befähigung, Freiheit, etc.).3Vgl. Krebs, Einleitung, 11–13. Fünf Gleichheitsprinzipien können differenziert werden:

    1. Formale Gleichheit (Gleiches gleich, Ungleiches ungleich behandeln);
    2. Proportionale Gleichheit (alle Personen im Verhältnis zu dem, was ihnen zukommt, gleich behandeln);
    3. Moralische Gleichheit (Gleichwürdigkeit jeder Person; Behandlung der Personen als Gleiche);
    4. Präsumption der Gleichheit (Gleichheit hat Vorrang von Ungleichheit) und
    5. Verantwortungsprinzip (Maßstäbe egalitärer Verteilung werden autonom deliberativ entwickelt).4Vgl. Gosepath, Stefan, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt a. M. 2004, 117–199.

    In dieser Relationalität eignet dem Gleichheitsbegriff somit eine deskriptive wie präskriptive Bedeutung: deskriptiv, als hier rein beschreibend ein Merkmal festgehalten wird (Beispiel: zwei Menschen bekommen das gleiche Gehalt); präskriptiv, als vor dem Hintergrund eines gesetzten normativen Maßstabes ein Urteil gefällt und eine Bewertung vorgenommen wird, wie mit den Menschen verfahren werden soll, die unter diese Norm fallen.5Vgl. Dworkin, Gleichheit, 7.

    Damit wird jedoch ein intrinsischer Zusammenhang der Gleichheit mit einer anderen Kategorie sichtbar, ohne den sie nicht verständlich ist: die Gerechtigkeit.6Vgl. Forst, Rainer, Die noumenale Republik. Kritischer Konstruktivismus nach Kant, Berlin 2021, 151–235. Sie ermöglicht erst eine Spezifizierung im Gleichheitsbegriff. Jede Abweichung einer Gerechtigkeitstheorie vom Gleichheitspostulat wäre vor diesem Gleichheitsbegriff zu rechtfertigen. Gleichheit würde demnach begrifflich mit Gerechtigkeit zusammenhängen, weil ohne die Prinzipien der formalen und proportionalen Gleichheit Gerechtigkeit nicht zu bestimmen ist. Moralische Gleichheit stellt nach moderner Gerechtigkeitstheorie das entscheidende Prinzip distributiver Gerechtigkeit dar. Hat demnach die Gleichheit als der „Inbegriff“ und „Prüfstein der Gerechtigkeit“ zu gelten?7Vgl. Gosepath, Gerechtigkeit, 113–210.

    Dem scheinen andere Gesichtspunkte entgegenzustehen. Es gibt offensichtlich Fälle, in denen Mitleid, Empathie im Vordergrund stehen und nicht das Prinzip der Gleichheit. Der Anblick eines leidenden Menschen ruft Mitgefühl und Solidarität hervor. Nicht ein abwägendes Prinzip, sondern der Einzelfall wird wichtig. Wie aber steht das Gleichheitsprinzip zu diesem Einzelfall? Gibt es nicht auch Fälle, in denen dezidierte Ungleichbehandlung gerecht sein kann? Erfordert dies gar den Bruch mit der Dominanz des Gleichheitstheorems? Offensichtlich gerät der Gleichheitsbegriff im Hinblick auf das Besondere und Partikulare an seine Grenzen. Ein Differenzierungsbedarf wird offenkundig, der uns mitten in die „Warum-Gleichheit?-Debatte“ hineinführt.8Vgl. Gosepath, Gerechtigkeit, 111.

    2. Zwischen Egalitarismus, Non-Egalitarismus und egalitärer Differenz. Konzeptionelle Überlegungen

    Im Wesentlichen geht es in dieser Debatte um den Streit zwischen Egalitaristen und Non-Egalitaristen. Deren zentraler Ort sind die komplexen Diskussionen der Gerechtigkeitstheorien. Egalitaristen sind (losgelöst von inneren Differenzierungen, die mit philosophischen, weltanschaulichen und religiösen Hintergrundannahmen zu tun haben) der Auffassung, dass Gerechtigkeit nie ohne Vergleich und damit nie ohne einen Gleichheitsmaßstab auskommt.9Vgl. Gosepath, Gerechtigkeit, 110–114, 447–460; Forst, Republik, 97–268. Ronald Dworkin oes-gnd-iconwaiting..., John Rawls oes-gnd-iconwaiting... oder Jürgen Habermas oes-gnd-iconwaiting... haben mit unterschiedlicher Stoßrichtung eine gleichheitsbezogene Gerechtigkeitstheorie entwickelt.10Vgl. Grümme, Bernhard, Bildungsgerechtigkeit. Eine religionspädagogische Herausforderung, Stuttgart 2014; Grümme, Theologie, 137–185.

