Postkoloniale Theologien

Postkoloniale Theologien untersuchen kritisch die Prägungen der Theologie durch die Kolonialzeit und erarbeiten Lösungsstrategien für problematische Auswirkungen in der Gegenwart. Sie entstanden aus einer globalen akademischen Bewegung zur Aufarbeitung der Erblasten des Kolonialismus. Inzwischen erfassen sie praktisch alle Bereiche und Themen der Theologie.

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    1. Entstehung und Grundlagen

    Den Ausgangspunkt postkolonialer Studien bilden Untersuchungen in den Literaturwissenschaften früherer britischer und französischer Kolonien in Afrika und Asien in den Jahrzehnten nach der staatlichen Unabhängigkeit. Diese wiesen eine langanhaltende, unterbewusst nachwirkende Abhängigkeit von geistigen, aber auch wirtschaftlichen und politischen Strukturen des Kolonialismus nach. Als erstes grundlegendes Werk gilt die Studie „Orientalismus“ von Edward Said oes-gnd-iconwaiting... (1978). Von den Literaturwissenschaften breitete sich die postkoloniale Kritik schnell auch in zahlreiche andere akademische Bereiche aus, nicht zuletzt auch in die Theologie.

    Eine ähnlich gelagerte, parallele Entwicklung in Lateinamerika bezog von Anfang an stärker auch wirtschaftliche und politische Kontinuitäten zum Kolonialismus mit ein. Diese Kontinuitäten bezeichnet man mit einem Begriff von Aníbal Quijano oes-gnd-iconwaiting... als Kolonialität. In Lateinamerika verwenden kolonialismuskritische Arbeiten häufig die Selbstbezeichnung „dekolonial“, um deutlicher auf die Notwendigkeit der Überwindung der Kolonialität aufmerksam zu machen. Eine klare Unterscheidung oder gar Trennung der beiden Strömungen (post- und dekolonial) lässt sich jedoch inhaltlich nicht aufrechterhalten.

    Etwa seit der Jahrtausendwende lässt sich eine wachsende Zahl von theologischen Veröffentlichungen verzeichnen, die sich von den postkolonialen Studien anregen lassen.1Vgl. Duggan, Joseph,  Erkenntnistheoretische Diskrepanz. Zur Entkolonialisierung des postkolonialen theologischen „Kanons“, in: Concilium 49/2 (2013), 135–142. Standen zunächst biblische, missions– und religionswissenschaftliche Themen im Vordergrund, so wurde die Methodik schnell auch von feministischen Theologinnen aufgegriffen und umfasst heute praktisch alle Bereiche und Themen der Theologie. Seit etwa 2013 lässt sich auch von einer Rezeption postkolonialer Theologien in Deutschland sprechen.2Vgl. Nehring, Andreas/Tielesch, Simon (Hrsg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013.

    Weiterführende Infos

    Zum Begriff „Postkolonialismus“ vgl. den Eintrag im Postkolonialen Wörterbuch:
    https://postkoloniales-woerterbuch.uni-koeln.de/index.php?n=Main.Postkolonialismus, abgerufen am 02.06.2025.

    Für weiterführende Informationen zu „Dekolonialismus“ aus afrikanischer Perspektive:
    Niang, Alioune, Art. Dekolonialismus, in: Grundbegriffe der Politischen Bildung, 17.08.2022 (https://profession-politischebildung.de/grundlagen/grundbegriffe/dekolonialismus/), abgerufen am 02.06.2025.

    2. Grundfragen postkolonialer Theologien

    Das Grundproblem, das von postkolonialen Untersuchungen bearbeitet wird, ist die Kontinuität kolonialer Denkweisen und Machtstrukturen nach dem Ende des Kolonialismus. Auch Jahrzehnte (oder, wie im Fall Lateinamerikas, auch Jahrhunderte) nach der staatlichen Unabhängigkeit lässt sich diese Kolonialität nachweisen. Postkoloniale Theologien machen auf eine doppelte Verbindung der Theologie mit dem Kolonialismus aufmerksam: Einerseits diente die Theologie der Kolonialzeit als Legitimation für die europäische Expansion, Unterwerfung und Ausbeutung ganzer Kontinente. Andererseits war die Entwicklung der Theologie in den vergangenen fünfhundert Jahren immer auch von denselben philosophischen Strömungen geprägt, welche ihrerseits den geistesgeschichtlichen Hintergrund des Kolonialismus bildeten. Diese wechselseitige Abhängigkeit wird in den postkolonialen Theologien aufgedeckt, um ihr Widerstand entgegen zu bringen und sich von ihr zu lösen.

