Behinderung (dogmatisch)

Behinderung stellt nicht nur eine sozial und medizinisch relevante Erfahrung dar, sondern eröffnet einen grundlegenden theologischen Erkenntnisweg. Die Disability Theology hinterfragt zentrale Lehrstücke der Dogmatik, indem sie Konzepte wie Ganzheit, Normalität und Erlösung im Spiegel von Abhängigkeit, Beziehung und gelebter Differenzerfahrung neu interpretiert. Sie kritisiert die Gleichsetzung von Heilung mit Heil, Normativität mit Ganzheit und Autonomie mit Menschsein und erschließt stattdessen das leiblich situierte, auf Resonanz und Teilhabe angelegte Leben als Ort göttlicher Gegenwart. Dies wirft nicht nur ethische Fragen zu Inklusion, medizinischen Grenzfragen und sozialer Teilhabe auf, sondern auch systematisch-theologische: Wie lassen sich z. B. Gottesbild, Anthropologie, Christologie, Pneumatologie und Eschatologie im Licht leiblicher Vielfalt, relationaler Verwobenheit und geteilter Angewiesenheit neu denken? Die Disability Theology zeigt sich damit als interdisziplinäres, aber dogmatisch profiliertes Feld, das innerkirchlich wie ökumenisch an Relevanz gewinnt.

Inhaltsverzeichnis

    1. Behinderung als theologischer Lernort

    Behinderung ist kein statisches biologisches oder medizinisches Faktum. Sie ist vielmehr das Ergebnis sozialer, kultureller und normativer Prozesse, die bestimmen, welche Körper, Wahrnehmungen und Lebensformen als „normal“ und welche als „abweichend“ gelten. Die Dis/Ability Studies haben diesen Perspektivwechsel maßgeblich geprägt, indem sie Behinderung als gesellschaftlich konstruierten Differenzbegriffverstehen, als Schnittpunkt zwischen körperlicher Variation, gesellschaftlichen Erwartungen und symbolischen Ordnungen.1Vgl. Hirschberg, Marianne, Modelle von Behinderung, in: Waldschmidt, Anne et al. (Hrsg.), Handbuch Disability Studies, Wiesbaden 2022, 53–67.

    Diese Sichtweise fordert auch die Theologie heraus. Denn sie war und ist daran beteiligt, Normalitätsvorstellungen zu erzeugen, zu legitimieren oder infrage zu stellen, etwa in der Rede von der Gottebenbildlichkeit, von der Unversehrtheit als Zeichen des Heils oder vom erlösten Menschen als idealen Menschen. Die Dis/Ability Theology fragt daher nicht nur, was die Theologie über Behinderung sagt, sondern was sie von ihr lernen kann. In ihren stärksten Ausprägungen begreift sie Behinderung als theologischen Erkenntnisort, an dem zentrale Lehraussagen wie z. B. Gottes Macht, Christi Leib, Gnade und Erlösung systematisch neu zu durchdenken sind.

    Behinderung ist dabei nicht nur ein Thema der innerkirchlichen Seelsorge oder theologischen Anthropologie, sondern auch gesellschaftlich hoch relevant. Fragen nach Inklusion, pränataler Diagnostik, assistiertem Leben, Pflege und Teilhabe berühren medizinische, ethische und sozialpolitische Felder und verlangen nach theologischen Antworten, die über das rein pastorale hinausgehen. Gerade die Dis/Ability Theology steht deshalb im Austausch mit Pflegewissenschaften, Sozialethik, Rehabilitationsmedizin und Menschenrechtsdiskursen. Zugleich wächst ihre Bedeutung innerkirchlich und ökumenisch, etwa in liturgischen Fragen, der Ausgestaltung von Sakramenten, Berufungslehre oder im theologischen Selbstverständnis der Kirche.

    2. Modelle von Behinderung

    Zur Orientierung lassen sich verschiedene Modelle von Behinderung unterscheiden, wie sie insbesondere in den Dis/Ability Studies und sozialwissenschaftlichen Kontexten beschrieben werden.2Vgl. Hirschberg, Modelle. Sie bieten unterschiedliche Perspektiven auf Ursachen, Wirkungen und gesellschaftliche Bedingungen von Behinderung als Vereinfachungen komplexer sozialer und körperlicher Realitäten. Diese Modelle stehen nicht in Konkurrenz, sondern markieren verschiedene Deutungsrahmen, die für die theologische Reflexion relevant werden und sie zugleich herausfordern:

