Theodizee

Dieser Artikel bietet eine Einführung in das Theodizeeproblem und die Versuche seiner argumentativen Bewältigung. Dazu werden wirkmächtige religionsphilosophische und theologische Konzepte sowie deren Kritik besprochen. Die Analyse führt schließlich zum Plädoyer für eine leidsensible Theologie, die die Theodizeefrage bewusst offenhält.

Inhaltsverzeichnis

    1. Definition und Begriff

    Wie kann man in einer Welt voll Bösem, Übel und Leiden vernünftigerweise an einen Gott glauben, der allgütig und allmächtig ist? Der Versuch, diese Frage auf rationale Weise zu beantworten, wird in der Religionsphilosophie und Theologie „Theodizee“ genannt. Der Begriff „Theodizee“ bezeichnet also das theoretische Unterfangen einer Rechtfertigung des Glaubens an einen allgütigen und allmächtigen Gott angesichts des Übels in der Welt (wobei der Begriff des Übels hier und im Folgenden sowohl moralisch Böses als auch physische Leiden umfasst). Er setzt sich aus den beiden altgriechischen Begriffen θεός (theos = Gott) und δίκη (dike = Gerechtigkeit) zusammen. Oft wurde er darum so verstanden, als ginge es um einen Gerechtigkeitserweis oder eine Rechtfertigung von Gott selbst vor dem Gerichtshof der menschlichen Vernunft. Heute wird „Theodizee“ jedoch meistens so interpretiert, dass es nicht um eine Rechtfertigung Gottes geht, sondern um eine Rechtfertigung des Glaubens an Gott.

    Der Begriff „Theodizee“ stammt vom Philosophen und Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz oes-gnd-iconwaiting... (1646–1716), der ihn in einem Brief aus dem Jahre 1697 erstmals in terminologischem Anschluss an Röm 3,5Ist’s aber so, dass unsre Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit erweist, was sollen wir sagen? Ist Gott dann nicht ungerecht, wenn er zürnt? – Ich rede nach Menschenweise. –Zur Bibelstelle gebraucht. Er verwendet ihn später im Titel seiner einschlägigen Schrift zum Thema: Essais de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal (1710). Der Begriff der Theodizee ist zwar neuzeitlich, doch das durch ihn bezeichnete Sachproblem, das Theodizeeproblem, ist schon viel älter. Es stellte sich etwa in der antiken Philosophie. Berühmt und oft zitiert ist die folgende, Epikur oes-gnd-iconwaiting... (um 341/342–370/371 v. Chr.) zugeschriebene Argumentation:

    Entweder will Gott die Übel (lat. mala) beseitigen und kann es nicht,
    oder er kann es und will es nicht,
    oder kann es nicht und will es nicht,
    oder er kann es und will es.
    Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft.
    Wenn er kann und nicht will, dann ist er mißgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist.
    Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl mißgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott.
    Wenn er aber will und kann, was alleine für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel, und warum nimmt er sie nicht weg?1Epikur, Von der Überwindung der Furcht, eingel. u. übertr. v. Gigon, Olof, Zürich/Stuttgart 21968, 80.

    Epikur formulierte mit diesen Worten eine Kritik an der Vorstellung der Götter und des Kosmos der griechischen Tradition. Doch wurden Epikurs Aussagen später oft als klassische Formulierung des Theodizeeproblems rezipiert, weil sie sich als Ausdruck des basalen Theodizee-Trilemmas verstehen ließen: 1. Gott ist allgütig, 2. Gott ist allmächtig, 3. das Übel existiert. Da in der Diskussion neben der Allgüte und  der Allmacht Gottes noch andere Eigenschaften Gottes wie Vollkommenheit, Weisheit, Allwissenheit, Liebe und Gerechtigkeit Gottes begegnen, macht es jedoch Sinn, das Theodizeeproblem nicht als Trilemma, sondern als Widerspruch zu konzipieren: Als fundamentalen Widerspruch zwischen der Existenz Gottes und der Übel.

