1. Übersicht
Versöhnung im dogmatischen Verständnis zielt darauf ab, die aus der Sünde resultierende Trennung von Gott und Schöpfung zu beheben. Mit dem Begriff der Versöhnung wird also eine spezifische Form des In-Beziehung-Tretens von Gott und der (von der Sünde beeinflussten) Schöpfung verstanden. Rückgebunden an einschlägige, v. a. paulinische Bibelstellen wie 2Kor 5,18–19[18] Aber das alles ist von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. [19] Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.Zur Bibelstelle und Röm 5,10–11[10] Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind. [11] Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unsern Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben.Zur Bibelstelle wird dabei regelmäßig Gott als das frei handelnde Subjekt dieses Beziehungshandelns aufgefasst. Gerade neuere Versöhnungstheologien nehmen allerdings auch das Gegenüber Gottes (in der Regel den Menschen) als Akteur mit Handlungsmacht wahr.
Das Versöhnungskonzept grenzt an Konzepte wie Erlösung und Zurechtbringung an und ist der Soteriologie zuzurechnen. Im Unterschied zu den anderen genannten Konzepten betont der Begriff der Versöhnung – gerade auch durch die Diskussion und fruchtbare Aufnahme des Begriffs in der Ethik, die in die dogmatische Rezeption zurückspiegelt – die Prozesshaftigkeit und Vorläufigkeit des Gott-weltlichen Beziehungsgeschehens und seiner Effekte. Dabei ist unter ökumenischen Gesichtspunkten bemerkenswert, dass „Versöhnung“ als soteriologische Vokabel in der systematischen Theologie der Neuzeit vor allem in der evangelischen Theologie entwickelt und hier häufig in Beziehung zur Rechtfertigungslehre gesetzt wird.
1.1. Zuordnung innerhalb der Dogmatik
Seinen Ort hat das Versöhnungskonzept in der Heilslehre (Soteriologie). In dieser Perspektive geht es bei Versöhnung darum, das in der Sünde immer wieder gestörte Verhältnis zwischen Gott und Schöpfung – oder konkreter: zwischen Gott und Mensch – wieder herzustellen. Das wesentliche dogmatische Problem in der soteriologischen Perspektive ist die Vermittlung zwischen freiem göttlichem Heilshandeln und aktiver menschlicher wie nicht-menschlicher Teilhabe an diesem. Neben der Soteriologie ist Versöhnung mindestens auch mit den Bereichen Christologie, Schöpfungslehre und Offenbarungslehre verbunden.
Die christologische Verknüpfung lässt sich über Paulus herleiten, der in seinem zweiten Brief an die Gemeinde in Korinth schreibt, dass Gott die Welt mit sich durch bzw. in Christus versöhnt habe (διὰ Χριστοῦ [dia Christou] bzw. ἐν Χριστῷ [en Christo], 2Kor 5,18–19[18] Aber das alles ist von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. [19] Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.Zur Bibelstelle). Wenn also theologische Ansätze Gott als Handlungssubjekt der Versöhnung annehmen, dann wird Christus zum Medium der Versöhnung. In dieser christologisch zugespitzten Perspektivierung von Versöhnung vermittelt sich Jesu Leben inklusive des Kreuzesgeschehens mit der Auferweckungszusage Gottes als Zeichen der Überwindung von Sünde und Tod. Bei einigen Versöhnungstheologien jüngeren Datums rückt Christus darüber hinaus – häufig trinitätstheologisch rückgebunden – auch in die Rolle des versöhnenden Subjekts ein.
Mit der Verbindung zur Schöpfungslehre kommen zwei Aspekte zum Ausdruck. Erstens wird zurückverwiesen auf einen Idealzustand der Beziehung von Gott und Schöpfung. Dieser ist durch verschiedene Spielarten der Sünde aufgehoben, steht aber als Zielideal weiterhin im Horizont des Versöhnungshandelns.1Die genaue Verhältnisbestimmung eines prälapsarischen Zustands und der Sünde ist ökumenisch differenziert zu betrachten. Ein erster Zugang zur Debatte findet sich in Leonhardt, Rochus (Hrsg.), Die Aktualität der Sünde. Ein umstrittenes Thema der Theologie in interkonfessioneller Perspektive, Frankfurt a. M. 2010. Versöhnung wird dabei entweder als wiederherstellendes Geschehen verstanden, oder aber als transformatives, das auf eine neue gute Beziehung hindeutet. Zweitens macht der Verweis auf Schöpfung im Kontext von Versöhnung deutlich, dass nicht allein die göttlich-menschliche Beziehungsachse getroffen ist. Stattdessen wird durch den weiten Begriff von Schöpfung darauf abgestellt, dass Versöhnung – wiederum analog zur Sünde – auch Einfluss auf die Beziehungen von Gott und nicht-menschlicher Welt, auf zwischenmenschliche Beziehungen und auf Beziehungen von Menschen und nicht-menschlicher Welt hat.2Vgl. Dantine, Wilhelm, Versöhnung. Ein Grundmotiv christlichen Glaubens und Handelns, Gütersloh 1978, 18.