    Aber muss Gerechtigkeit immer am Maßstab der Gleichheit ausgerichtet sein? Für Martha Nussbaum oes-gnd-iconwaiting... steht eine Sockelgerechtigkeit, die mit der Gegebenheit bestimmter Güter zu tun hat, im Vordergrund, für Michael Walzer oes-gnd-iconwaiting... sind es bestimmte Sphären der Gerechtigkeit, die jeweils den Ausschlag für die Bestimmung von Gerechtigkeit geben, für den Libertarianismus Robert Nozicks oes-gnd-iconwaiting... ist es die Fokussierung auf negative Freiheit, für Charles Taylors oes-gnd-iconwaiting... Kommunitarismus bildet ein gemeinschaftlich geteiltes Leben den Inbegriff von Gerechtigkeit. Wie auch immer die Akzentsetzungen sind: Der Non-egalitarismus misst nicht dem Gleichheitsprinzip zentralen Wert zu, auch wenn Gleichheit durchaus als sekundäres Phänomen ins Spiel kommt. „Er versteht Gerechtigkeit vielmehr wesentlich über absolute Standards“11Krebs, Einleitung, 30. der exemplarisch genannten Art.

    Im Rahmen einer kritischen Beurteilung spricht Vieles für diesen Non-Egalitarismus. Ist es nicht zentral, so Harry Frankfurt oes-gnd-iconwaiting..., dass Menschen ein gutes Leben führen? Nicht formale Gleichheit an Chancen, an Ressourcenverteilungen, sondern substantielle Bestimmungen sind für ein moralisches Leben wichtig.12Vgl. Frankfurt, Harry, Gleichheit und Achtung, in: Krebs, Angelika (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt a. M. 2000, 38–49, 41. Ist nicht ein solches formales Prinzip im Zusammenhang der Verteilungsgerechtigkeit mit der demütigenden Erfahrung verbunden, nicht als Subjekt mit Rechten und Würde, sondern nur als Empfänger gesehen zu werden?13Vgl. Margalit, Avishai, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin 2012. Im Gegensatz zu einer apriorisch-konstruktiv verfahrenden Gerechtigkeitstheorie in kantianischer Tradition rekonstruiert die Anerkennungstheorie Axel Honneths oes-gnd-iconwaiting... in bereits vorhandenen Anerkennungsbeziehungen und Strukturen jene Geltungsbedingungen und Kategorien von Gerechtigkeit, die „als Normen der wechselseitigen Wertschätzung und Rücksichtnahme immer schon wirksam sind“.14Honneth, Axel, Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Berlin 2010, 72. Sie will noch vor den gleichen Rechten der Subjekte deren Anerkennungsbeziehungen auf den Feldern des Privaten, des Rechts und der Gesellschaft würdigen und dies in unterschiedlichen Anerkennungsformen von Liebe, Respekt und Solidarität zur Geltung bringen. Die Ausrichtung am Maßstab formaler Gleichheit würde diese grundlegenden Anerkennungsformen und damit die je spezifischen identitätsstiftenden Lebensformen unterlaufen.15Vgl. Honneth, Ich.