    Der Vielfalt kolonialer Herrschaftsstrukturen entspricht dabei eine Vielfalt theologischer Kolonialitäten: Sie betreffen politische und wirtschaftliche Unterwerfung, Landraub, Genozide, die Sklaverei, die Abwertung anderer Religionen, das Patriarchat (vgl. Art. Feministische Theologie). Auch die mentalen und epistemischen Strukturen, die sich in den konkreten Herrschaftsansprüchen ausdrücken und sie ermöglichen, stehen im Fokus postkolonial-theologischer Kritik, wie der europäische Überlegenheitsanspruch, White Supremacy, das Fortschrittsdenken, der Rassismus, die Dominanz heteropatriarchaler Sexualitäten, die Subjekt-Objekt-Spaltung usw. Ein wichtiges Objekt postkolonialer Kritik ist die Praxis des Othering, also die Zuschreibung als anders beschriebener Charaktereigenschaften an eine Gruppe von Menschen mit dem Ziel, diese zu dominieren.

    In all diesen Erfahrungsbereichen lassen sich Querverbindungen zu theologischen Themen nachweisen. Postkoloniale Theologie deckt auf, inwiefern biblische und andere theologische Texte, aber auch kirchliche Praktiken und Institutionen in vielfältiger Weise vom Kolonialismus beeinflusst wurden und diesen selbst legitimierten und stützten. Da seine Erblasten bis in die Gegenwart reichen, muss auch die gegenwärtige Theologie kritisch auf ihre Kolonialität angefragt werden, und zwar in der gesamten Breite der Theologie.

    3. Die gesamte Breite der Theologie

    Ähnlich wie die postkolonialen Studien aus den Literaturwissenschaften entstanden, stehen in ihrer theologischen Rezeption zunächst biblische Texte im Fokus postkolonialer Kritik. Hier geht es einerseits darum, den Missbrauch biblischer Texte für koloniale Verhältnisse, Rassismus, Patriarchat usw. aufzudecken und zu kritisieren. Andererseits wird jedoch auch die koloniale Prägung der Exegese kritisiert. Die Autorität unterschiedlicher Leser*innen wird mit den Machtstrukturen, denen sie unterworfen sind, in Beziehung gesetzt. Schließlich werden auch den biblischen Texten inhärente Machtverhältnisse kritisch befragt.

    Weiterführende Infos WiBiLex

    Für eine bibelkundliche Vertiefung vgl. Oldenhage, Tania, Art. Postcolonial Studies, in: WiBiLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/53894/), abgerufen am 02.06.2025.

    Ein weiterer wichtiger früher Ansatzpunkt waren missionswissenschaftliche und kirchengeschichtliche Fragestellungen. Hier wurde – wie in anderen Theologiebereichen – die Frage nach der Position und Perspektive theologischer Autor*innen zu einem zentralen Fokus. Inzwischen werden auch zahlreiche systematisch-theologische Fragestellungen wie das Gottesbild, die Christologie, die Ekklesiologie, methodologische und epistemologische Fragen, ethische und sozialethische Problembereiche (usw.) kritisch weiterentwickelt. Religionswissenschaftliche und religionstheologische Untersuchungen formulieren grundlegende kritische Anfragen an die europäischen Begriffe von Religion. Auch praktisch-theologische Bereiche wie Pastoral, Liturgie, Kirchenrecht und Religionspädagogik3Vgl. Schweitzer, Friedrich, Art. Religionspädagogik, in: WiReLex (https://www.die-bibel.de/ressourcen/wirelex/10-lernorte-und-institutionen-religioeser-bildung/religionspaedagogik), abgerufen am 02.06.2025. werden zum Gegenstand postkolonialer Forschung. Die Vielfalt postkolonial-theologischer Forschung lässt es nicht zu, in der Gegenwart von einer „postkolonialen Theologie“ nur im Singular zu sprechen. Zu unterschiedlich sind methodische und kontextuelle Eigenheiten der verschiedenen Problemkreise, Herangehensweisen und Ergebnisse. Gleichzeitig muss auch konstatiert werden, dass postkoloniale Theologien derzeit – obwohl sie in sehr vielen christlichen Konfessionen4Vgl. Pemsel-Maier, Sabine, Art. Konfession(en), in: WiReLex (https://www.die-bibel.de/ressourcen/wirelex/6-inhalte-iii-systematisch-theologische-didaktik/konfessionen), abgerufen am 02.06.2025. vertreten sind – sich in ihnen jeweils in einer Minderheitenposition befinden. Die ökumenische Breite und Vielfalt sowie der Austausch untereinander kennzeichnen das weitverzweigte postkolonial-theologische globale Netzwerk.