    • Individuelles Modell: Auch als medizinisches Modell bekannt. Es versteht Behinderung als individuelle Abweichung von einer als „normal“ gesetzten körperlichen oder geistigen Funktion. Der Fokus liegt auf Diagnose, Heilung oder Kompensation, häufig im Rahmen medizinischer oder rehabilitativer Fürsorge. Dieses Modell dominiert bis heute weite Bereiche der Gesundheitsversorgung, der Sonderpädagogik sowie kirchlicher Fürsorgepraxis.
    • Relationales Modell: Entstanden im Kontext des skandinavischen Wohlfahrtsstaats, betont es die fehlende Passung zwischen Person und Umwelt. Behinderung gilt hier als situationsabhängige Wechselwirkung, nicht als feststehende Eigenschaft. Ziel ist die Ermöglichung sozialer Teilhabe durch professionelle Unterstützung und gesellschaftliche Anpassung.
    • Soziales Modell: Entwickelt aus der britischen Behindertenbewegung, versteht es Behinderung nicht als individuelles Problem, sondern als gesellschaftlich erzeugte Einschränkung. Barrieren in Architektur, Kommunikation und Einstellung gelten als Hauptursachen. Behinderung ist hier ein Ausdruck struktureller Exklusion.
    • Menschenrechtliches Modell: Betont die Würde, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung behinderter Menschen. Es bildet die Grundlage internationaler Rechtsinstrumente wie der UN-Behindertenrechtskonvention und richtet den Blick auf gesellschaftliche Verantwortung und politische Teilhabe unabhängig von individuellen Fähigkeiten.
    • Kulturelles Modell: Untersucht, wie Behinderung durch Sprache, Bilder und kulturelle Praktiken erzeugt und repräsentiert wird. Der Fokus liegt auf diskursiven Machtverhältnissen, normierenden Vorstellungen von Körperlichkeit sowie auf symbolischen Ordnungen, die Normalität und Abweichung definieren.
    • Affirmatives Modell: Entwickelt als Ergänzung zum sozialen Modell. Es betont Behinderung als identitätsstiftende Erfahrung, die nicht notwendig negativ ist. Ziel ist ein selbstbewusster Umgang mit Beeinträchtigung, insbesondere durch kreative, kulturelle und kollektive Ausdrucksformen.
    • Minderheitenmodell: Versteht behinderte Menschen als gesellschaftlich benachteiligte Gruppe mit eigenen Rechten und kollektiver Identität. Der Fokus liegt auf Diskriminierung, politischer Vertretung und dem Kampf gegen soziale Ungleichheit in Analogie zu anderen Bürgerrechtsbewegungen.

    In theologischen Kontexten eröffnen diese Modelle unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten: Sie prägen die Wahrnehmung von Leiblichkeit, Abhängigkeit, Differenz und Teilhabe, und stehen in Wechselwirkung mit klassischen dogmatischen Begriffen wie Schöpfung, Gnade, Heil oder Vollendung. Die theologische Reflexion steht dabei vor der Aufgabe, diese Perspektiven kritisch zu sichten, konstruktiv aufzunehmen oder bewusst zu überschreiten – im Wissen um ihre je spezifischen Vorannahmen.

    3. Entwicklungslinien: Ein geschichtlicher Überblick

    Die theologische Auseinandersetzung mit Behinderung ist eingebettet in eine vielschichtige Geschichte gesellschaftlicher, medizinischer und religiöser Deutungsmuster. Über lange Zeiträume hinweg war diese Geschichte von ambivalenten Haltungen geprägt: Menschen mit Behinderungen wurden sowohl fürsorglich betreut als auch sozial ausgegrenzt, sowohl religiös interpretiert als auch institutionell diszipliniert. Die Entwicklung der Dis/Ability Theologie steht in diesem Spannungsfeld und knüpft an kritische Relektüren überlieferter dogmatischer Kategorien ebenso an wie an sozialwissenschaftliche Analysen. Eine differenzierte theologische Reflexion setzt daher die Kenntnis historischer Strukturen, Zuschreibungen und Denkfiguren voraus, die bis in gegenwärtige Diskurse hineinwirken.

    3.1 Von der Antike bis zur Moderne

    Der gesellschaftliche und kirchliche Umgang mit Menschen mit Behinderung war über weite Strecken der Geschichte durch Spannungsverhältnisse geprägt: zwischen Integration und Ausschluss, Fürsorge und Kontrolle, religiöser Deutung und sozialer Differenzierung. Ein kohärenter Begriff von Behinderung im heutigen Sinne existierte bis in das 20. Jahrhundert hinein nicht. Stattdessen wurden körperliche, geistige oder sensorische Abweichungen in einem Geflecht medizinischer, moralischer und religiöser Zuschreibungen verortet.3Vgl. Dederich, Markus, Behinderung im Wandel der Zeit. Sozial- und begriffsgeschichtliche Anmerkungen, in: Eurich, Johannes/Lob-Hüdepohl, Andreas (Hrsg.), Behinderung. Prekäre Lebenslagen als Herausforderung für Theologie und Kirche, Heidelberg/Berlin 2011, 13–34.