Die offenbarungstheologische Linie schließlich nimmt noch einmal den einmaligen Charakter der christologischen Perspektive zurück. Statt die Einzigartigkeit der Versöhnung in Christus zu betonen, wird unter Rückbezug auf die Selbstoffenbarungsgeschichte Gottes deutlich, dass es in heilsgeschichtlicher Deutung immer wieder Angebote Gottes zur Versöhnung gegeben hat. Für die christliche Betrachtungsweise bedeutet auch die Zurückweisung eines solchen Versöhnungsangebots nicht, dass die Chance auf Versöhnung von Gott und Schöpfung endgültig vertan wäre. Vielmehr wird dagegen eine Zukunftsoffenheit betont, die durch Gottes Unverbrüchlichkeit garantiert wird.3Vgl. Werbick, Jürgen, Art. Versöhnung. IV. Systematisch-theologisch, in: LThK 10 (2006), 725f., 725. Dies korrespondiert mit Überlegungen etwa aus der Prozesstheologie, welche die Einzigartigkeit von Gottes Macht nicht in Überwältigung sehen, sondern gerade in dieser Unverbrüchlichkeit der Zusagen, die das menschliche Maß übersteigt.4Vgl. Faber, Roland, Gott als Poet der Welt. Anliegen und Perspektiven der Prozesstheologie, Darmstadt 2003, 193f.; Keller, Catherine, Über das Geheimnis. Gott erkennen im Werden der Welt. Eine Prozesstheologie, Freiburg i. B. 2013, 170.
1.2. Verhältnis von Dogmatik und Ethik
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Versöhnung vor allem als Begriff in der (theologischen) Ethik Karriere gemacht. Dabei entwickelt sich der ethische Diskurs zu Versöhnung – vor allem im Bereich der Friedensethik, der politischen Ethik und der Rechtsethik – weitgehend unabhängig von den soteriologischen Fragen des dogmatischen Diskurses und streift dessen explizite Voraussetzungen zunehmend ab. Nichtsdestoweniger ist zumindest in der theologischen Debatte eine Verschränkung der beiden Versöhnungsbegriffe zu beobachten, ohne dass einer von beiden Voraussetzung für den anderen wäre.
Weiterführende Infos WiReLex
„Ein umfassender theologiegeschichtlicher oder systematischer Überblick kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Stattdessen sollen im Folgenden einige zentrale Aspekte herausgegriffen werden. Aus dogmatischer Perspektive gehören dazu (Härle, 2000, 321-335): die Schwierigkeiten, die Bedeutung und die Denkmöglichkeiten der Versöhnungslehre. Aus ethischer Perspektive gehören dazu: Versöhnung als „Wunder“ (Hannah Arendt), Versöhnung in Politik und Gesellschaft.“ Schliesser, Christine, Art. Versöhnung. 3. Theologiegeschichtlich-systematische Aspekte, in: WiReLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/200659/), abgerufen am 11.02.2025.
So ist für die Dogmatik eine Verschiebung der begrifflichen Konzeption erkennbar, die zunehmend die relationale Komponente des Begriffs zentral stellt – also die Gott-Mensch-Beziehung gegenüber der freien Handlung Gottes zur Versöhnung priorisiert.5Vgl. Sauter, Gerhard, Zur Einführung, in: Ders. (Hrsg.), „Versöhnung“ als Thema der Theologie, Gütersloh 1997, 7–47, 9f. Für die Ethik hingegen wird deutlich, dass die Wiederherstellung oder Neueröffnung zwischenmenschlicher Beziehungen nach beziehungszerstörenden Ereignissen auf ein Moment der Unverfügbarkeit verweist, das der dogmatische Diskurs mit dem Rekurs auf Gott zu fassen versucht. Dieses Moment der Unverfügbarkeit kann etwa in der Schwere der (Zer-)Störung der Beziehungen und ihrer Grundlagen gesehen werden, die das Gelingen von Versöhnung schwierig gestalten. Es kann weiterhin in den jeweiligen weltanschaulichen Voraussetzungen oder – schlimmstenfalls – in der Diskontinuität von Beziehungen auftauchen, die durch den Tod von einem oder mehreren Beziehungspartnern gegeben ist. Dabei ist allerdings zu beachten, dass wiederum eine Verdopplung der Unverfügbarkeitsrede im Hintergrund steht, die dogmatisch auf das freie Handeln Gottes abstellt, ethisch hingegen vor allem die Entzogenheit von Gelingensbedingungen menschlichen Versöhnungshandelns adressiert.
