1. Frühe Kulturen, Altes Ägypten, Alter Orient und Antike
In den Weltbildern früher Kulturen war die Idee einer getöteten Gottheit grundlegend. Fast überall wurde sie mit dem Mond identifiziert. Das Töten der Gottheit galt als erster Tod überhaupt und wurde im Kultopfer erinnert. Dieser Tod begründet zugleich Leben. Die getötete Gottheit verwandelt sich in Nahrungspflanzen und begründet die Zeugungsfähigkeit.1Vgl. Jensen, Adolf E., Die getötete Gottheit. Weltbild einer frühen Kultur, Stuttgart u. a. 1966, 125–137; Gladigow, Burkhard, Art. Gottesvorstellungen, in: HrwG III (1993), 32–49; vgl. ferner zum Folgenden David, Philipp, Der Tod Gottes als Lebensgefühl der Moderne. Geschichte, Deutung und Kritik eines Krisenphänomens, Tübingen 2023, 141–199. Das Sterben eines Gottes ist auch im germanischen Mythos von Balders (Baldurs) Tod zu finden.2Vgl. Simek, Rudolf, Religion und Mythologie der Germanen, Darmstadt 22014, 150f. Verbreitet ist es ferner in vielen Religionen des Alten Orients und Mittelmeerraumes.3Vgl. Mettinger, Tryggve N. D., The Riddle of Resurrection. „Dying and Rising Gods“ in the Ancient Near East, Stockholm 2001. Götter sterben und verschwinden, aber sie kehren auch wieder und können auferstehen. Dieses Motiv ist mit dem Naturkreislauf, Festen und dem Totenkult verbunden. Die Gottheit ist im Naturkreislauf als Macht des Lebens anwesend und besiegt den Tod stets aufs Neue.
Zur antiken Vorstellung von sterbenden Göttern gehören in der Regel zwei Götter.4Vgl. Zeller, Dieter, Christus unter den Göttern. Zum antiken Umfeld des Christusglaubens, Stuttgart 1993; Theißen, Gerd, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 94–98. Eine wichtige ältere Gottheit betrauert den tödlichen Verlust einer jüngeren Partnergottheit. Im Konflikt zwischen Leben und Tod kommt es zu einer teilweisen Aufhebung des Todes: Inanna und Dumuzi (Sumer), Ischtar und Tammuz (Mesopotamien), Anath und Baal (Ugarit), Astarte und Adonis (Phönikien), Kybele und Attis (Phrygien) sowie Isis und Osiris (Ägypten). Nur in Eleusis finden wir einen genuin griechischen Kult mit den beiden weiblichen Gottheiten, Mutter und Tochter, Demeter und Persephone. Die Götter sterben auf unterschiedliche Weise: Persephone, Tammuz und Baal werden in die Unterwelt entführt, Osiris, Attis und Adonis kommen gewaltsam ums Leben. Die Überwindung des Todes kann allerdings nicht als Auferstehung im christlichen Sinne gedeutet werden: Z. B. herrscht Osiris als toter Gott-König in der Unterwelt,5Vgl. Assmann, Jan, Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001, 1–307. Persephone muss vier Monate des Jahres in der Unterwelt verbringen, der Leichnam Attis’ verwest nicht, seine Haare wachsen und sein kleiner Finger bewegt sich, aus dem Blut des Adonis wachsen Blumen. Der Tod wird in diesen verschiedenen mythischen Vorstellungen nicht „ein für allemal“ besiegt wie in der christlichen Auferstehungshoffnung. Das Leben geht im Wechsel mit dem Tod weiter. In der Metaphysik der antiken Philosophie galten für Gott die Axiome Absolutheit, Unveränderlichkeit und Leidensunfähigkeit (Apathie).