    In der Antike dominierten Ideale körperlicher Vollkommenheit; Menschen mit Beeinträchtigungen galten oft als defizitär, wurden jedoch teils in familiäre Strukturen eingebunden. Frühchristliche Deutungen verbanden Behinderung mit Sünde oder göttlicher Prüfung. Im Mittelalter bewegte sich die kirchliche Praxis zwischen karitativer Pflege, etwa in klösterlichen Kontexten, und theologisch begründeter Stigmatisierung.

    Mit der Frühen Neuzeit trat ein stärker funktionalisiertes Verständnis hervor, das Behinderung im Licht medizinischer, wirtschaftlicher und verwaltungstechnischer Kategorien definiert. Der entstehende Fürsorgestaat verband Rehabilitationsansätze mit Normierungslogiken, nicht zuletzt im Interesse ökonomischer Verwertbarkeit. In der Moderne verschärften sich diese Tendenzen: Menschen mit Behinderungen wurden vielfach institutionell ausgegliedert, klassifiziert und erzieherisch diszipliniert. Mit dem Nationalsozialismus erreichte diese Entwicklung ihren grausamen Höhepunkt in der systematischen Ermordung körperlich, geistig und psychisch beeinträchtigter Menschen. Unter ideologischen Konstruktionen wie „Erbkrankheit“, „minderwertiges Leben“ und dem Begriff des „lebensunwerten Lebens“ wurden sie entrechtet, ausgegrenzt und getötet.

    Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begannen einzelne kritische Stimmen, das dominierende Fürsorgemodell zu hinterfragen. Mit der Entstehung der Dis/Ability Studies in den 1970er Jahren wurde Behinderung als gesellschaftlich erzeugte Differenz sichtbar und seither zunehmend auch theologisch neu verortet.

    3.2 Deutschland: Von der Diakonie zur Dogmatik

    Im deutschsprachigen Raum war die Reflexion über Behinderung in der kirchlichen Praxis lange auf Diakonie, Seelsorge und Ethik fokussiert. Die historisch gewachsene Verzahnung von Kirche, Innerer Mission und Fürsorgewesen prägte ein Verständnis, das stark vom medizinischen Modell und einem fürsorglich-paternalistischen Blick auf Behinderung bestimmt war. Ergänzt wurde dies durch sonderpädagogisch motivierte Integrationsansätze, die häufig an implizite Normalitätsvorstellungen anschlossen.

    Seit den 1980er Jahren zeichnet sich jedoch ein Wandel ab. Angeregt durch internationale Entwicklungen, durch die Rezeption der Dis/Ability Studies und durch innerkirchliche Reflexionsprozesse öffnet sich der Diskurs zunehmend auch systematisch-theologischen Fragestellungen. Dabei verschieben sich die Perspektiven: Behinderung wird nicht mehr nur als pastoralethische Herausforderung verstanden, sondern als Anlass, grundlegende Begriffe wie Gottebenbildlichkeit, Gnade, Leiblichkeit, Gemeinschaft und Vollendung neu zu befragen.

    Autor:innen wie Ulrich Bach oes-gnd-iconwaiting..., Johannes Eurich oes-gnd-iconwaiting..., Ulf Liedke oes-gnd-iconwaiting... oder Hanna Braun oes-gnd-iconwaiting... tragen auf unterschiedliche Weise dazu bei, Behinderung nicht nur als Gegenstand diakonischer Praxis, sondern auch als theologische Perspektive zu reflektieren. Die Verbindungen zu inklusiven Ekklesiologien, zu einer relationalen Anthropologie und zu einer theologisch verantworteten Rede von Versehrtheit markieren wichtige Schritte in Richtung eines integrativen theologischen Diskurses. Damit wird deutlich: Behinderung ist nicht nur ethisch oder pastoral relevant, sondern eröffnet eine theologische Perspektive, die zentrale Lehrstücke neu befragt und systematisch-theologische Reflexionen nachhaltig herausfordert.