    Ein gravierender Vorteil einer non-egalitaristischen Position ist demnach die Möglichkeit, damit die jeweiligen Individuen in ihrer besonderen Situation als Subjekte mit eigener agency und eigenem Recht zu würdigen. So nimmt es nicht wunder, dass diese Position in den Identitätspolitiken eine große Rolle spielt, in denen es um die Rechte von Frauen, von Schwulen, von Behinderten geht. Denn strikte Gleichheit, so der Vorwurf, führe zu Gleichmacherei, Nivellierung und Uniformität und negiere Pluralität und Differenz. Sie führe zu einer Dementierung oder gar „Hierarchisierung von Unterschieden“. Sie fördere die Anpassung „an eine vorherrschende und eigentlich problematische ‚männliche’, ‚weiße’ oder ‚bürgerliche’ Norm“. So entstehe Ungleichheit und Herrschaft eher „aus der Unfähigkeit, Unterschiede zu erkennen, anzuerkennen und zu pflegen“16Gosepath, Gerechtigkeit, 197. als aus fehlender Gleichheit. Genau dies aber bestreitet Nancy Fraser oes-gnd-iconwaiting.... In ihrer Auseinandersetzung über Gleichheit und Anerkennung mit Honneth wirft sie ihm eine kulturalistische Verengung vor.17Vgl. Fraser, Nancy/Honneth, Axel (Hrsg.), Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt a. M. 2003. Wohl würdige er in seiner Anerkennungstheorie die verschiedenen Formen von Vielfalt und Differenz und sei darum im Kontext des Multikulturalismus durchaus aussagekräftig. Damit könne er das Ringen um die Identität unterschiedlicher sozialer und kultureller Bewegungen, von Schwulen und Lesben, von Minderheitengruppierungen bis hin zu religiösen Subkulturen, um Gender, Queer und Multikulturalität reflexiv wie analytisch erfassen. Aber die für die Konstituierung von Differenz mitverantwortliche Frage von Gleichheit würde abgeschattet. Andererseits würde jedoch auch eine Fixierung auf eine rein egalitäre Distributionstheorie der Vielfältigkeit der gerechtigkeitsrelevanten Phänomene nicht gerecht werden. „Man führe sich den Fall des afroamerikanischen Wall Street Bankers vor Augen, den einfach kein Taxifahrer mitnehmen will. Um auch solche Fälle berücksichtigen zu können, muss eine Theorie der Gerechtigkeit über die Verteilung von Rechten und Gütern hinausgehen, um auch institutionalisierte Schemata kultureller Bewertung berücksichtigen zu können.“18Fraser, Nancy, Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspolitik. Umverteilung, Anerkennung und Beteiligung, in: Fraser, Nancy/Honneth, Axel (Hrsg.), Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt a. M. 2003, 13–128, 52. Eine gerechte Güterverteilung reicht nicht hin, um Effekte mangelnder Anerkennung auszugleichen. Nicht weniger problematisch jedoch ist die Reduzierung auf die gegenteilige Perspektive. Nicht jede Art ökonomischer Benachteiligung ist „ein Nebenprodukt mangelnder Anerkennung. Man führe sich nur den Fall eines sachkundigen, weißen und männlichen Industriearbeiters vor Augen, der deshalb arbeitslos wird, weil seine Fabrik infolge einer riskanten Firmenfusion geschlossen wird“.19Fraser, Gerechtigkeit, 53. Hier wird weniger mangelnde Anerkennung als vielmehr das systemische, auf Ungleichheit zentrierte Gefüge von kapitalistischen Akkumulationsprozessen wirksam, das eine reine Anerkennungstheorie nicht erfassen kann. So hat Stefan Gosepath oes-gnd-iconwaiting... herausgearbeitet, dass der Gleichheitsgrundsatz die beste Grundlage ist für die Rechtfertigung und Bestimmung derjenigen Maßnahmen, um jede Person mit der ihr gebührenden Achtung und Respekt zu behandeln.20Vgl. Gosepath, Gerechtigkeit, 98–107. Damit kristallisiert sich eine eigentümliche Dialektik im Gleichheitsbegriff heraus. Er bleibt vor allem gerechtigkeitstheoretisch unverzichtbar. Doch muss er sensibel sein für Differenzen, für Pluralität. Egalität und Unterschiedlichkeit, Gleichheit und Differenz sind so zusammenzudenken, dass beide als Kategorien wirksam und in ihrer wechselseitigen hermeneutischen wie normativen Kraft zur Geltung kommen können. Genau eine solche Spannung hat Annedore Prengel oes-gnd-iconwaiting... auf den Begriff „Egalitäre Differenz als gleiche Freiheit“ gebracht.21Prengel, Annedore, Heterogenität oder Lesarten von Freiheit und Gleichheit in der Bildung, in: Koller, Hans-Christoph et al. (Hrsg.), Heterogenität. Zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts, Paderborn 2014, 45–68, 54. Freiheit und Gleichheit, Ungleichheit und Differenz bezieht sie streng aufeinander.22Prengel, Annedore, Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, Wiesbaden 32006, 47; Walgenbach, Katharina, Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erziehungswissenschaft, Opladen/Toronto 2014, 22. Differenz soll Kategorien der Gleichheit aufnehmen und von dort her verstehen. Anerkennung von Minderheiten wäre demnach beschränkt, würde sie sich nur auf den kulturellen, religiösen oder ethischen Status konzentrieren und die sozial-ökonomischen Lebensverhältnisse außer Betracht lassen. Zugleich aber soll Gleichheit durch Kategorien der Differenz vor vereinheitlichenden, subsummierenden, also Heterogenität schwächenden Kategorien geschützt werden.23Vgl. Prengel, Pädagogik, 64–167.