2. Strukturierung des Feldes
In einem ersten Ansatz lassen sich Versöhnungstheologien in zwei Gruppen einteilen, die gemeinhin als objektive und subjektive Versöhnungstheologien bezeichnet werden. Als objektiv werden dabei solche Versöhnungstheologien bezeichnet, die bei Versöhnung vor allem an die freie Tat Gottes denken, durch die Gott sich auf den Weg zum Menschen macht und den Zustand des Unheils (zumindest prinzipiell) überwindet. Subjektive Versöhnungstheologien betonen demgegenüber den menschlichen Anteil am Versöhnungshandeln, sei es in Form einer Antwort auf das göttliche Angebot, sei es als (zumindest im Bemühen erkennbare) Veränderung der eigenen Lebens- und Glaubensvollzüge.
Eine Erweiterung erfährt diese eher grobe Dualstruktur in der – nach wie vor als klassische Strukturierung des Feldes zu bezeichnenden – Typologie des schwedischen lutherischen Theologen Gustaf Aulén von 1930. Aulén unterscheidet drei Typen von Versöhnungslehren:6Vgl. Aulén, Gustaf, Die drei Haupttypen des christlichen Versöhnungsgedankens, in: ZSTh 8 (1931), 501–538, 503.
- Ein klassischer Typus, der sich in der paulinischen Theologie gründet und seine – inhaltliche – Fortsetzung in der soteriologischen Diskussion der alten Kirche findet; dieser stelle insbesondere den souveränen Herrschaftsakt Gottes im Versöhnungsgeschehen scharf.
- Ein lateinischer Typus, der sich insbesondere mit der Satisfaktionstheorie bei und im Gefolge von Anselm
verknüpft; hier wird im Unterschied zum klassischen Typus stärker die Rechtsförmigkeit des sowie die Sühneleistung im Versöhnungsgeschehen(s) betont.
- Ein humanisierender bzw. idealistischer Typus, der seinen Anhalt in der Theologie der Aufklärung und der liberalen Theologie des 18. und 19. Jahrhunderts nimmt und von Aulén vor allem mit Albrecht Ritschl
assoziiert wird; hier liegt der Schwerpunkt auf der (Vater-)Liebe Gottes, die das Versöhnungshandeln motiviert, wie auch auf dem Vertrauen der Menschen auf diese Liebe als Grundlage ihres Handelns.
Dabei können im Sinne der Zweiteilung der klassische und der latinische Typus als differenzierbare Vertreter objektiver Versöhnungstheologien verstanden werden, wohingegen der idealistische Typus mit den subjektiven Versöhnungstheologien identifiziert werden kann.7Zur Debatte um die Sinnhaftigkeit des dreigliedrigen Versöhnungsbegriffs bei Aulén und vor allem um die Differenzierung von klassischem und lateinischem Typus vgl. Seiger, Bernhard, Versöhnung. Gabe und Aufgabe, Frankfurt a. M. 1996, 160f. Alle drei Typen unterscheiden sich in ihren jeweiligen Gottes- und Menschenbildern sowie in der Bestimmung der Rolle Christi für das Versöhnungsgeschehen. Mit Blick darauf, dass Aulén seine Typologie mit einer starken Wertung versieht, ist relevant, dass diese Typologie vor dem Hintergrund einer spezifischen Theologie des nordeuropäischen Luthertums bewertet.8 Aulén, Haupttypen, 504f., 524, 530. Vgl. Wenz, Gunther, Versöhnung. Soteriologische Fallstudien, Göttingen 2015, 153. Die dreigliedrige Typologie Auléns wird von Bernhard Seiger unter Rückgriff auf den baptistischen Prozesstheologen David L. Wheeler um einen weiteren Typus ergänzt:9Vgl. Seiger, Versöhnung, 167–170.
- Ein geschichtlich-prozessualer Typus, den Wheeler mit der Prozessphilosophie Alfred N. Whiteheads
und den Theologien in deren Gefolge verknüpft; hier wird einerseits das Gegenüber von Gott und Welt im Vergleich zu anderen Theologien unterbetont, zugunsten einer starken Wechselwirkung von Gott und Mensch im Versöhnungsgeschehen, die auf ein kontinuierliches Fortschreiten (inklusive der Möglichkeit von Seitwärtsschritten) und auf eine Ermächtigung der Menschen zu versöhnendem Handeln abstellen.
3. Historische Entwicklung der theologischen Vorstellung
Als Ausgangspunkt des christlichen Versöhnungsdenkens gilt gemeinhin die paulinische Theologie im Neuen Testament. Mit „Versöhnung“ wird hierbei das griechische Wort καταλλαγή [katallage] wiedergegeben, das sich wiederum vom Verb καταλλάσσω [kat-allasso] herleitet. Im allgemeinen Sprachgebrauch des Altgriechischen ist damit „vertauschen“ gemeint, was in der antiken Diplomatiesprache etwa im Sinne von „Feindschaft mit Freundschaft vertauschen“ verstanden werden kann.10Vgl. Merkel, Helmut, Art. καταλλάσσω, in: Balz, Horst/Schneider, Gerhard (Hrsg.), Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 2011, 644–650, 645. Daneben gibt es im alttestamentlichen Bereich noch den Ausdruck כִּפּוּר [kippur], der wiederum von der Wurzel כפר abgeleitet ist. Deren Bedeutungsfeld umreißt „bedecken, zudecken, abwischen“ und darauf aufbauend „beschwichtigen, sühnen“. Die alttestamentliche Linie wird jedoch in der Regel theologisch nicht für den Versöhnungsdiskurs produktiv gemacht. Bei Paulus wird Versöhnung – entgegen einer möglichen alttestamentlichen Traditionslinie – begrifflich nicht mit Sühne zusammengebracht (dies wäre altgr. ἱλασμός [hilasmos]), wohl aber mit dem Tod Christi am Kreuz.11Vgl. Breytenbach, Cilliers, Versöhnung. Eine Studie zur paulinischen Soteriologie, Neukirchen-Vluyn 1989, 220 lehnt sogar als Ergebnis seiner Untersuchung eine solche Zusammenführung rundheraus ab.