2. Frühes Christentum und Mittelalter
Bei Plutarch findet sich der älteste Beleg des Rufes „Der große Pan ist tot!“. Inmitten einer tiefgreifenden religiösen Krise wird der Gott Pan zum Symbol des Untergangs der polytheistischen Vorstellungswelt der griechisch-römischen Kultur.6Vgl. dazu mit weiterem Erschließungsmaterial David, Tod, 161–173. Erst in frühchristlicher Zeit entsteht jener Typos des sterbenden und auferstehenden Gottes. Dieser hatte für die ältere Forschung Pate für die Christologie gestanden.7Vgl. dazu Mettinger, Tryggve N. D., The „Dying and Rising God“. A Survey of Research from Frazer to the Present Day, in: Batto, Bernard F./Roberts, Kathryn L. (Hrsg.), David and Zion. Biblical Studies in Honor of J. J. M. Roberts, Winona Lake 2004, 373–386. In der neueren Forschung wird er als Konkurrenzmodell zum auferweckten Gekreuzigten gedeutet.8Vgl. Zeller, Dieter, Hellenistische Vorgaben für den Glauben an die Auferstehung Jesu?, in: Hoppe, Rudolf/Busse, Ulrich (Hrsg.), Von Jesus zum Christus. Christologische Studien (FS Paul Hoffmann), Berlin/New York 1998, 71–91. Mit der Rede vom gekreuzigten Gott vertraten die frühen Christen in den Augen der Römer und Juden eine atheistische Geschmacklosigkeit und Gotteslästerung.9Vgl. Zeller, Christus, 37f.
Verhängnisvoll sollte sich für das Verhältnis von Christentum und Judentum der antijudaistische Vorwurf des „Gottesmordes“ auswirken, erstmals um 170 n. Chr. belegt bei Meliton von Sardes .10Vgl. Blum, Matthias, Art. Gottesmord, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.), Handbuch des Antisemitismus 3. Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin/New York 2010, 113f. Für Tertullian
war der christliche Glaube Glaube an einen gekreuzigten (deus cruxifius) und gestorbenen Gott, der dennoch in der Ewigkeit lebe. Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang, ob Gott der Vater gelitten habe (Theo- bzw. Patripassianismus) oder nur der Sohn am Kreuz. Die gesamte altkirchliche orthodoxe Gottesvorstellung ist sich spätestens seit den Alexandrinern Clemens
und Origenes
einig, das platonische Axiom von der Leidensunfähigkeit festzuschreiben. Die theopaschitische Formel, „Gott hat doch gelitten“, wurde zurückgewiesen. In der Alten Kirche wurde der Tod Gottes auf die menschliche Seite des gottmenschlichen Sohnes bezogen, um die soteriologische Bedeutung seines Opfertodes zu betonen.
In der lateinischen Welt des Christentums war der Tod Gottes als Tod Christi ein Punkt wiederkehrender Besorgnis. Er bewegte sowohl die Theologie als auch zweifelnde Laiinnen und Laien. Aus der Rede vom Tod Gottes am Kreuz, dem keine Auferstehung folgt, konnte die Rede vom Tod Gottes als eine Rede über die Abwesenheit Gottes werden.11Vgl. Weltecke, Dorothee, „Der Narr spricht: Es ist kein Gott“. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit, Frankfurt/New York 2010, 435. Die mystische Tradition kannte und pflegte ebenfalls den Gedanken eines Todes Gottes (Meister Eckhart : „Dar umbe ist got gestorben, daz ich sterbe aller der welt und allen geschaffenen dingen.“12Meister Eckhart, Die deutschen Werke, Quint, Joseph (Hrsg.), Band 2: Predigten, Stuttgart 1971, 84, 2f. Johannes Tauler
: „Wir essent unseren Gott“.13Die Predigten Taulers. Aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschrift der ehemaligen Straßburger Abschrift, Vetter, Ferdinand (Hrsg.), Unveränderter Nachdruck Berlin 1910, Dublin/Zürich 1968, 293, 27.). Martin Luthers
Theologia crucis (1517–1519) ist von der mystischen Tradition und der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit beeinflusst. Sie zeigt eine starke soteriologische Konzentration auf die Menschheit Christi und auf den Gekreuzigten. Die Rede vom Tod Gottes ist im Abendmahl verbunden mit der soteriologischen Deutung des Todes Gottes als Tod Christi: „[…] dass Gott einst sterben würde“.14LDStA 3, 219 | WA 6; 514, 6; vgl. die Wiederaufnahme des Motivs: „[…] Gott ist gestorben, Gottes Marter, Gottes Blut, Gottes Tod. Denn in seiner eigenen Natur kann Gott nicht sterben. Aber nachdem nun Gott und Mensch in einer Person vereinigt sind, heißt es mit Recht Gottes Tod, wenn der Mensch stirbt, der mit Gott ein Ding oder eine Person ist“ (DDStA 2, 679 | WA 50; 590, 11–22; vgl. FC Solid. decl. VIII, 40; BSLK 1030.1031; vgl. auch die Grundregel der communicatio idiomatum in: „Dieser Mensch hat die Welt geschaffen, und: Dieser Gott hat gelitten, ist gestorben und begraben worden, usw.“ (LDStA 2, 471 | WA 39 II; 93, 4–9]).