    2. Das Theodizeeproblem als Thema der Religionsphilosophie

    Leibniz oes-gnd-iconwaiting... hat nicht nur das Kunstwort „Theodizee“ geschaffen, sondern seine Essais de théodicée sind auch prägend geworden für die inhaltliche Durchführung dessen, was man seither als „Theodizee“ bezeichnet:

    Leibniz setzt die beginnende, neuzeitliche Krise des Gottesgedankens voraus, wenn er seine aufklärerische Rechtfertigung Gottes am Maßstab der autonomen Vernunft vornimmt. Ausgangspunkt seiner Argumentation bildet die optimistische Annahme, dass der allgütige, allmächtige, allwissende Gott durch seine Vernunft aus einer unendlichen Zahl möglicher Welten, die bestmögliche Welt gewählt und geschaffen hat. Die bestmögliche Welt ist eine (nicht nur die Erde umfassende) zweckmäßig eingerichtete, optimal abgestimmte, harmonisch zusammenwirkende Welt größter Mannigfaltigkeit und Ordnung. Gegen den Einwand, die Welt hätte doch ohne Sünde und Leiden sein können, erwidert Leibniz:

    Wenn somit das geringste Übel, das in der Welt geschieht, in ihr fehlte, so würde sie nicht mehr diese Welt sein, die, alles in Rechnung gestellt, von dem Schöpfer, der sie erwählt hat, als die beste befunden worden wäre.2Leibniz, Gottfried Wilhelm, Essais de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal/Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, zweisprachige Ausgabe, hrsg. u. übers. v. Herbert Herring, in: Leibniz, Gottfried Wilhelm, Philosophische Schriften II/1 u. II/2, Darmstadt 1985, I §9, 221.

    Die Übel bilden also Implikate der bestmöglichen Welt. Anders als die Tradition vor ihm unterscheidet Leibniz drei Arten des Übels (lat. malum): Das metaphysische Übel besteht in der Endlichkeit und Vollkommenheitsbeschränkung des Geschöpfes. Die Notwendigkeit desselben bildet zugleich die Möglichkeit des moralischen und physischen Übels. Gott will das durch die menschliche Freiheit verschuldete moralische Übel (das Böse) nicht, lässt es aber zu. Während er das physische Übel (Leiden) zwar auch nicht direkt will, dieses aber doch zur Verhinderung größerer Übel, als Strafe oder als Erziehungsmittel seinen Zweck hat.

    Leibniz’ Theodizee wurde schon früh und in verschiedener Hinsicht kritisiert. Eine wesentliche Kritik richtete sich gegen sein Verständnis des Übels. Ist er nicht – im Blick auf alle drei Arten – dazu geneigt, die Übel zu entübeln, sie schlicht zu verharmlosen? Als 1755 die Stadt Lissabon durch ein furchtbares Erdbeben verwüstet wurde und mehrere tausend Menschen dabei starben, geriet darum auch seine „Theodizee“ ins Wanken. Eine optimistische Rechtfertigung Gottes erschien damals vielen nicht mehr glaubwürdig. So kritisierte etwa Voltaire oes-gnd-iconwaiting... Leibniz in seinem satirischen Roman Candide ou l’optimisme (1759).

    Doch nicht nur von literarischer, sondern auch von philosophischer Seite wurden Rückfragen laut. Immanuel Kant oes-gnd-iconwaiting... hat seine Kritik in einem 1791 erschienenen Aufsatz mit dem Titel Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee formuliert. Er kommt darin zu folgendem Schluss:

    Der Ausgang dieses Rechtshandels vor dem Gerichtshofe der Philosophie ist nun: daß alle bisherige Theodicee das nicht leiste, was sie verspricht, nämlich die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die Zweifel, die dagegen aus dem, was die Erfahrung an dieser Welt zu erkennen gibt, gemacht werden, zu rechtfertigen.3Kant, Immanuel, Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, AA VIII, 263.01–05.

    Eine doktrinale Theodizee in der Art und Weise wie Leibniz sie vertritt, muss scheitern. Kant stellt ihr eine authentische Theodizee entgegen, wie er sie in der biblischen Gestalt Hiobs symbolisiert sieht. Für Hiob sind Gottes Güte und Allmacht angesichts seines massiven Leidens nur noch „Glaubenssache“, die nicht mehr mit der Vernunft erwiesen werden kann. Im Anschluss daran argumentiert auch Kant, dass die Erkenntnis der Güte Gottes immer nur Sache der praktischen, nicht aber der theoretischen Vernunft sein könne.