Weiterführende Infos WiBiLex
„Nach traditionellem exegetischem Verständnis ist der Begriff ‚Versöhnung‘ kein direktes Äquivalent eines speziellen hebräischen Wortes. Er umfasst zwar Belege der Wurzel כִּפֶּר kippær ‚sühnen‘, ist konzeptionell aber weiter zu verstehen. Deshalb ergeben sich in sachlicher Hinsicht Probleme bei der Abgrenzung des damit Gemeinten. Grundsätzlich zielt der Begriff ‚Versöhnung‘ auf die Überwindung einer Kluft zwischen zwei Parteien. Da sich eine solche Kluft einerseits in zwischenmenschlichen Beziehungen, andererseits in der Beziehung Gott-Mensch manifestieren kann, bezeichnet ‚Versöhnung‘ entweder ein Geschehen auf horizontaler oder auf vertikaler Ebene. Das Alte Testament enthält Erzählungen, Rechtssammlungen und das Kultrecht, die jeweils die Überwindung von Beziehungsklüften in der einen oder anderen Dimension thematisieren.“ Eberhart, Christian, Art. Versöhnung (AT), in: WiBiLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/34155/), abgerufen am 11.02.2025.
Durch das Mittel des Todes Christi und seiner anschließenden Auferweckung wird Gott versöhnend tätig, indem Gott zeigt, dass die Macht der Sünde prinzipiell überwunden ist.12Vgl. Sauter, Einführung, 15. Darin kommt eine (neu-) schöpferische Qualität des göttlichen Handelns zum Ausdruck, welches unheilvolle Zusammenhänge nicht bestehen lässt, sondern neu arrangiert, oder zumindest durch das Leben im Geist Gottes neu perspektiviert. Zugleich ermöglicht diese Perspektive es den Menschen auch, ihre Schuld am Misslingen der verschiedenen Beziehungsvollzüge zu erkennen und sich durch Glauben und Hoffnung dazu zu verhalten. Darüber hinaus verknüpft Paulus seine Versöhnungsvorstellung mit der Idee der Rechtfertigung des Menschen, in der die besondere, paulinische Re-Interpretation des Gesetzesgedankens mitschwingt (vgl. Röm 5,3–11[3] Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, [4] Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, [5] Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.[6] Denn Christus ist schon zu der Zeit, als wir noch schwach waren, für uns Gottlose gestorben. [7] Nun stirbt kaum jemand um eines Gerechten willen; um des Guten willen wagt er vielleicht sein Leben. [8] Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. [9] Um wie viel mehr werden wir nun durch ihn gerettet werden vor dem Zorn, nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind. [10] Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind. [11] Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unsern Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben.Zur Bibelstelle).
Während „Versöhnung“ als soteriologische Zuspitzung in der altkirchlichen Theologie nur selten eine Rolle spielt, taucht der Begriff in der Satisfaktionslehre Anselms von Canterbury (gest. 1109) wieder auf. Dieser führt die lateinische Vorstellung von Versöhnung (lat. reconciliatio) mit der Idee der Genugtuung (lat. satisfactio) eng, indem erstere nur durch letztere erreichbar sei. Die grundlegende Vorstellung Anselms ist geprägt von einer mittelalterlichen Rechtsvorstellung, nach der ein Rechtsvergehen eine Ehrverletzung darstellt, die durch eine äquivalente Genugtuung (Satisfaktion) gesühnt werden muss. Mit der Sünde widerspreche der Mensch der göttlichen Schöpfungsordnung und entehre dadurch Gott. Um die Schöpfungsordnung und die Ehre Gottes wiederherzustellen, müsse der Mensch Genugtuung für seine Schuld leisten. Da der Mensch aber nun unter der Sünde sei, habe er selbst keine Möglichkeit mehr, genug zu tun, um eine angemessene Entschädigung und Wiedergutmachung zu leisten.13Vgl. Anselm von Canterbury, Cur Deus Homo, I,11. Zugleich kann Gott laut Anselm aber auch nicht einfach auf eine Wiedergutmachung verzichten.14Vgl. Anselm, Deus, I,12. Gott löse dieses Dilemma auf, indem Gott einen Menschen erschaffe, der in sich notwendigerweise eine menschliche und hinreichenderweise eine göttliche Natur (vgl. Art. Zwei-Naturen-Lehre) trage. Die göttliche Natur erlaube es, der verletzten Ehre Gottes genug zu tun und die menschliche Natur sorge dafür, dass diese Genugtuung auch dem Menschengeschlecht zugerechnet werde.15Vgl. Anselm, Deus, II,7. Auf diese Weise ermöglicht Gott die Versöhnung, auch wenn die Meriten des Versöhnungshandelns den Menschen zugeschlagen werden. Die Leistung, die Anselm zur Wiedergutmachung und Versöhnung von Gott und Welt in Anschlag bringt, ist dabei der freiwillige Tod des wahrhaft unschuldigen Menschen.