3. Frühe Neuzeit, Aufklärung, Deutscher Idealismus und Modernekritik
Erst fast dreihundert Jahre nach Luther fand Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Worte vom Tode Gottes in einem „lutherischen Liede“ vor. Das von Hegel zitierte Lied stammte jedoch nicht von Luther selbst, sondern aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges: „O grosse Noth! / Gott selbst ligt todt“ (1641; Johann Rist
. Heute wird gesungen „O große Not! Gotts Sohn liegt tot“ (EG 80,2).15Vgl. Ueltzen, Hans-Dieter, „Gott selbst ist tot“. Historische Bemerkungen zur Entstehung des Liedes und der Rede vom Tode Gottes, in: EvTh 36, 1976, 563–567. Die Gotteskrise drückte sich für Hegel jedoch aus als „das Gefühl […], worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist todt“ (1802).16Hegel, Georg W. F., Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: Ders., Jenaer Kritische Schriften, Buchner, Hartmut/Pöggeler, Otto (Hrsg.), GW 4, Hamburg 1968, 313–414, 414; vgl. auch David, Tod, 305–319. Dieses Gefühl verband Hegel mit dem Protestantismus, mit dem ein Säkularisierungsprozess in Gang gekommen war, der schließlich zur Bestreitung der Existenz Gottes und damit zum Tode Gottes führen sollte. Hegel lokalisierte den Tod Gottes geistesgeschichtlich in der Religionskritik der französischen Aufklärung als ein Phänomen zur geschichtlichen Realisierung des Absoluten. Der historische Karfreitag wurde in einen spekulativen transformiert, dem die spekulative Auferstehung des Absoluten in der idealistischen Metaphysik folgte. Der Tod Gottes wurde zu einem Moment im Zuge der Selbstrealisierung des absoluten Geistes.
Das Gefühl der Gottverlorenheit verschaffte sich literarisch bereits Ausdruck im 17. Jh. bei Blaise Pascal , im materialistischen Atheismus und Naturalismus bei Paul Henry Thiry d’Holbach‚
und bei Jean Paul
, der in seiner fiktiven „Rede vom toten Christus“ (1795) die Konsequenzen von Atheismus und Nihilismus im Gefolge von Kants Dekonstruktion der natürlichen Theologie aufzeigte und die mit der Aufklärung ausgelöste Situation des Todes Gottes beschrieb.17Vgl. Paul, Jean, Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenk.s, in: SW I/2.: Siebenk.s. Flegeljahre, Miller, Norbert (Hrsg.), München 31971, 7–576; 270–275 [Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei]. Vgl. auch David, Tod, 254–262. Reflektiert wurde diese Stimmungslage des unglaubwürdig gewordenen orthodoxen Gottesglaubens (Gotthold Ephraim Lessing
) in der „Sattelzeit“ der Moderne (Reinhart Koselleck
) in den philosophisch-theologischen Streitsachen 1785/86 um den Pantheismus (Friedrich Heinrich Jacobi
; Moses Mendelssohn
), 1798/99 um den Atheismus (Johann Gottlieb Fichte
) und 1811/12 um den Theismus (Friedrich Heinrich Jacobi; Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
). Vor dem Hintergrund der Spinoza
-Deutung und Immanuel Kants
kritischer Philosophie wurde um Fragen der Personalität Gottes und des Verhältnisses von Glauben und Wissen gestritten sowie die „Wende zum Subjekt“ vollzogen.18Vgl. Georg Essen/Christian Danz (Hrsg.), Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Darmstadt 2012. In der Theologie (Friedrich D. E. Schleiermacher
) vollzog sich angesichts des Plausibilitätsverlusts des Gottesgedanken eine bewusstseinstheoretische Wende zum Religionsbegriff als systematischer Grundkoordinate.