    3.3 Länderspezifische Entwicklungswege

    • USA: In den USA verband sich Dis/Ability Theology früh mit Impulsen der Bürgerrechtsbewegung und den Dis/Ability Studies. Im Zentrum standen die Kritik an normierenden Gesellschaftsstrukturen sowie die theologische Relektüre von Behinderung als sozial und kulturell geformter Kategorie. Theolog*innen wie Nancy Eiesland oes-gnd-iconwaiting..., Amos Yong oes-gnd-iconwaiting..., Deborah Creamer oes-gnd-iconwaiting... oder Thomas Reynolds oes-gnd-iconwaiting... entwickelten Konzepte, in denen Behinderung als Ort theologischer Erkenntnis, nicht als Gegensatz zu göttlicher Gegenwart verstanden wird. Die Erfahrung von Differenz, Abhängigkeit und Teilgabe wird hier als Ausgangspunkt für eine Neubestimmung theologischer Kategorien wie Gnade, Inkarnation oder Gemeinschaft reflektiert.
    • Großbritannien: Im Vereinigten Königreich wurden verstärkt kulturelle, relationale und spirituell-liturgische Perspektiven auf Behinderung theologisch aufgenommen. John Swinton oes-gnd-iconwaiting... und Brian Brock oes-gnd-iconwaiting... beispielsweise verstehen Behinderung als komplexe, nicht reduzierbare Wirklichkeit, die tief mit Zeitlichkeit, Beziehungsdichte und gelebter Praxis verwoben ist. Ihre Arbeiten sind stärker in pastoralen, ekklesiologischen und liturgischen Fragestellungen verankert. Behinderung wird dabei nicht primär als Gegenstand von Inklusion diskutiert, sondern als Herausforderung für eine Kirche, die sich selbst als verwundbare Gemeinschaft versteht.
    • Niederlande und skandinavische Länder: In den Niederlanden, Schweden, Norwegen und Dänemark wurden inklusive gesellschaftliche Strategien früh auch kirchlich aufgenommen. Kirche und Sozialstaat wirken vielfach zusammen an der Gestaltung barrierearmer Strukturen. Theologische Reflexionen konzentrieren sich häufig auf ethisch-diakonische Aspekte (vgl. Art. Behinderung, ethisch), etwa in Bezug auf Begegnung, Anerkennung und Teilhabe. In den Niederlanden verbindet sich dies zunehmend mit systematisch-theologischen Ansätzen – etwa in den Arbeiten von Hans S. Reinders oes-gnd-iconwaiting..., der mit seiner Theologie der Gabe, der Präsenz und der Angewiesenheit (vgl. Art. Abhängigkeit) eine theologische Anthropologie entfaltet.

    4. Theologische Perspektiven: Behinderung als dogmatischer Lernort

    Dis/Ability Theology verändert klassische Lehrstücke der Dogmatik grundlegend, indem sie sie aus der Perspektive gelebter Versehrtheit neu deutet. Versehrtheit, Angewiesenheit, Relation und Präsenz werden dabei nicht als Defizite, sondern als theologische Grundkategorien erschlossen.