Einen zeitgenössischen Gegenentwurf bietet die Versöhnungslehre von Pierre Abaillard (gest. 1142). Dieser weist die Vorstellung einer juridischen Gerechtigkeit durch das Sterben Christi zurück, indem er den Verbrechenscharakter der Kreuzigung betont und bezweifelt, dass eine Handlung wie die Ermordung des Sohnes Gottes geeignet wäre, dem Gerechtigkeitsempfinden Gottes zu entsprechen. Stattdessen interpretiert Abaillard bereits die Menschwerdung Christi als Liebesakt Gottes. Dieser setzt sich in Leben und Sterben Christi fort, in dem jener einerseits als Vorbild und Lehrer für die Menschen fungiert, andererseits mit den Menschen das Schicksal von Gewalt und Tod teilt. Dieser göttliche Akt soll nach Abaillard wiederum Liebe zu Gott in den Menschen auslösen und diese auf den Weg zu einer versöhnten Beziehung stellen.16Vgl. Abaelard, Peter, Expositio in Epistulam ad Romanos, 113–118 (= Peppermüller, Rolf (Übers.), Römerbriefkommentar, Bd. 2, Fontes Christiani 26/2, Freiburg 2000, 281–291).
In der Theologie Jean Calvins (gest. 1564) werden sowohl Anselms Konzept als auch die Hinweise Abaillards aufgegriffen. Calvin bestimmt im Rahmen seiner Lehre vom sog. „dreifachen Amt Christi“ und hier insbesondere in den Ausführungen zum priesterlichen Amt das Handeln Christi als versöhnendes Handeln. Auch bei Calvin tritt Gott zunächst als zürnender Richter auf, der in seiner distributiv verstandenen Gerechtigkeit die Sünde und Schuld der Menschheit ansieht. Diese kann gegen ihre objektive Schuld nichts vorbringen und bedarf deswegen einer Vermittlungsinstanz. Unter Rückbezug auf alttestamentliche Vorstellungen konzipiert Calvin Christus als Hohepriester, der die Möglichkeit hat, durch ein Opfer Fürsprache bei Gott zu erreichen. Das Opfer erlaubt es zugleich, Sünde und Schuld zu sühnen, bzw. diese im Rahmen kultischen Handelns „abzuwaschen“ – offensichtlich taucht hier nun eine Rezeption des alttestamentlichen כִּפּוּר [kippur]-Verständnisses auf. Die Pointe dieser Figur ist nun, dass Christus als Hohepriester selbst das Opfer ist, mit ähnlichen Begründungsmustern wie bei Anselm: Nur Christus sei der Ehre wert gewesen, den Sohn Gottes als Opfer darzubringen, und es müsste der Sohn Gottes sein, um ein ausreichendes Opfer darzustellen.17Vgl. Calvin, Jean, Institutio Christianae religionis II,15,6. Ähnlich wie Abaillard begründet Calvin aber die Menschwerdung Christi mit Gottes Liebe – wenn auch freilich mit anderen Implikationen für das Handeln Christi. Bei Calvin ist die Liebe Gottes vor allem als Gegengewicht zum gerechten Zorn Gottes gedacht. Aus dieser Liebe heraus handelt Gott mit dem Ziel der Versöhnung und Heiligung der Menschheit durch Christus.18Vgl. Calvin, Institutio, II,16,3.
In der Neuzeit kommt das Versöhnungskonzept zu breiterer Prominenz. Neben philosophischen Untersuchungen zum Begriff, wie etwa in den Religionsphilosophien Georg W. F. Hegels (der Versöhnung als Prozessgröße begreift) und Friedrich W. J. Schellings
, wird er auch theologisch breiter rezipiert. Das bei Calvin entwickelte Amtsverständnis mit der hohepriesterlichen Qualität Christi nimmt Friedrich D. E. Schleiermacher
(gest. 1834) wieder auf.19Vgl. Schleiermacher, Friedrich, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche (Band 2), Berlin 1831, §104. Schleiermacher verschiebt den Versöhnungsbegriff in zweierlei Weise maßgeblich: Einerseits nutzt er die beiden Begriffe Versöhnung und Erlösung in unterschiedener und gleichrelevanter Weise, andererseits bekommt das Versöhnungsgeschehen ein individuell-innerliches Gepräge.20Vgl. Schleiermacher, Glaube, §100. Versöhnung wird dabei als die Aufnahme der Gläubigen in die (Lebens-)Gemeinschaft mit Gott verstanden, der die Erlösung von der Sünde vorausgeht.21Vgl. Schleiermacher, Glaube, §103. Im Rahmen dieser Gemeinschaftserfahrung mit Gott kann der jeweilige Mensch eine Neubildung seiner Persönlichkeit in Christus erfahren, was Schleiermacher als Vollendung der Schöpfung des Menschen begreift und hierin Abaillards Konzept aufgreift.