    3. Menschenwürde. Theologische Eröffnungen

    Es leuchtet intuitiv ein, dass diese Debatten um Gleichheit, Gerechtigkeit und Differenz eine theologische Tiefendimension haben. Von einer Theologie der Gottesebenbildlichkeit her wird die axiomatische Bedeutung der Gleichheit jedes Menschen vor Gott als normativer Horizont markiert, der zugleich für Fragen der Gerechtigkeit und – etwa in (religions-)pädagogischer Wendung – für ein allgemeines Menschenrecht auf Bildung relevant ist.24Vgl. Grümme, Bildungsgerechtigkeit; Grümme, Bernhard, Praxeologie. Eine religionspädagogische Selbstaufklärung, Freiburg i. Br. 2021, 147–169; Schweitzer, Friedrich, Menschenwürde und Bildung. Religiöse Voraussetzungen der Pädagogik in evangelischer Perspektive, Zürich 2011.

    Indem Gott die Menschen der Zuwendung als verantwortliche Geschöpfe und rechtfertigungsbedürftige Sünder würdigt, kommt dem Menschen ein besonderer Status zu, der als zugesprochene Würde verstanden werden kann. Hinsichtlich dieser Würde sind alle Menschen in der Tat gleich, auch wenn sie sich als Individuen ansonsten in allen möglichen Aspekten unterscheiden. Aus dieser Würde aber folgt das Recht, als Person angesprochen zu werden, das jedem Menschen in gleicher Weise zukommt.25Meireis, Torsten, Ethik des Sozialen, in: Huber, Wolfgang et al. (Hrsg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 265–330, 286.

    Da jeder Mensch Abbild Gottes ist, liegt in jedem die gottgegebene Möglichkeit, sich auf Gott hin in Freiheit und Autonomie zu entfalten. Jeder hat das Recht auf Teilhabe, auf Inklusion, auf Gestaltung des eigenen, gemeinschaftlichen wie gesellschaftlichen Lebens, auf Bildung, jeder nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten. Diese normative Bestimmung markiert dann umso mehr die theologische Dramatik von Bildungsungerechtigkeit und Ungleichheit in gesellschaftlicher wie kultureller Partizipation.26Vgl. Grümme, Praxeologie, 147–167, Grümme, Theologie, 157–241; Grümme, Bernhard, Menschen bilden? Eine religionspädagogische Anthropologie, Freiburg i. Br. 2012, 209-225.

    4. Gleichheit und Differenz. Perspektiven

    Diese theologische Perspektive eröffnet somit einen der zentralen Problemhorizonte: Offensichtlich liegt es im Gefälle eines angemessenen Gleichheitsbegriffs, ethnokulturelle, religiös-plurale, genderbezogene, inklusionstheoretische und sozio-ökonomische Gerechtigkeit gerade im Kontext spätmoderner Transformationsprozesse zusammendenken zu müssen. Die Hauptaufgabe scheint demnach begriffstheoretisch darin zu bestehen, Gleichheitsfragen mit Identitäts- und Differenzfragen zu vermitteln und dabei – angeschärft aus diskurstheoretischer Sicht – die eigenen Denkpraktiken möglicher Ausgrenzungen durch Othering und Essentialisierungen selbstreflexiv werden zu lassen. Hierzu trägt nicht nur die theologische Debatte um das Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit bei, die einen bloß formalen Gleichheitsbegriff im Interesse der Person dekonstruiert.27Vgl. Kasper, Walter, Barmherzigkeit. Grundbegriffe des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens, Freiburg i. Br. 2012; Grümme, Praxeologie, 215–220. Wichtig wäre zudem die Suche nach einer entsprechenden Denkform, die diesen Gleichheitsbegriff angesichts der aufgezeigten Fallstricke angemessen formulieren kann. Indem in solchen Fragen radikaler Gleichheit auch die Bedingungen eines partikularitäts- wie hegemonialtheoretisch reflektierten Universalismus traktiert werden müssen,28Vgl. Govrin, Jule, Universalismus von unten. Eine Theorie radikaler Gleichheit, Berlin 2025, 436–461. könnte das Konzept einer aufgeklärten Heterogenität weiterführend sein, das Gerechtigkeitsfragen und Identitätsfragen intersektional korreliert und dabei selbstreflexiv die eigene Begriffsarbeit kritisch aufzuklären versucht.29Vgl. Grümme, Bernhard, Heterogenität in der Religionspädagogik. Grundlagen und konkrete Bausteine, Freiburg i. Br. 2017, 171–358; Grümme, Theologie, 213–234.