    4. Kontexte und Subjekte

    Eine wesentliche Charakteristik postkolonialer Theologien ist ihre Kontextbezogenheit. Sie teilt sie mit zahlreichen anderen Theologien insbesondere des Globalen Südens, wie den interkulturellen Theologien, mit denen es eine intensive methodologische und auch personelle Vernetzung gibt. Postkoloniale Theologien gehen von konkreten Kontexten aus, in denen sich Kolonialität in spezifischen Formen zeigt, abhängig von der jeweiligen Geschichte, insbesondere der Kolonialgeschichte, den verschiedenen Kulturen, die in einem Kontext zusammentreffen, und von subjektiven, individuellen Gegebenheiten.

    Die konkreten Subjekte wiederum – und zwar insbesondere ihre Zusammenschlüsse, Bewegungen und geteilten Interessen – prägen ebenfalls auf entscheidende Weise die postkolonial-theologische Reflexion. Aus diesem Grund entwickeln sich sowohl regionale, kulturell geprägte Profile postkolonialer Theologien als auch thematische und biografische Schwerpunkte.

    Ausdifferenzierungen der postkolonialen Theologien ergeben sich auch aus den Kooperationen und der Auseinandersetzung mit anderen theologischen Strömungen, wie eben interkulturelle Theologien, so auch feministische und queere Theologien, indigene, afroamerikanische und andere ethnisch-kulturell geprägte Theologien, Befreiungstheologien usw. Postkoloniale Theologien entwickeln imperiumskritische, antirassistische, diversitätssensible, ökologische und ökofeministische, interreligiös und für Synkretismen offene, traumasensible und viele andere Schwerpunkte. Sie eint das Bewusstsein davon, dass der europäische Kolonialismus zu einer der wesentlichen Ursachen dieser Herausforderungen gehört, und dass die Kolonialität nur im gemeinsamen Widerstand gegen ihre vielen Achsen aufgedeckt und nach Möglichkeit überwunden werden kann.

    Interdisziplinäre und intersektionale Analysen und Praktiken prägen daher ebenfalls das Miteinander dieser zahlreichen Kontexte und Interessen. Zugleich grenzen sich beispielsweise postkoloniale Feministinnen auch gegen westliche feministische Theologien ab, wenn in ihnen die spezifische Herausforderung der Kolonialität – oder etwa auch der Indigenität – nicht genügend berücksichtigt wird. Solche kritischen Auseinandersetzungen, die es auch zwischen postkolonialen Theologien gibt, machen denn auch die Rede von einer einheitlichen globalen Bewegung der postkolonialen Theologie unmöglich. Vielmehr handelt es sich um eine plurale Strömung, die den vielfältigen Herausforderungen der theologischen Kolonialität in kontextuell und individuell angemessener Weise Widerstand entgegenbringen möchte.

    5. Kritik

    Als kritische und widerständige Wissenschaft erfahren die postkolonialen Theologien auch Kritik, nicht zuletzt aus den eigenen Reihen. Die Kritik steht sehr häufig in Verbindung mit der Kritik, die allgemein an postkolonialer Themensetzung und Methodik geäußert wird und kann dadurch nicht immer spezifisch theologisch eingegrenzt werden.

    Ein wichtiger Kritikpunkt entzündet sich am postkolonialen Widerstand gegen den Kolonialismus und damit auch gegen die christliche Mission. In diesem Widerstand wird eine Anerkennung der positiven Leistungen dieser europäischen Unternehmungen vermisst. Diese stehen tatsächlich nicht im Fokus der postkolonialen Kritik, die sich auf die vom Kolonialismus verursachten Schäden und insbesondere deren Fortdauer richtet.

    Damit verbunden wird die Abkehr vom europäischen Denken und die Hinwendung zu alternativen Denk- und Wissensformen im Postkolonialismus als romantische Vergangenheitsverklärung kritisiert. Abgesehen davon, dass es solche Verklärung tatsächlich gegeben hat (und gibt), geht es in den postkolonialen Theologien jedoch um gegenwärtige Wissensformen, die von der Kolonialität abgewertet werden.

    Eine dritte Kritik richtet sich darauf, dass postkoloniales Denken sich zu sehr auf Identitätsfragen beziehen bzw. sogar darauf beschränken würde. Gemeinsame Anliegen, die jenseits von Identitäten liegen, wie insbesondere wirtschaftliche und politische Unterwerfung, gerieten dadurch aus dem Blick. Diese Kritik erscheint dann berechtigt, wenn postkoloniale Theologien sich nicht vom interdisziplinären und intersektionalen Arbeiten herausfordern lassen.