Zum Zentralbegriff wird Versöhnung in der Theologie Albrecht Ritschls (gest. 1889). Ritschl entwickelt seine dreibändige Studie über die Begriffe Versöhnung und Rechtfertigung ausgehend von einem historischen Abriss der Lehrentwicklung, gefolgt von Beschäftigungen mit den biblischen Grundlagen und schließlich einer eigenständigen Entfaltung des Topos. Hierbei wird deutlich, dass Ritschl – im Unterschied zu Schleiermacher – gerade nicht die individuelle Person als Ziel des Versöhnungshandelns Gottes in Christus sieht, sondern vielmehr die christliche Gemeinde.22Vgl. Ritschl, Albrecht, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (Band 3), Bonn 1874, 478f. Innerhalb dieser Gemeinschaft habe der je einzelne Mensch Anteil am glaubensstiftenden Handeln Christi. Die Stiftung des Glaubens ist bei Ritschl als Heilstat Christi soteriologisch aufgeladen, zu der sich die Menschen freiwillig ins Verhältnis setzen können, indem sie der Botschaft des Evangeliums folgen. Bezeichnenderweise ist also bei Ritschl nicht Gott das handelnde Subjekt der Versöhnung, sondern Christus, und die Gemeinde wird zum Medium, durch das Versöhnung vermittelt wird.23Vgl. Ritschl, Lehre, 503f. Direkte Versöhnung mit den Menschen im Sinne einer Individualsoteriologie (bspw. durch Sühnetheologien) weist Ritschl dagegen zurück. Einen Gegenentwurf gegen die Gemeinde- bzw. Kirchenzentriertheit von Ritschl findet sich bei seinem Zeitgenossen Martin Kähler
(gest. 1912), der darauf drängt, dass Gottes Versöhnung nicht mit der Kirche, sondern mit der Welt stattgefunden habe.24Vgl. Kähler, Martin, Zur Lehre von der Versöhnung. Dogmatische Zeitfragen (Alte und neue Ausführungen zur Wissenschaft der christlichen Lehre 2), Leipzig 1898, 413.
In der Theologie Karl Barths (gest. 1968) wird Versöhnung ebenfalls als zentraler Begriff der Soteriologie verwendet. Während Schleiermacher und Ritschl hier vor allem den Menschen in den Blick nehmen, ist bei Barth erneut Gott im Fokus. Versöhnung wird dabei von Barth streng christologisch verstanden: In der Versöhnungslehre werde die Erkenntnis der Einheit der zwei Naturen Christi verhandelt, nämlich Christus als sich selbst erniedrigender und so versöhnender Gott sowie Christus als von Gott erhöhter und versöhnter Mensch.25Vgl. Barth, Karl, Die kirchliche Dogmatik IV/1, Zollikon-Zürich 1953, 83. Dabei betont Barth insbesondere die Freiheit Gottes zur Versöhnung, die durch die Erfüllung von Bundespflichten seitens der Menschen nicht eingeschränkt wird. Stattdessen argumentiert Barth, dass der Bund durch die sich in der Sünde realisierende Abkehr des Menschen bereits gebrochen war und von Gott im Versöhnungsgeschehen durch Christus neu aufgesetzt wird. Versöhnung wird von Barth weiterhin als bereits geschehene Realität konzipiert, die eine einmalige Möglichkeit zur christlichen Gottes- und Menschenerkenntnis bietet. Dabei sind für ihn in den Oberbegriff der Versöhnung andere soteriologische Vollzüge hineingelegt, namentlich die Rechtfertigung, Heiligung und Berufung des Menschen.
4. Aktuelle Problemfelder
4.1. Versöhnung und Ökumene
In der ökumenischen Theologie findet „Versöhnung“ als Gegenbegriff zur schismatischen Trennung von Kirchen im Rahmen der größeren Debatte um die Einheit der Kirche Verwendung.26Vgl. etwa Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz/Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.), Mehr Sichtbarkeit in der Einheit und mehr Versöhnung in der Verschiedenheit. Zu den Chancen einer prozessorientierten Ökumene, Bonn/Hannover 2024, 25.