Bei Heinrich Heine finden sich Varianten der Rede vom Todes Gottes, die auf Plutarchs Sage vom Tod des großen Pan zurückgreifen, auf Friedrich Nietzsches
Deutung des Todes Gottes als ein im Kommen begriffenes Ereignis vorausweisen und sich wie Jean Pauls „Präludium auf das 20. Jahrhundert“ (Eberhard Jüngel
) als düstere Prophezeiung auf die Jahre 1933 bis 1945 lesen lassen: „Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.“19Heine, Heinrich, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Schanze, Helmut (Hrsg.), Heinrich Heine Werke 4. Schriften über Deutschland, Frankfurt a. M. 1968, 44–165, 164. Vgl. auch David, Tod, 262–276. Nietzsche lässt 1882 seinen „tollen Menschen“ ausrufen: „Gott ist todt!“20Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft (KSA 3), 343–651, 480–482. Vgl. auch David, Tod, 319–338. Seine Diagnose sieht die von der metaphysischen Tradition des Platonismus und Idealismus sowie vom Christentum geprägte Geschichte am Ende. Die Entplatonisierung, Entmoralisierung und Entchristlichung betreffen alle Werte, Normen und Ideale, die aus diesen Überlieferungen entstanden sind. Neue Orientierungskoordinaten, das so entstandene Sinnvakuum zu füllen, bleiben aus, solange die Heraufkunft des vielgestaltigen Nihilismus vom modernen Menschen nicht verstanden und die alte platonisch-christliche „Grammatik“ nicht überwunden worden ist.21Vgl. Nietzsche, Friedrich, Götzen-Dämmerung (KSA 6), 78.
4. 20. und 21. Jahrhundert
„Der Schwund Gottes, das Fehlen Gottes, die Abwesenheit Gottes, der Tod Gottes und das Vergessen Gottes in Teilen der modernen Welt, unter Einschluss der Philosophie hat viel mit den katastrophalen Ereignissen des 20. Jh. zu tun.“22Rentsch, Thomas, Gott, Berlin/New York 2005, IX. Der „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner ) des Holocaust war es, der in den 1960er Jahren in der jüdischen und christlichen Theologie zu einer Theologie nach Auschwitz (Richard Lowell Rubenstein
; Emil Fackenheim
; Paul Matthews van Buren
; John King Roth
), und einer radikalen Theologie (William Hamilton
; Thomas J. J. Altizer
) in den USA geführt hat.23Vgl. Altizer, Thomas J. J./Hamilton, William, Radical Theology and the Death of God, Indianapolis u. a. 1966. Vgl. Zur US-amerikanischen Gott-ist-tot-Theologie David, Tod, 430–532. Die in sich zu differenzierende Gott-ist-tot-Bewegung suchte nach neuen Wegen des Christseins in postchristlicher Zeit angesichts der Leerstelle, die Gottes Abwesenheit (W. Hamilton) und Tod in der Kultur hinterlassen hat (Gabriel Vahanian
; Harvey Cox
). In den Medien wurde das God-is-dead-movement schlagwortartig rezipiert. In der paradoxen Rede vom Tod Gottes trafen der moderne Atheismus und das christliche Symbol des Kreuzes aufeinander (Thomas J. J. Altizer). Für die sich formierende Feministische Theologie konnte mit der Metapher „Tod Gottes“ der Abschied vom patriarchalen Gottesverständnis verbunden sein (Mary Daly
).