    Kritik entzündet sich auch an angeblichen antisemitischen Gehalten postkolonialer Theologien. Diese Kritik wird sehr ernst genommen und selbstkritisch diskutiert,5Vgl. Levine, Amy-Jill, Roundtable Discussion. Anti-Judaism and Post-Colonial Biblical Interpretation. The Disease of Postcolonial New Testament Studies and the Hermeneutics of Healing, in: Journal of Feminist Studies in Religion 20/1 (2004), 91–132. auch wenn sie sich in der gelegentlich zu findenden Pauschalität nicht erhärten lässt. Schließlich wird an postkolonialen Theologien immer wieder kritisiert, dass sie universale Konzepte in Frage stellt, die in der Vergangenheit den Herrschaftsanspruch des europäischen Kolonialismus stützten.6Vgl. Ackermann, Cordula, Modernekritik in der postkolonialen Theologie und der Theologie der Befreiung. Grundfragen am Beispiel von R. S. Sugirtharajah und Gustavo Gutiérrez, Zürich/Berlin 2021. In dieser Frage zeigt sich sicherlich eine entscheidende Bruchlinie zwischen postkolonialen und europäischen Theologien, die zu weiteren Untersuchungen und Debatten Anstoß geben muss.

    Further Literature

    Dube, Musa W., Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000.

    Havea, Jione/Brett, Mark (Hrsg.), Colonial Contexts and Postcolonial Theologies. Storyweaving in the Asia-Pacific (Postcolonialism and Religions), New York 2014.

    Keller, Catherine et al. (Hrsg.), Postcolonial Theologies. Divinity and Empire, St. Louis 2004.

    Konz, Britta et al. (Hrsg.), Postkolonialismus, Theologie und die Konstruktion des Anderen, Leiden 2020.

    Kwok Pui-Lan, Postcolonial Imagination and Feminist Theology, Louisville 2005.

    Nehring, Andreas/Tielesch, Simon (Hrsg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013.

    Nehring, Andreas/Wiesgickl, Simon (Hrsg.), Postkoloniale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2018.

    Pittl, Sebastian (Hrsg.), Theologie und Postkolonialismus. Ansätze – Herausforderungen – Perspektiven, Regensburg 2018.

    Silber, Stefan, Postkoloniale Theologien. Eine Einführung, Tübingen 2021.

    Silber, Stefan, Ökologie und Postkolonialismus. Theologische Beiträge, Würzburg 2023.

    Sugirtharajah, Rasiah S., The Bible and the Third World. Precolonial, Colonial and Postcolonial Encounters, Cambridge 2004.

    Notes

    • 1
      Vgl. Duggan, Joseph,  Erkenntnistheoretische Diskrepanz. Zur Entkolonialisierung des postkolonialen theologischen „Kanons“, in: Concilium 49/2 (2013), 135–142.
    • 2
      Vgl. Nehring, Andreas/Tielesch, Simon (Hrsg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013.
    • 3
      Vgl. Schweitzer, Friedrich, Art. Religionspädagogik, in: WiReLex (https://www.die-bibel.de/ressourcen/wirelex/10-lernorte-und-institutionen-religioeser-bildung/religionspaedagogik), abgerufen am 02.06.2025.
    • 4
      Vgl. Pemsel-Maier, Sabine, Art. Konfession(en), in: WiReLex (https://www.die-bibel.de/ressourcen/wirelex/6-inhalte-iii-systematisch-theologische-didaktik/konfessionen), abgerufen am 02.06.2025.
    • 5
      Vgl. Levine, Amy-Jill, Roundtable Discussion. Anti-Judaism and Post-Colonial Biblical Interpretation. The Disease of Postcolonial New Testament Studies and the Hermeneutics of Healing, in: Journal of Feminist Studies in Religion 20/1 (2004), 91–132.
    • 6
      Vgl. Ackermann, Cordula, Modernekritik in der postkolonialen Theologie und der Theologie der Befreiung. Grundfragen am Beispiel von R. S. Sugirtharajah und Gustavo Gutiérrez, Zürich/Berlin 2021.

    Cite as

    Silber, Stefan: „Postkoloniale Theologien“, Version 1.0, in: Onlinelexikon Systematische Theologie, ISSN 3052-685X, 6 June 2025. DOI: https://doi.org/10.15496/publikation-107487

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