Weiterführende Infos Konfessionskunde
„Bereits aus den ersten christlichen Gemeinden ist die Mahnung ‚eins‘ oder ‚einig‘ zu sein bekannt (vgl. 1Kor 1,10; Eph 4,3; Joh 17,21 u. a.). Dementsprechend wurde schon in frühen Bekenntnissen die Kirche als die ‚eine, heilige, katholische und apostolische Kirche‘ (Bekenntnis von Nizäa-Konstantinopel) verstanden. In der geschichtlichen, irdischen Realität existiert die Kirche aber in verschiedenen Kirchen und Gemeinden, die z. T. keine Gemeinschaft miteinander pflegen. So kann auch die gesamte Kirchengeschichte als eine Geschichte von Spaltungen und Schismen gelesen werden.“ Heller, Dagmar, Art. Einheit der Kirche, in: Konfessionskunde (https://konfessionskunde.de/themen/begriff/einheit-der-kirche/), abgerufen am 12.02.2025.
Einheit, als eine der notae ecclesiae, wird dabei als konstituierendes Merkmal der von Gott ideal vorgestellten Gemeinde der Christ*innen verstanden. Von diesem Ideal weichen die Kirchen ab, die sich historisch ganz überwiegend durch schmerzhafte Trennungsprozesse ausgebildet haben, die nicht selten mit gegenseitigen Lehrverwerfungen und teilweise auch gegenseitigen Verfolgungen einhergingen. Diese – wiederum als Ausdruck der Sünde in der Welt verstandene – Zertrennung der Kirche gilt es, in Versöhnungsprozesse mit hineinzunehmen. Dabei spielt Versöhnung in der ökumenischen Theologie in mindestens vier Weisen eine Rolle:
- Als bleibende Aufgabe aller Teile der (dogmatisch gesprochen) einen Kirche,
- als Selbstverständnis der Kirche als bereits jetzt durch Gott versöhnte Gemeinschaft (hier regelmäßig in Bezug auf das freie Versöhnungshandeln Gottes, wie es in 2Kor 5,18Aber das alles ist von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt.Zur Bibelstelle ausgesagt ist),
- als spezifische Einheitsvorstellung, namentlich die „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ und schließlich
- (mit einem ethischen Einschlag) als Dienst zur Versöhnung in der Nachfolge Christi.27Dies gilt dann insbesondere auch in Kombination mit den Begriffen Gerechtigkeit und Frieden, wie sie etwa im „Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ oder dem „Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens“ ihren Ausdruck finden. Vgl. Enns, Fernando, Der „Konziliare Prozess“ für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung – Das Wagnis, politische Konsequenzen aus dem Glaubensbekenntnis zu ziehen, in: Kappes, Michael et al. (Hrsg.), Basiswissen Ökumene 1, Paderborn/Leipzig 2017, 275–299, 277.
Gerade die Idee einer Einheit in versöhnter Verschiedenheit hat im ökumenischen Gespräch normative Prägekraft entwickelt. Unter diesem Leitgedanken soll sowohl der Aufgabe der Suche nach Einheit Rechnung getragen werden als auch der genuinen und geschichtlich gewordenen Pluralität christlicher Ausdrucksformen. Einheit in versöhnter Verschiedenheit entsteht dabei nicht durch die Legitimation des Status quo als neuem Normal, sondern vielmehr durch ein kontinuierliches Abbauen bestehender Grenzen und Trennungen (etwa durch die Reevaluation von Lehrverurteilungen), welches gleichwohl die historisch gewachsenen, denominationellen Eigenlogiken und Bedürfnisse wertschätzt.28Vgl. Neuner, Peter, Ökumenische Theologie. Die Suche nach der Einheit der christlichen Kirchen, Darmstadt 1997, 290. Dies kann dogmatisch als Nachvollzug eines vorausgehenden, göttlichen Versöhnungshandelns gedeutet werden, wodurch die zwischenmenschliche und die göttlich-menschliche Beziehungsachse zusammengeführt werden.