Weiterführende Infos
Ein beispielhafter Artikel aus der Times findet sich hier:
Im 21. Jh. hat sich mit dem „Second Coming of the Death of God” (William Hamilton) ein ideologiekritischer Gegenentwurf zum evangelikalen Fundamentalismus in den USA formiert. Eine Wiederentdeckung der Theologie Altizers,24Vgl. McCullough, Lissa/Schroeder, Brian (Hrsg.), Thinking Through the Death of God. A Critical Companion to Thomas J. J. Altizer, Albany 2004. seines „neuen Evangeliums“ eines christlichen Atheismus, und eine Fortschreibung der Entwürfe radikaler Theologie lässt sich angesichts der Gefährdungen der Demokratie durch rechte populistische und religiöse Strömungen beobachten.25Vgl. Taylor, Mark C., After God, Chicago/London 2007; Caputo, John D./Vattimo, Gianni, After the Death of God. Hrsg. v. Jeffrey W. Robbins. With an Afterword by Gabriel Vahanian, New York 2007; Robbins, Jeffrey W., Radical Theology. A Vision for Change, Bloomington/Indianapolis 2016; Rodkey, Christopher D./Miller, Jordan E. (Hrsg.), The Palgrave Handbook of Radical Theology, Cham 2018. So sehen etwa einige neuere theologische Gegenwartsanalysen im Anschluss an William Hamilton, Thomas J. J. Altizer und Mark C. Taylor derzeit eine gefährliche Ideologie am Werk („bad faith“), in der der Glaube an einen männlichen und gewaltbereiten Gott Präventivkriege billige und den US-amerikanischen Nationalismus fördere. Dieser Glaube sei heutzutage zur Norm in US-amerikanischen Kirchen, im Militär und unter konservativen Politikern geworden. In dieser Situation sei die Rückkehr der radikalen Theologie das Gebot der Stunde, um dem Leben eines solchen Gottes ein Ende zu bereiten. Durch das Erstarken der religiösen Fundamentalismen und insbesondere des fundamentalistischen protestantischen Christentums sehen die neuen radikalen Theologinnen und Theologen bürgerliche Freiheitsrechte, kritisches Denken, wissenschaftlichen Fortschritt und nicht zuletzt demokratische Prinzipien massiv bedroht. Insbesondere der christliche Fundamentalismus sei eine destruktive Kraft in der Kultur, die die ungerechte Macht der Unterdrücker heiligt, die Anhäufung persönlicher Reichtümer auf Kosten anderer gutheißt, den göttlichen Vorsehungsgedanken gegen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse herausstellt, die „Dritte Welt“ ignoriert und „das“ Evangelium und weltliche Reichtümer allein für sich reklamiert.26Vgl. exemplarisch die Beiträge von D. J. Peterson, J. W. Robbins und G. M. Zbaraschuk in: Peterson, Daniel J./Zbaraschuk, G. Michael (Hrsg.), Resurrecting the Death of God. The Origins, Influence, and Return of Radical Theology. With an afterword by Thomas J. J. Altizer, Albany 2014. Hieran zeigt sich exemplarisch das konstruktive Potential der Denkfigur „Tod Gottes“ für eine ideologiekritische Grundhaltung theologischen Denkens gegenüber Gefährdungen von Grund-, Menschen- und Freiheitsrechten.
In der deutschsprachigen Theologie waren im 19. Jh. Metaphysikkritik und eine Fokussierung auf Religion, Anthropologie und Christologie verbreitet.27Vgl. dazu David, Tod, 533–611. Durch die „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkriegs kam es zu einer kritischen Wende von liberalen Theologieentwürfen hin zu einer Fokussierung auf eine kirchlich orientierte Krisen- und Offenbarungstheologie (Karl Barth ). Sie suchte die genuin christliche Gottesvorstellung im „unendlich qualitativen Unterschied“ (Søren Kierkegaard
) zwischen Gott und Mensch herauszustellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte Dietrich Bonhoeffers
Formel „Nur der leidende Gott kann helfen“ zum Leitbegriff der evangelischen Theologie und ihrer Arbeit an nachtheistischen Gottesverständnissen. Sie wurde auch in den Entwürfen einer Theologie nach Auschwitz aufgegriffen und mit der Kritik an der Vorstellung der Allmacht Gottes verbunden (Johann Baptist Metz
; Jürgen Moltmann
; Dorothee Sölle
). Die Kritik am kirchlichen Gottesverständnis und Theismus von John A. T. Robinson