    Es ist hier nicht möglich, die vielfältigen modernen Diskussionen des Theodizeeproblems wiederzugeben. Exemplarisch sei aber zumindest auf das weitaus wichtigste und meistdiskutierte Argument hingewiesen: die sog. free will defense.

    Die Wurzeln der free will defense gehen zurück auf den frühen Augustin oes-gnd-iconwaiting..., der das Böse auf die durch freien Willen begangene Sünde zurückführte. Im 20. Jahrhundert wurde diese Argumentation im Kontext der analytischen Religionsphilosophie von Alvin Plantinga oes-gnd-iconwaiting... als zentrales Argument weiterentwickelt. Entscheidend ist dabei die Unterscheidung zwischen theodicy und defense. Während die theodicy eine Begründung zu bieten versucht, warum Gott die Übel in der Welt zulässt, argumentiert die defense lediglich dafür, dass solche Gründe existieren können, ohne zu behaupten diese tatsächlich auch zu kennen. Plantinga argumentiert folglich, dass kreatürliche Freiheit als ebensolcher, möglicher Grund in Frage kommt. Da Freiheit konstitutiv mit der Möglichkeit verbunden ist, Böses zu tun, müsse Gott auch das Böse in Kauf nehmen. Plantingas Argument setzt also keine Klärung voraus, ob und wie das Böse tatsächlich realisiert wird. Er will einzig das logische (oder deduktive) Argument der Widersprüchlichkeit der Existenz Gottes und des (moralischen) Übels widerlegen und zeigen, dass die Koexistenz beider denkmöglich ist.

    Alvin Plantinga – Does Evil Disprove God? (Closer To Truth), 10.11.2014.

    Damit stellt sich die Frage, ob diese Denkmöglichkeit in unserer Welt auch tatsächlich vertreten werden kann. Das empirische (oder induktive) Argument widerstreitet dieser Annahme. Es sei angesichts der Tatsache des Übels in der Welt doch sehr oder völlig unwahrscheinlich, dass ein allgütiger und allmächtiger Gott existiere. Zur Widerlegung dieses Argumentes wurden Theodizeen vorgebracht, die dem Übel seitens Gottes einen gewissen Zweck zuschreiben: Als göttliche Strafe, als Erziehungsmittel u. a. Oder es wurde unter Hinweis auf die menschlichen Erkenntnisgrenzen argumentiert, dass wir zwar keine Gründe angeben können, warum Gott Übel zulässt, wir aber dennoch nicht wissen können, ob Gott nicht doch Gründe haben könnte, solche Übel zuzulassen.

    Gegenüber den eben referierten Theodizeen (und Verteidigungen) in der analytischen Religionsphilosophie wurde von verschiedener Seite Kritik laut. Es sind Kritiken, die sich auf spezifische materiale Aspekte beziehen (1), aber auch auf die Legitimität solcher Theodizeen überhaupt (2):

    1. Zu den Erstgenannten zählt etwa die Rückfrage, ob solche Theodizeen die Übel nicht verharmlosen oder missinterpretieren – zum Beispiel indem sie das ausblenden, was man in der Befreiungstheologie und politischen Theologie als strukturelles, soziales Übel bezeichnet, so dass Theodizeen diese Übel sogar stabilisieren oder verstärken helfen – oder indem sie in teilweise überzogener Weise alle Übel direkt oder indirekt auf das moralisch Böse zurückführen, obwohl sich nicht jedes menschliche oder tierische Leiden so verrechnen lässt. Zudem ist zu fragen, ob Freiheit (wie immer man sie genau versteht) tatsächlich ein derart hohes Gut darstellt, dass sie all das schreckliche quantitative und qualitative Ausmaß an moralischem und physischem Übel aufwiegt, das Menschen und Tiere erlitten haben und erleiden.
    2. Die zweite Gestalt der Kritik liegt auf einer Metaebene: Sie richtet sich gegen das Unternehmen der Theodizee als solches, indem etwa kritisiert wird, Theodizeevertretende hätten den Sinn für die tragische Lebensdimension verloren, Theodizeen seien selbst moralisch fragwürdig, ja übel-produktiv.4Vgl. z. B. Tilley, Terrence W., The Evils of Theodicy, Eugene 22000. Solche Fundamentalkritiken werden auch als „Antitheodizeen“5Wiertz, Oliver J., Das Problem des Übels in der analytischen Religionsphilosophie. Geschichtliche Stationen und Kritik, in: Ders. (Hrsg.), Logische Brillanz – Ruchlose Denkungsart? Möglichkeiten und Grenzen der Diskussion des Problems des Übels in der analytischen Religionsphilosophie, Münster 2021, 29–104, 57–59. bezeichnet.