    • Gotteslehre: In der Dis/Ability Theology werden klassische Gottesvorstellungen wie Allmacht, Unveränderlichkeit oder Souveränität kritisch befragt, insbesondere dort, wo sie mit Unabhängigkeit, Kontrolle oder körperlicher Integrität verbunden werden. John Swinton oes-gnd-iconwaiting... schlägt eine Gotteslehre vor, in der göttliche Präsenz nicht in Abgrenzung zur Welt, sondern in Beziehung, Gegenseitigkeit und Begleitung verstanden wird.4Vgl. Swinton, John, Who Is the God We Worship? Theologies of Disability. Challenges and New Possibilities (IJPT 14), 273−307, 293. Gott wird nicht als distanzierte Instanz gedacht, sondern als auf Gemeinschaft hin orientiertes Gegenüber, das sich im konkreten, auch verletzlichen Leben zeigt. Diese Perspektive hinterfragt implizite Ideale von Autonomie und Unberührbarkeit und lenkt die Aufmerksamkeit auf Nähe, Ansprechbarkeit und geteilte Erfahrung als zentrale theologische Kategorien.
    • Christologie: In der Gestalt des auferstandenen Christus mit bleibenden Wundmalen (Joh 20,27Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!Zur Bibelstelle) offenbart sich Gott nicht jenseits von Verletzlichkeit, sondern inmitten leiblicher Zeichen von Ausgrenzung und Verwundung. Nancy Eiesland oes-gnd-iconwaiting... interpretiert diese Versehrtheit als theologische Selbstoffenbarung: Der „disabled God“5Eiesland, Nancy, The Disabled God. Toward a Liberatory Theology of Disability, Nashville 1994. steht nicht für eine symbolische Solidarität, sondern für eine radikale Revision christologischer Gottesvorstellung. Erlösung geschieht hier nicht durch Wiederherstellung von Normalität, sondern durch die Annahme von Differenz. Lisa Powell oes-gnd-iconwaiting... knüpft an Eieslands Ansatz an und weitet ihn trinitätstheologisch aus:6Vgl. Powell, Lisa D., The Disabled God Revisited. Trinity, Christology and Liberation, London 2023. Sie versteht göttliche Selbstmitteilung als Geschehen leiblicher Bezogenheit, geprägt von Endlichkeit, Beziehung und gegenseitiger Angewiesenheit (vgl. Art. Abhängigkeit).
    • Pneumatologie: Der Geist Gottes wird in klassischen Modellen oft an Sprache, Ausdrucksfähigkeit oder rationales Verstehen gebunden. Amos Yong oes-gnd-iconwaiting...7Vgl. Yong, Amos, Disability, the Human Condition, and the Spirit of the Eschatological Long Run. Toward a Pneumatological Theology of Disability, in: Journal of Religion, Disability & Health 11/1 (2007), 5–25. und Deborah Creamer oes-gnd-iconwaiting...8Vgl. Creamer, Deborah B., Disability and Christian Theology: Embodied Limits and Constructive Possibilities, Oxford/New York 2009. fordern demgegenüber eine Pneumatologie, die das Wirken des Geistes auch in Stille, Interaktion, Affektivität und nonverbaler Kommunikation anerkennt. Der Geist wirkt dort, wo Beziehung entsteht, Aufmerksamkeit geteilt wird und Raum für Verschiedenheit eröffnet ist. Damit wird das Wirken des Geistes nicht an bestimmte Fähigkeiten geknüpft, sondern an die Offenheit für Begegnung auch jenseits etablierter Kommunikationsformen.
    • Ekklesiologie: Die Kirche erscheint in der Dis/Ability Theology nicht als vollkommener und homogener Leib, sondern als „verwundeter Leib Christi“ (Brian Brock oes-gnd-iconwaiting...).9Vgl. Brock, Brian, Disability. Living into the Diversity of Christ’s Body. Grand Rapids 2021. Menschen mit Behinderung sind nicht Objekte der Inklusion, sondern Subjekte der Gemeinschaft. John Swinton oes-gnd-iconwaiting... unterscheidet zwischen struktureller Inklusion und existenzieller Zugehörigkeit: Die Kirche wird zur Kirche, wenn sie Räume der Repräsentation und des Teil-Seins schafft und sich dabei selbst verändert.10Vgl. Swinton, John, From Inclusion to Belonging. A Practical Theology of Community, Disability and Humanness, in: Betcher, Sharon L. et al. (Hrsg.), A Healing Homiletic. Preaching and Disability, London, 2012, 183–197 und Swinton, God. Hans Reinders oes-gnd-iconwaiting... spricht von einer Theologie der Gabe, in der Beziehung selbst zum Ort göttlicher Gegenwart wird.11Vgl. Reinders, Hans S., Receiving the Gift of Friendship. Profound Disability, Theological Anthropology, and Ethics. Grand Rapids 2008. Eine Kirche, die Menschen mit Behinderung nicht nur einbindet, sondern sich durch ihre Perspektive verwandeln lässt, wird zum Ort gelebter Anerkennung.
    • Anthropologie: Dis/Ability Theology hinterfragt anthropologische Ideale, die den Menschen primär als autonomes, rationales und leistungsfähiges Wesen bestimmen. Stattdessen betont Hans Reinders oes-gnd-iconwaiting... Angewiesensein und Beziehung als grundlegende menschliche Bedingungen, die unabhängig von Autonomie und Leistungsfähigkeit gelten.12Vgl. Reinders, Gift. Hanna Braun oes-gnd-iconwaiting... sieht in der menschlichen strukturellen Vulnerabilität den Kern der Gottebenbildlichkeit.13Vgl. Braun, Hanna, Der vulnerable Mensch als Ebenbild Gottes. Eine Grundlegung für inklusive Sprechweisen in der theologischen Anthropologie, Stuttgart 2023. Amy Jacober oes-gnd-iconwaiting... zeigt, dass die Erfahrung von Behinderung theologisch nicht marginalisiert, sondern als Erkenntnismöglichkeit ernst genommen werden muss.14Vgl. Jacober, Amy E., Redefining Perfect. The Interplay Between Theology and Disability, Eugene 2017. Anthropologie wird so zur Auseinandersetzung mit Vielfalt, Endlichkeit und sozialer Resonanz – nicht jenseits, sondern inmitten konkreter Körperlichkeit.
    • Soteriologie: Traditionell wird Heil oft mit Heilung gleichgesetzt, als Wiederherstellung von Ganzheit oder Überwindung von Defizit. Dis/Ability Theology widerspricht dieser Engführung und eröffnet alternative Verständnisse: Sharon Betcher oes-gnd-iconwaiting... deutet Heil als Transformation gesellschaftlicher Ausschlussstrukturen. In ihrer kritisch-politischen Theologie betont sie, dass Erlösung nicht individuelle „Korrektur“ bedeutet, sondern die Befähigung zur Teilhabe in einer gerechteren Gemeinschaft.15Vgl. Betcher, Sharon V., Spirit and the Politics of Disablement, Minneapolis 2007. Thomas Reynolds oes-gnd-iconwaiting... beschreibt Heil als geteilte Verletzlichkeit: Es geht nicht um die Aufhebung von Unterschiedlichkeit, sondern um Gemeinschaft, die durch gegenseitige Angewiesenheit (vgl. Art. Abhängigkeit) und Anerkennung trägt.16Vgl. Reynolds, Thomas E., Vulnerable Communion. A Theology of Disability and Hospitality, Grand Rapids 2008. Jennie Weiss Block oes-gnd-iconwaiting... versteht Erlösung als radikale Form von Gastfreundschaft, eine Zugehörigkeit, die nicht verdient, sondern geschenkt wird, und die Differenz nicht überwindet, sondern bejaht.17Vgl. Block, Jennie Weiss, Copious Hosting. A Theology of Access for People with Disabilities, New York 2002.
    • Eschatologie: Hoffnung zielt in der Dis/Ability Theology nicht auf Vollkommenheit, sondern auf bleibende Anerkennung von Differenz. Die Wundmale des Auferstandenen (Joh 20,27Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!Zur Bibelstelle) stehen exemplarisch dafür: Sie markieren nicht ein Defizit, sondern Identität, Beziehung und gelebte Geschichte. Sie bezeugen die göttliche Treue, die das konkrete Leben nicht hinter sich lässt, sondern es als Teil der erlösten Wirklichkeit bejaht. Erlösung erscheint so nicht als Rückkehr zu einem idealisierten Urzustand, sondern als Verwandlung hin zu einer Gemeinschaft, die Verschiedenheit trägt und teilt. Thomas Reynolds oes-gnd-iconwaiting... spricht in diesem Zusammenhang von einer „verletzlichen Gemeinschaft“, in der Angewiesensein nicht als Makel, sondern als tragende Struktur zwischenmenschlicher und Gott-menschlicher Beziehung verstanden wird.18Vgl. Reynolds, Thomas E., The Broken Whole. Philosophical Steps Toward a Theology of Global Solidarity, Albany 2008.