4.2. Versöhnung und Unversöhnlichkeit
Insbesondere im Gegenüber zu Unversöhnlichkeitserfahrungen, wie sie unter anderem von Shoah-Überlebenden artikuliert wurden,29Vgl. Améry, Jean, At the Mind’s Limits. Contemplations by a Survivor on Auschwitz and Its Realities, Bloomington/Indianapolis 1980. wird die Freiheit Gottes zur Versöhnung im Angesicht der Opfer von Gewalt angefragt. Das dogmatisch-theologische Problem ist ein doppeltes: Einerseits bedient sich eine Theologie, die vor allem die Freiheit Gottes zur Versöhnung betont, häufig eines Gottesbildes, das die Souveränität Gottes zentral stellt, was aber im Hinblick auf die durch die Shoah radikal gestellte Theodizeefrage unplausibel geworden ist. Andererseits würde eine einseitige Versöhnung durch und mit Gott die Freiheit der Versehrten zur Unversöhnlichkeit infragestellen. Die Frage ist also: Kann Gott Versöhnung vorbei betreiben an der Unversöhntheit und Unversöhnlichkeit der von Sünde und Schuld getroffenen Geschädigten, und wenn ja, sollte Gott unter Absehung ihrer Empfindungen versöhnen? Einige Antwortversuche gehen in die Richtung, die Souveränität Gottes gegen die Anfrage nochmals stark zu machen, indem sie auf die Abhängigkeit der Schöpfung von Gott abstellen, oder aber betonen, dass gerade die Macht Gottes darin liegt, Versöhnung dort zu ermöglichen, wo es zwischenmenschlich nicht gelingt. Es gibt weiterhin auch solche Überlegungen, die eher die Gerechtigkeit Gottes betonen, durch die hindurch Versöhnung – gegebenenfalls auch postmortal – erst ermöglicht, aber nicht erzwungen wird, und die Versöhnung häufig von der soteriologischen Schwerpunktsetzung in eine eschatologische verlagern (vgl. Art. Gericht).30Vgl. Enns, Fernando, „Wie durchs Feuer hindurch“. Theologische Herausforderungen für eine behutsame Rede vom Gericht Gottes – unter Einbeziehung sozialethischer Implikationen, in: Rahner, Johanna/Strübind, Andrea (Hrsg.), Begegnungen – Entgegnungen. Beiträge zur modernen Gottesfrage, kontextuellen Theologie und Ökumene, Leipzig 2015, 23–41, 33, weiterhin Sattler, Dorothea, Versöhnung durch Erinnerung über den Tod hinaus? Zu einigen Aspekten der christlich-ökumenischen Eschatologie, in: JBTh 22 (2007), 297–320, 303–309, sowie Tappen, Julian, Hoffen dürfen. Fundamentaleschatologische Überlegungen zu einer zeitgemäßen Eschatologie der Versöhnung, Regensburg 2021, 172–176. Beide Richtungen können dabei ernst nehmen, dass Gottes Versöhnungshandeln damit einhergeht, Geschädigte und Täter*innen zu affizieren und in ihren Beziehungen zu transformieren, indem beide Positionen als Erlöste vorgestellt werden, ohne die Erfahrungsdifferenz von Täter*in-Sein und Geschädigt-Sein aufzuheben.31Vgl. Link-Wieczorek, Ulrike, Vom Werden des Heils. Eine Replik auf Jürgen Werbick, in: Uwe Swarat/Thomas Söding (Hrsg.), Gemeinsame Hoffnung – über den Tod hinaus. Eschatologie im ökumenischen Gespräch, Freiburg i. B. 2013, 209–226, 225. In dieser Problemstellung wird das Verhältnis von Erlösung und Versöhnung im Vergleich zu Schleiermacher gerade umgedreht: Hier wird Versöhnung (als eschatologische Realität) zur Vorbedingung von Erlösung, um die Freiheit von Täter*innen und Geschädigten nicht zu gefährden.
4.3. Versöhnung als Deutungsangebot für das eigene Leben
Im Zuge von Säkularisierungsprozessen, die westliche Gesellschaften durchlaufen, entplausibilisieren sich Weltdeutungsmuster, die menschliches Handeln und Welterleben in objektiver Abhängigkeit vom Göttlichen beschreiben. An deren Stelle treten Erfahrungen, die das menschliche Leben als kontingent oder – schlimmerenfalls – durch Krisen gebrochen zeigen. Die christliche Versöhnungslehre kann dies insofern aufnehmen, als sie diese Erfahrungen zunächst als konkret-historische Ausformungen des Sündenparadigmas interpretiert (hier einerseits anschließend an Vorstellungen struktureller Sünde, wie sie in der Befreiungstheologie formuliert werden, andererseits an Modelle eines „christlichen Unheilsrealismus“).32Vgl. Link-Wieczorek, Ulrike, Leben mit Schuld und Mitschuld. Sünde, Schuld, Scham und Versöhnung. Einleitung, in: Link-Wieczorek, Ulrike (Hrsg.), Verstrickt in Schuld, gefangen von Scham? Neue Perspektiven auf Sünde, Erlösung und Versöhnung, Neukirchen-Vluyn 2015, 7–21,10, 13. Dies schließt explizit auch solche Verschuldungszusammenhänge ein, die Menschen mit aufrechterhalten, ohne es eigentlich aktiv zu wollen, oder wo sie selbst zu Täter*innen geworden sind und nunmehr keine Möglichkeit haben oder sehen, dies aufzuheben.33Vgl. hierzu auch Tappen, Hoffen, 131–148. Die Reaktion Gottes durch die freie Versöhnungstat in Christus kann demgegenüber als Zusage verstanden werden, dass die erfahrenen Schuldverstrickungen nicht die letztendliche Prägung des gelebten Lebens darstellen müssen. Stattdessen kann der einzelne Mensch davon ausgehen, dass eine Neuschöpfung seiner zerstörten Beziehungen möglich ist und von Gott auch schon aufgerichtet wurde34Vgl. Sattler, Versöhnung, 308. – nicht in der Form unterschiedsloser Aufhebung von Schuld, sondern als Bedingung der Möglichkeit für einen gelingenden Neuanfang oder eine gelingende Fortsetzung innerweltlich-vorläufiger, menschlicher Versöhnungsbemühungen.