    3. Das Theodizeeproblem als Thema der Theologie

    Es lässt sich keine trennscharfe Unterscheidung zwischen theologischen und (religions‑)philosophischen Theodizeeversuchen vornehmen. So finden sich zum Beispiel schon bei Augustin oes-gnd-iconwaiting... ordnungstheoretische (Übel als Funktionselement einer umfassenden Ordnung), privationstheoretische (Übel als bloßer Mangel an Gutem) und (erb‑)sündentheoretische (das Übel als Sündenfolge) Entlastungsversuche Gottes,6Vgl. Kessler, Hans, Gott und das Leid seiner Schöpfung. Nachdenkliches zur Theodizeefrage, Würzburg 2000, 22–37. die später nicht nur in theologischen, sondern auch philosophischen Entwürfen weiter ausgearbeitet werden. Man könnte diesbezüglich von theodizeeanalogen Entlastungsversuchen sprechen.7Zu diesem Begriff vgl. Geyer, Carl-Friedrich, Art. Theodizee, Philosophisch, in: TRE 33 (2002), 231–237, 232. Zudem gibt es Theodizeen, die im Schnittbereich zwischen Theologie und Religionsphilosophie anzusiedeln sind, wie etwa die prozesstheologische Auseinandersetzung mit dem Problem des Übels8Vgl. Griffin, David R., God, Power, and Evil. A Process Theodicy, Philadelphia 1976; Griffin, David R., Evil Revisited. Responses and Reconsiderations, Albany 1991. oder Eleonore Stumps oes-gnd-iconwaiting... Ansatz,9Vgl. Stump, Eleonore, Wandering in Darkness. Narrative and the Problem of Suffering, Oxford 2010. der eine neue Perspektivierung des Leidens als Mittel zur Vertiefung und Heilung der Gottesbeziehung vornimmt:

    The Limits of Theodicy – Eleonore Stump (The Table, Biola CCT), 20.03.2018.

    Trotz diverser Überschneidungen ist aber doch die entscheidende Differenz nicht zu übersehen: Anders als die religionsphilosophischen Theodizeen theistischer Prägung geht die Theologie von einem Gottesverständnis aus, das fundamental durch die Schriftbezogene Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus bestimmt ist. Das betrifft einerseits die Gottesprädikate wie Allgüte und Allmacht. Es manifestiert sich andererseits im Verständnis des Übels: Es wird insbesondere als Sünde gedeutet und ist das in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi bereits ultimativ überwundene (z. B. 2Kor 5,19Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.Zur Bibelstelle; Kol 1,14in dem wir die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden.Zur Bibelstelle; Kol 2,14f.[14] Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn aufgehoben und an das Kreuz geheftet. [15] Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und über sie triumphiert in Christus.Zur Bibelstelle) und am Ende vollständig vernichtete Übel (vgl. 1Kor 15,20–28[20] Nun aber ist Christus auferweckt von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. [21] Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. [22] Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden. [23] Ein jeder aber in der für ihn bestimmten Ordnung: als Erstling Christus; danach die Christus angehören, wenn er kommen wird; [24] danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergeben wird, nachdem er vernichtet hat alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt.[25] Denn er muss herrschen, bis Gott »alle Feinde unter seine Füße gelegt hat« . [26] Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. [27] Denn »alles hat er unter seine Füße getan« . Wenn es aber heißt, alles sei ihm unterworfen, so ist offenbar, dass der ausgenommen ist, der ihm alles unterworfen hat. [28] Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, auf dass Gott sei alles in allem.Zur Bibelstelle.55Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?Zur Bibelstelle). Wo entsprechend dieser christologischen Formatierung Gott und das Leiden enger relationiert wurden, fand das Unternehmen der Theodizee – zumal nach „Auschwitz“! – kaum noch Zustimmung. Das sei an zwei wirkmächtigen Konzepten illustriert:

    1. In verschiedenen Entwürfen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dafür votiert, auf das Prädikat der Allmacht Gottes zu verzichten. Während in Jürgen Moltmanns oes-gnd-iconwaiting... Kreuzestheologie eine vollständige Verohnmächtigung Gottes am Kreuz noch trinitarisch aufgefangen wird,10Vgl. Moltmann, Jürgen, Der gekreuzigte Gott, München 1972. vertritt der jüdische Philosoph Hans Jonas oes-gnd-iconwaiting... eine mit der Schöpfung anhebende vollständige Machtentsagung des an und mit der Welt leidenden Gottes, die auch ein späteres Einwirken ausschließt.11Vgl. Jonas, Hans, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a. M. 1984. Bei Dorothee Sölle oes-gnd-iconwaiting... spitzt sich die Vorstellung vom leidenden Gott so zu, dass das erlösende Aktionszentrum nunmehr den Menschen zugeschrieben wird, da der zu erlösende, leidende Gott „keine anderen Hände als die unseren“12Sölle, Dorothee, Leiden, Stuttgart/Zürich 2002 (1973), 167. hat. Diese drei hier exemplarisch aufgeführten Entwürfe können der These vom leidenden Gott zugerechnet werden, der noch vor wenigen Jahren nachgesagt wurde, sie sei zu einer Art „neuen Orthodoxie“ avanciert.13Vgl. Dietrich, Walter/Link, Christian, Die dunklen Seiten Gottes 2, Neukirchen-Vluyn 2000, 296. Vgl. auch Hermanni, Friedrich, Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung, Gütersloh 2002, 242. Gemeinsam ist all diesen Entwürfen, dass sie das im 20. Jahrhundert enorm verschärfte Theodizeeproblem durch Zurücknahme des Allmachtsprädikates stillzulegen versuchen. Eine herkömmliche Theodizee wird abgelehnt, gleichzeitig wird jedoch durch einen theodizeeanalogen Entlastungsversuch Gottes Allgüte zu retten versucht.
    2. Karl Barth oes-gnd-iconwaiting... hat in seiner berühmten Abhandlung über Gott und das Nichtige in KD III/ §50 einen sehr eigenwilligen Zugang zum Problem des Übels entwickelt, der sich weder dem augustinisch-sündenzentrierten noch dem irenäischen Theodizeetypus, der das Übel im Rahmen einer göttlichen Pädagogik auf den menschlichen Reifungsprozess bezieht, zuordnen lässt.14Gegen Hick, John, Evil and the God of Love, New York 22007. Dieser Ansatz zeichnet sich einerseits durch eine unheimliche, Gott belastende Problemverschärfung aus: Barth bestimmt – entgegen einer neuzeitlich-modernen Tendenz zur Moralisierung und Verharmlosung des Bösen – „das Nichtige“ als Gewebe einer eminent destruktiven Negativmacht, die sowohl Sünde, physische Übel, Tod, Chaos, Teufel und Dämonen umfasst. Gleichzeitig meint Barth jedoch, dieses Nichtige habe seinen „Grund in Gottes Unwillen“15Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik III/3, Zürich 1950, 416, vgl. 407 (Herv. gelöscht MW). und sei damit primär „Gottes eigenes Problem“16Barth, KD III/3, 409 (Herv. gelöscht MW)., indem er es im Kreuz Jesu Christi selbst erleide – und endlich auch besiege. Der ungemeinen Belastung des Gottesgedankens durch die Wirklichkeit des Nichtigen geht also gleichzeitig eine in Jesus Christus ergehende Selbstrechtfertigung Gottes einher, die Gott entlastet und das Theodizeeproblem gleichsam christologisch einzieht. Denn in Jesus Christus ist nach Barth sowohl die Frage nach der Wirklichkeit und Funktion des Nichtigen als auch die Antwort auf diese Frage bereits gegeben. Eine Theodizee geht fehl.
      Während die Positionen der „These vom leidenden Gott“ mit der Zurücknahme der (All‑)Macht Gottes gleichzeitig die Hoffnung auf seine eschatologische Erlösung von allem Übel unterlaufen, hat die Position Barths die Tendenz, das Nichtige als in Kreuz (und Auferstehung) bereits objektiv besiegtes anzusehen, so dass jede Frage an Gott schon beantwortet ist und die bleibenden Übel als christologisch überholte verharmlost werden.