    5. Offene Fragen und aktuelle Herausforderungen

    Die Dis/Ability Theology hat zentrale dogmatische Felder neu konturiert und damit entscheidende Impulse für ein inklusiveres, beziehungsorientiertes Verständnis von Theologie gegeben. Doch die Auseinandersetzung ist nicht abgeschlossen. Vielmehr fordert sie Theologie und Kirche weiterhin heraus, ihr Menschenbild, ihre Sprache und ihre Praxis zu hinterfragen.

    Wie verändert sich das Verständnis des Menschseins, wenn nicht Autonomie und Leistungsfähigkeit, sondern Angewiesenheit (vgl. Art. Abhängigkeit), Beziehung und Verletzlichkeit als Grundbedingungen menschlicher Existenz anerkannt werden? Wie lassen sich medizinische, soziale, kulturelle und rechtliche Modelle von Behinderung theologisch differenziert aufeinander beziehen, ohne vorschnelle Harmonisierung, aber auch ohne Abwertung einzelner Perspektiven?

    Wie kann eine Theologie auf Erfahrungen reagieren, die sich einfachen Kategorisierungen entziehen – etwa psychische Erkrankungen, unsichtbare Beeinträchtigungen oder die Spätfolgen von Trauma? Welche Wege eröffnen sich für eine intersektionale Theologie, die Behinderung nicht isoliert, sondern im Zusammenspiel mit Geschlecht, Race (vgl. Art. Rassismus/Rassismuskritik), Alter oder sozialer Lage (vgl. Art. Klassismus) reflektiert?

    Und schließlich: Was bedeutet es, Kirche nicht nur als institutionell barrierefreien Raum, sondern als geistlich plurale, leiblich vielfältige und theologisch lernfähige Gemeinschaft zu denken, in der Differenz nicht als Ausnahme, sondern als konstitutives Moment von Gemeinschaft verstanden wird?