    Weiterführende Infos WiReLex

    Weiterführende Informationen, auch in ihrer Anwendung auf den Lebensort Schule finden sich unter:

    Grümme, Bernhard, Art. Gleichheit, in: WiReLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/200353/), abgerufen am 27.03.2025.

    Notes

    • 1
      Dworkin, Ronald, Was ist Gleichheit?, Berlin 2014, 7.
    • 2
      Krebs, Angelika, Einleitung. Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, in: Krebs, Angelika (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt a. M. 2000, 7–37, 10.
    • 3
      Vgl. Krebs, Einleitung, 11–13.
    • 4
      Vgl. Gosepath, Stefan, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt a. M. 2004, 117–199.
    • 5
      Vgl. Dworkin, Gleichheit, 7.
    • 6
      Vgl. Forst, Rainer, Die noumenale Republik. Kritischer Konstruktivismus nach Kant, Berlin 2021, 151–235.
    • 7
      Vgl. Gosepath, Gerechtigkeit, 113–210.
    • 8
      Vgl. Gosepath, Gerechtigkeit, 111.
    • 9
      Vgl. Gosepath, Gerechtigkeit, 110–114, 447–460; Forst, Republik, 97–268.
    • 10
      Vgl. Grümme, Bernhard, Bildungsgerechtigkeit. Eine religionspädagogische Herausforderung, Stuttgart 2014; Grümme, Theologie, 137–185.
    • 11
      Krebs, Einleitung, 30.
    • 12
      Vgl. Frankfurt, Harry, Gleichheit und Achtung, in: Krebs, Angelika (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt a. M. 2000, 38–49, 41.
    • 13
      Vgl. Margalit, Avishai, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin 2012.
    • 14
      Honneth, Axel, Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Berlin 2010, 72.
    • 15
      Vgl. Honneth, Ich.
    • 16
      Gosepath, Gerechtigkeit, 197.
    • 17
      Vgl. Fraser, Nancy/Honneth, Axel (Hrsg.), Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt a. M. 2003.
    • 18
      Fraser, Nancy, Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspolitik. Umverteilung, Anerkennung und Beteiligung, in: Fraser, Nancy/Honneth, Axel (Hrsg.), Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt a. M. 2003, 13–128, 52.
    • 19
      Fraser, Gerechtigkeit, 53.
    • 20
      Vgl. Gosepath, Gerechtigkeit, 98–107.
    • 21
      Prengel, Annedore, Heterogenität oder Lesarten von Freiheit und Gleichheit in der Bildung, in: Koller, Hans-Christoph et al. (Hrsg.), Heterogenität. Zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts, Paderborn 2014, 45–68, 54.
    • 22
      Prengel, Annedore, Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, Wiesbaden 32006, 47; Walgenbach, Katharina, Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erziehungswissenschaft, Opladen/Toronto 2014, 22.
    • 23
      Vgl. Prengel, Pädagogik, 64–167.
    • 24
      Vgl. Grümme, Bildungsgerechtigkeit; Grümme, Bernhard, Praxeologie. Eine religionspädagogische Selbstaufklärung, Freiburg i. Br. 2021, 147–169; Schweitzer, Friedrich, Menschenwürde und Bildung. Religiöse Voraussetzungen der Pädagogik in evangelischer Perspektive, Zürich 2011.
    • 25
      Meireis, Torsten, Ethik des Sozialen, in: Huber, Wolfgang et al. (Hrsg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 265–330, 286.
    • 26
      Vgl. Grümme, Praxeologie, 147–167, Grümme, Theologie, 157–241; Grümme, Bernhard, Menschen bilden? Eine religionspädagogische Anthropologie, Freiburg i. Br. 2012, 209-225.
    • 27
      Vgl. Kasper, Walter, Barmherzigkeit. Grundbegriffe des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens, Freiburg i. Br. 2012; Grümme, Praxeologie, 215–220.
    • 28
      Vgl. Govrin, Jule, Universalismus von unten. Eine Theorie radikaler Gleichheit, Berlin 2025, 436–461.
    • 29
      Vgl. Grümme, Bernhard, Heterogenität in der Religionspädagogik. Grundlagen und konkrete Bausteine, Freiburg i. Br. 2017, 171–358; Grümme, Theologie, 213–234.

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    Grümme, Bernhard: „Gleichheit“, Version 1.0, in: Onlinelexikon Systematische Theologie, 1 May 2025. DOI: https://doi.org/10.15496/publikation-105091

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