    Aus der Sicht einer aktuellen leidsensiblen Theologie machen religionsphilosophische Verteidigungen insofern Sinn, als sie vor dem Forum einer atheistischen, agnostischen oder fremdreligiösen, aber auch christlich-internen Kritik zeigen können, dass der Gottesglaube auch angesichts des Übels in der Welt logisch konsistent sein kann, es also nicht irrational ist, einen Gottesglauben zu vertreten – auch wenn damit noch nicht präzisiert ist, wie dieser inhaltlich näher zu bestimmen ist. Kritisch zu betrachten sind aus dieser Sicht jedoch religionsphilosophische und theologische Theodizeen und theodizeeanaloge Entlastungsversuche, die die Übel entübeln oder Gottes Erlösungsmacht derart relativieren, dass auch die christliche Hoffnung auf eine Erlösung (in) der Welt letztlich aufgegeben wird. Eine leidsensible Theologie ist anders als solche Theodizeen und Theodizeeanalogien darauf bedacht, die Theodizeefrage17Vgl. zur Rede von der Theodizeefrage z. B. Moltmann, Jürgen, Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, München 1980, 63–68, sowie Metz, Johann Baptist, Theologie als Theodizee?, in: Oelmüller, Willi (Hrsg.), Theodizee. Gott vor Gericht?, München 1990, 103–118. offenzuhalten bis zum Anbruch des Eschatons. Dabei hat diese Frage nicht den theoretischen Status einer reflexiven Rechtfertigung des Gottesglaubens, sie liegt auf einer glaubenspraktischen Ebene und richtet sich direkt an Gott, von dem sie angesichts des ungeschönten Nichtigen alles erhofft. Die Theodizeefrage entspricht so der biblisch wichtigen Gebetsform der Klage, die fragt: „Wie lange, Herr?“ (Ps 13,2Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen?Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?Zur Bibelstelle). Eine „Theodizee“ wäre für eine leidsensible Theologie höchstens denkbar im Kontext der eschatologischen Selbstrechtfertigung Gottes bei seiner erlösenden Vollendung der gesamten Schöpfung.18Vgl. auch Pannenberg, Wolfhart, Systematische Theologie, Bd. III, Göttingen 1993, 677–694.

    Weiterführende Infos WiBilex

    „Die biblische Klage steht unzweifelhaft in Verbindung zu institutionellen Formen des Rechtswesens und des Kultes, versteht sich jedoch zunächst als ein sprachlich-textliches Phänomen. In der Heiligen Schrift geben die Texte der Klage Erfahrungen unterschiedlicher Notsituationen Raum. Diese bedrohlichen Umstände und Situationen können konkret benannt werden, finden zumeist aber metaphorischen Ausdruck. Dabei können Klagephänomene auf der Ebene des individuellen wie des kollektiven Schicksals unterschieden werden. Die Texte der Klage spiegeln die Wahrnehmung, dass die umgebende Welt und die persönliche Situation des Sprechers nicht so erfahren werden, wie sie von der in der Glaubenstradition überlieferten Zusage Gottes her gewollt sind.“ Schönemann, Hubertus, Art. Klage (AT), in: WiBiLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/23592/), abgerufen am 28.01.2025.

    Literaturangaben

    Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik III/3, Zürich 1950.

    Dalferth, Ingolf U., Malum. Theologische Hermeneutik des Bösen, Tübingen 2008.

    Ekstrom, Laura W., Art. Theodicies, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2024 Edition), 08.08.2024 (https://plato.stanford.edu/archives/fall2024/entries/theodicies/), abgerufen am 27.09.2024.