    Weiterführende Literatur

    Bach, Ulrich, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar, Neukirchen-Vluyn 2006.
    [Reflektiert die Bedeutung von Menschen mit Behinderung für eine theologische Selbstkorrektur nach 1945. Bach verbindet anthropologische Einsichten mit einer ekklesiologischen Vision inklusiver Kirche vor dem Hintergrund der NS-Vergangenheit.]

    Braun, Hanna, Der vulnerable Mensch als Ebenbild Gottes. Eine Grundlegung für inklusive Sprechweisen in der theologischen Anthropologie, Stuttgart 2023.
    [Braun entwickelt eine inklusive theologische Anthropologie, in der Vulnerabilität als Grunddimension von Gottebenbildlichkeit verstanden und im Rahmen einer relationalen Ontologie differenziert wird.]

    Brock, Brian, Wondrously Wounded. Theology, Disability, and the Body of Christ, Waco 2019.
    [Systematisch-theologische Grundlegung einer Kirche der Vielfalt. Brock versteht den Leib Christi als inklusiven Raum geistlicher Gaben jenseits normativer Vorstellungen von Perfektion.]

    Creamer, Deborah B., Disability and Christian Theology. Embodied Limits and Constructive Possibilities, Oxford 2009.
    [Einführung in eine Theologie der Begrenzung. Creamer argumentiert gegen normierende Konzepte von Ganzheit und entwickelt konstruktive theologische Alternativen.]

    Dederich, Markus, Behinderung im Wandel der Zeit. Sozial- und begriffsgeschichtliche Anmerkungen, in: Eurich, Johannes/Lob-Hüdepohl, Andreas (Hrsg.), Behinderung. Prekäre Lebenslagen als Herausforderung für Theologie und Kirche, Heidelberg/Berlin 2011, 13–34.
    [Dederich bietet in seinem Aufsatz eine sozial- und begriffsgeschichtliche Analyse des Behinderungsbegriffs. Er zeichnet die historischen Wandlungen nach und macht deutlich, wie eng gesellschaftliche und theologische Konzepte von Normalität, Defizit und Teilhabe miteinander verwoben sind.]

    Eiesland, Nancy L., The Disabled God. Toward a Liberatory Theology of Disability, Nashville 1994.
    [Ein Klassiker der Dis/Ability Theology. Eiesland stellt mit der Figur des „behinderten Gottes“ eine alternative Christologie vor, die Verwundung als Zeichen göttlicher Solidarität deutet. Die deutsche Version (Eiesland, Nancy L., Der behinderte Gott. Anstöße zu einer Befreiungstheologie der Behinderung, Würzburg 2018) ist eingeleitet von Werner Schüßler. Es empfiehlt sich, diese Einleitung wahrzunehmen.]

    Eurich, Johannes, Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung. Ethische Reflexionen und sozialpolitische Perspektiven, Frankfurt a. M. 2008.
    [Eurich analysiert kritisch die liberalen Gerechtigkeitstheorien und zeigt auf, dass diese Konzepte Menschen mit Behinderung oft unzureichend berücksichtigen. Er plädiert für ein Verständnis von Gerechtigkeit, das die spezifischen Bedürfnisse und Lebensrealitäten von Menschen mit Behinderung anerkennt und ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht.]

    Hirschberg, Marianne, Modelle von Behinderung, in: Waldschmidt, Anne et al. (Hrsg.), Handbuch Disability Studies, Wiesbaden 2022, 53–67.
    [Der Beitrag bietet eine differenzierte Einführung in zentrale Modelle von Behinderung und zeigt deren gesellschaftliche Wirkungsmacht und normative Implikationen. Für theologische Zugänge liefert er eine fundierte Basis zur Reflexion eigener Vorannahmen und zur interdisziplinären Anschlussfähigkeit.]

    Jacober, Amy E., Redefining Perfect. The Interplay Between Theology and Disability, Eugene 2017.
    [Jacober kritisiert gängige christliche Vorstellungen von Perfektion, insbesondere im Blick auf Erlösung und Leiblichkeit. Sie entwickelt eine Theologie, in der Behinderung nicht als zu überwindender Mangel gilt, sondern als Teil gelebter Gottebenbildlichkeit.]

    Powell, Lisa D., The Disabled God Revisited. Trinity, Christology and Liberation, London 2023.
    [Powell entwickelt Eieslands Bild des „disabled God“ weiter zu einer trinitätstheologischen Gotteslehre, in der Gott nicht als autonom gedacht wird, sondern als in seiner Wesensverwirklichung auf Beziehung, Inkarnation und auf ein beeinträchtigtes Menschsein hin angelegt ist.]