aus England erzielte als Vorläufer der aus den USA kommenden Gott-ist-tot-Theologie große Aufmerksamkeit.28Vgl. Robinson, John A. T., Bishop of Woolwich. Honest to God, London 1963; Edwards, David L. (Hrsg.), The Honest to God Debate. Some Reactions to the Book ‚Honest to God‘ with a new Chapter by its Author John A. T. Robinson, Bishop of Woolwich, London 1963. Wie Robinson fand auch die US-amerikanische Bewegung zwar Anregungen u. a. bei Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer, Herbert Braun
und Paul Tillich
, sie wurde aber als bloße „Modeerscheinung“ bekämpft, in ihrem Dialogpotential mit der säkularen Gesellschaft von Theologie und Kirche nicht erkannt und Gottes Tod zu denken, mit einem „theologischen Denkverbot“29Morgenthaler, Christoph, „Ach, hätte Gott dies alles noch erleben dürfen …“ Praktische Theologie, Ironie und Poesie, in: PTh 101 (2012), 359–370, 364. belegt. Waren die Kirchen nach dem Kriegsende 1945 von den alliierten Siegermächten als moralische „Wächter“ für die „Reeducation“ der deutschen Bevölkerung nach ihren Verstrickungen in den Nationalsozialismus angesehen worden,30Vgl. Hermle, Siegfried/Oelke, Harry, Kirchliche Zeitgeschichte_evangelisch. Band 3: Protestantismus in der Nachkriegszeit (1945–1961), Leipzig 2021. kommt es nach einer kurzen Renaissance konservativer Kirchlichkeit in den 1950er Jahren zu einem fortschreitenden Abbruch der Kirchenbindung und zu einem Bruch mit den tradierten kirchlichen Gottesvorstellungen, der sich im Grunde seit 1800 als unaufhebbare Dauerkrise zeigt.31Vgl. dazu David, Tod, 200–298. Spätestens in den revolutionären langen 1960er Jahren gerieten die Kirchen wieder in eine anhaltende Glaubwürdigkeits- und Relevanzkrise. Sie verpassten die Chance, über das konstruktiv-kritische Störpotential der Rede vom Tod Gottes in das Gespräch mit der sich weiter säkularisierenden Gesellschaft zu treten.
Systematisch-theologisch sollte die christologische „Heimkehr der Rede vom Tode Gottes in die Theologie“32Jüngel, Eberhard, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 51986, 73f. Vgl. auch David, Tod, 583–598. bei Eberhard Jüngel zu einer Überwindung der Grundlagenkrise der Theologie führen. Atheismus wie Theismus gleichermaßen hinter sich lassend, formierte seine an der Erzählung der „Menschlichkeit Gottes“ orientierte Gotteslehre den Geltungsanspruch des „genuin Christlichen“. Dass der Tod Gottes bei Jüngel nicht konsequent als Tod des Vaters, sondern als Tod des Sohnes gedacht wurde, führte zur Kritik. Für Falk Wagner
etwa öffnet das Bewusstsein der Moderne, dass Gott tot sei, der christlichen Theologie die Augen für die Besonderheit des eigenen Anfangs: Die Rede vom Tod Gottes gehöre in das Zentrum des christlichen Gottesgedankens und meine konsequent den Tod der Gottheit Gottes. Mit der Auferstehung sei daher nicht die Wiederkehr des alten Allmachtgottes verbunden, sondern die Neuformulierung Gottes als Geist der christlichen Gemeinde (vgl. Hegel) und sozialethisch die Etablierung wechselseitiger freier und symmetrischer Anerkennungsverhältnisse.33Vgl. Wagner, Falk, Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999, 120–190. Vgl. auch David, Tod, 598–604.
Sowohl die theologischen pejorativen Zurückweisungen als auch die christologischen und geisttheoretischen Heimholungen zur Depotenzierung des theistischen Allmachtgottes und Vereindeutigung der Gottesrede verdecken jedoch den Blick auf das kulturdiagnostische Potential der Rede vom Tod Gottes, die sich als „Lebensgefühl der Moderne“ nur in ihrer bleibenden Mehrdeutigkeit deuten und aushalten lässt und somit einen intensiveren Dialog zwischen dem säkularen und religiösen Diskurs anstoßen könnte. Ob die neue existentialontologische Restitutionsphilosophie Wolfgang Jankes in der durch Positivismus, Atheismus und Nihilismus präzisierten Welt mittels einer Wiedereinsetzung der gleichberechtigten sprachlichen Weltzugänge von Logos, Mythos/Religion, Poesie und Alltagssprache und des Sakralgefüges von Ehrfurcht, Vertrauen und Liebe die Frage nach Gott wieder in ihr angestammtes Recht einzusetzen vermag,34Vgl. Janke, Wolfgang, Die Seinsfrage. Grundzüge einer restitutiven Ontologie, Würzburg 2018. Vgl. auch David, Tod, 399–416. bleibt bedenkenswert, aber offen.