    Jonas, Hans, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a.M. 1984.

    Leibniz, Gottfried Wilhelm, Essais de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal/Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, zweisprachige Ausg. hg. u. übers. v. H. Herring, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften II/1 u. II/2, Darmstadt 1985.

    Marquardt, Odo, Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie, in: ders., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, 2001 (1986), 11-32.

    Plantinga, Alvin, God, Freedom and Evil, London 1975.

    Stump, Eleonore, Wandering in Darkness. Narrative and the Problem of Suffering, Oxford 2010.

    Tooley, Michael, Art. The Problem of Evil, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2021 Edition), 16.09.2002 (https://plato.stanford.edu/archives/win2021/entries/evil/), abgerufen am 27.09.2024.

    Einzelnachweise

    • 1
      Epikur, Von der Überwindung der Furcht, eingel. u. übertr. v. Gigon, Olof, Zürich/Stuttgart 21968, 80.
    • 2
      Leibniz, Gottfried Wilhelm, Essais de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal/Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, zweisprachige Ausgabe, hrsg. u. übers. v. Herbert Herring, in: Leibniz, Gottfried Wilhelm, Philosophische Schriften II/1 u. II/2, Darmstadt 1985, I §9, 221.
    • 3
      Kant, Immanuel, Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, AA VIII, 263.01–05.
    • 4
      Vgl. z. B. Tilley, Terrence W., The Evils of Theodicy, Eugene 22000.
    • 5
      Wiertz, Oliver J., Das Problem des Übels in der analytischen Religionsphilosophie. Geschichtliche Stationen und Kritik, in: Ders. (Hrsg.), Logische Brillanz – Ruchlose Denkungsart? Möglichkeiten und Grenzen der Diskussion des Problems des Übels in der analytischen Religionsphilosophie, Münster 2021, 29–104, 57–59.
    • 6
      Vgl. Kessler, Hans, Gott und das Leid seiner Schöpfung. Nachdenkliches zur Theodizeefrage, Würzburg 2000, 22–37.
    • 7
      Zu diesem Begriff vgl. Geyer, Carl-Friedrich, Art. Theodizee, Philosophisch, in: TRE 33 (2002), 231–237, 232.
    • 8
      Vgl. Griffin, David R., God, Power, and Evil. A Process Theodicy, Philadelphia 1976; Griffin, David R., Evil Revisited. Responses and Reconsiderations, Albany 1991.
    • 9
      Vgl. Stump, Eleonore, Wandering in Darkness. Narrative and the Problem of Suffering, Oxford 2010.
    • 10
      Vgl. Moltmann, Jürgen, Der gekreuzigte Gott, München 1972.
    • 11
      Vgl. Jonas, Hans, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a. M. 1984.
    • 12
      Sölle, Dorothee, Leiden, Stuttgart/Zürich 2002 (1973), 167.
    • 13
      Vgl. Dietrich, Walter/Link, Christian, Die dunklen Seiten Gottes 2, Neukirchen-Vluyn 2000, 296. Vgl. auch Hermanni, Friedrich, Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung, Gütersloh 2002, 242.
    • 14
      Gegen Hick, John, Evil and the God of Love, New York 22007.
    • 15
      Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik III/3, Zürich 1950, 416, vgl. 407 (Herv. gelöscht MW).
    • 16
      Barth, KD III/3, 409 (Herv. gelöscht MW).
    • 17
      Vgl. zur Rede von der Theodizeefrage z. B. Moltmann, Jürgen, Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, München 1980, 63–68, sowie Metz, Johann Baptist, Theologie als Theodizee?, in: Oelmüller, Willi (Hrsg.), Theodizee. Gott vor Gericht?, München 1990, 103–118.
    • 18
      Vgl. auch Pannenberg, Wolfhart, Systematische Theologie, Bd. III, Göttingen 1993, 677–694.

    Zitierweise

    Wüthrich, Matthias D.: „Theodizee“, Version 1.0, in: Onlinelexikon Systematische Theologie, 1. Mai 2025. DOI: https://doi.org/10.15496/publikation-105567

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