    Reinders, Hans S., Receiving the Gift of Friendship. Profound Disability, Theological Anthropology, and Ethics, Grand Rapids 2008.
    [Reinders entwickelt eine theologische Anthropologie, die auf Beziehung und Gegenseitigkeit basiert. Er argumentiert, dass Menschen mit schweren Behinderungen durch die Gabe der Freundschaft in ihrer Menschlichkeit anerkannt werden und dass diese Beziehungen zentrale Einsichten für das Verständnis menschlicher Existenz bieten.]

    Reynolds, Thomas E., Vulnerable Communion: A Theology of Disability and Hospitality, Grand Rapids 2008.
    [Reynolds entwickelt eine theologische Anthropologie und Eschatologie, in der Behinderung nicht als Defizit, sondern als Ausdruck relationaler Fülle und göttlicher Gegenwart verstanden wird. Es geht ihm um eine Hoffnung, die Differenz nicht überwindet, sondern bejaht.]

    Swinton, John, Becoming Friends of Time. Disability, Timefullness and Gentle Discipleship, Grand Rapids 2016.
    [Reflektiert das Verhältnis von Zeit, Rhythmus und Spiritualität. Swinton plädiert für eine Theologie der Geduld und der beziehungsorientierten Jüngerschaft – jenseits leistungsbezogener Zeitnormen.]

    Yong, Amos, Theology and Down Syndrome. Reimagining Disability in Late Modernity, Waco 2007.
    [Systematische Reflexionen zu Behinderung und Theologie aus der Perspektive eines evangelikal geprägten Theologen. Yong verbindet pfingstkirchliche Spiritualität mit akademischer Reflexion.]

     

    Einzelnachweise

    • 1
      Vgl. Hirschberg, Marianne, Modelle von Behinderung, in: Waldschmidt, Anne et al. (Hrsg.), Handbuch Disability Studies, Wiesbaden 2022, 53–67.
    • 2
      Vgl. Hirschberg, Modelle.
    • 3
      Vgl. Dederich, Markus, Behinderung im Wandel der Zeit. Sozial- und begriffsgeschichtliche Anmerkungen, in: Eurich, Johannes/Lob-Hüdepohl, Andreas (Hrsg.), Behinderung. Prekäre Lebenslagen als Herausforderung für Theologie und Kirche, Heidelberg/Berlin 2011, 13–34.
    • 4
      Vgl. Swinton, John, Who Is the God We Worship? Theologies of Disability. Challenges and New Possibilities (IJPT 14), 273−307, 293.
    • 5
      Eiesland, Nancy, The Disabled God. Toward a Liberatory Theology of Disability, Nashville 1994.
    • 6
      Vgl. Powell, Lisa D., The Disabled God Revisited. Trinity, Christology and Liberation, London 2023.
    • 7
      Vgl. Yong, Amos, Disability, the Human Condition, and the Spirit of the Eschatological Long Run. Toward a Pneumatological Theology of Disability, in: Journal of Religion, Disability & Health 11/1 (2007), 5–25.
    • 8
      Vgl. Creamer, Deborah B., Disability and Christian Theology: Embodied Limits and Constructive Possibilities, Oxford/New York 2009.
    • 9
      Vgl. Brock, Brian, Disability. Living into the Diversity of Christ’s Body. Grand Rapids 2021.
    • 10
      Vgl. Swinton, John, From Inclusion to Belonging. A Practical Theology of Community, Disability and Humanness, in: Betcher, Sharon L. et al. (Hrsg.), A Healing Homiletic. Preaching and Disability, London, 2012, 183–197 und Swinton, God.
    • 11
      Vgl. Reinders, Hans S., Receiving the Gift of Friendship. Profound Disability, Theological Anthropology, and Ethics. Grand Rapids 2008.
    • 12
      Vgl. Reinders, Gift.
    • 13
      Vgl. Braun, Hanna, Der vulnerable Mensch als Ebenbild Gottes. Eine Grundlegung für inklusive Sprechweisen in der theologischen Anthropologie, Stuttgart 2023.
    • 14
      Vgl. Jacober, Amy E., Redefining Perfect. The Interplay Between Theology and Disability, Eugene 2017.
    • 15
      Vgl. Betcher, Sharon V., Spirit and the Politics of Disablement, Minneapolis 2007.
    • 16
      Vgl. Reynolds, Thomas E., Vulnerable Communion. A Theology of Disability and Hospitality, Grand Rapids 2008.
    • 17
      Vgl. Block, Jennie Weiss, Copious Hosting. A Theology of Access for People with Disabilities, New York 2002.
    • 18
      Vgl. Reynolds, Thomas E., The Broken Whole. Philosophical Steps Toward a Theology of Global Solidarity, Albany 2008.
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