1. Gegenwartsfragen
Globales Christentum existiert in einer Vielfalt von Kirchen, Gemeinden, Netzwerken, Bewegungen und Institutionen. Christsein wird in unterschiedlichen Traditionen, Gemeinschaften und Konfessionsfamilien gelebt, gestaltet und erfahren. Dazu gehört auch eine große Bandbreite von Freikirchen, die im europäischen Kontext Minderheitenkirchen sind. Sie zählen überwiegend (u. a. Waldenser, Baptisten, Mennoniten, Methodisten, Brüder-Unität, Freie evangelische Gemeinden) zu den Protestantischen Kirchen.1Vgl. Körtner, Ulrich H. J., Ökumenische Kirchenkunde (Lehrwerk Evangelische Theologie 9), Leipzig 2018, VIIIf., 155–254; Oeldemann, Johannes (Hrsg.), Konfessionskunde. Handbuch der Ökumene und Konfessionskunde 1, Paderborn/Leipzig 2015, 296–390. Zum Begriff „Freikirche“ vgl. Iff, Markus, Unbrauchbar und unverzichtbar? Zur bleibenden Bedeutung des Begriffs „Freikirche“ im deutschsprachigen Raum, in: MdKI 72 (1/2021), 16–24. Siehe auch die dortigen Literaturhinweise.
Ökumene fragt, wie die Vielfalt der christlichen Kirchen, Gemeinschaften und Netzwerke sowie die Unterschiedlichkeit der Gestalten und Ausdrucksweisen des Christseins zusammenhängen und miteinander in Verbindung stehen. Ökumene ist Suche, Begründung und Förderung einer gemeinsamen christlichen Identität wie eines gemeinsamen ökumenischen Engagements der Christen und Kirchen in der Welt für das Christuszeugnis, Versöhnung, Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
Die zunehmende Pluralisierung christlicher Gemeinden und Gemeinschaftsformen und Bewegungen im 21. Jahrhundert,2Vgl. Kick, Annette/Hemminger, Hansjörg, Unabhängige Gemeinden neben Kirchen und Freikirchen (EZW-Texte 265), Berlin 2020. ihre Heterogenität und Institutionsferne in ökumenische Begegnungen und Prozesse zu integrieren, ist eine der gegenwärtigen Herausforderungen der Ökumene weltweit.
Von Bedeutung für die Ökumene ist auch der Wechsel von dogmatischer zu sozialethischer Argumentation im inter- und intrakonfessionellen Feld. Im ökumenischen Dialog wie auch im interkonfessionellen Gespräch verlaufen die Trennlinien vermehrt zwischen ethischen Positionen.3Vgl. Dienstbeck, Stefan et al., Die neue ökumenische Unübersichtlichkeit, in: ÖR 70/2 (2021), 126–135.
2. Begriff und Geschichte
Der Begriff Ökumene, griech. Oikouménē, passives Ptz. des griech. Wortes oivkei/n („die ganze bewohnte Erde“) bekommt im Lauf der Geschichte verschiedene Bedeutungen. Der im Zusammenhang mit den Konzilien ab 325 aufkommende kirchliche Wortsinn: universal, allgemein christlich und autoritativ führt zu einer Konzilsökumene als Ausdruck des kirchlichen und politischen Einheitswillens.
In der Reformation bezeichnet Ökumene darüberhinausgehend die Einheit der Kirche als der vom Heiligen Geist erleuchtete und versammelte Christenheit auf Erden. Diese Bedeutung wird in Protestantischen Freikirchen aufgenommen und auf Kirche als Nachfolgegemeinschaft bezogen. Die von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760) geprägte Brüder-Unität in Herrnhut versteht Ökumene als missionarischen Auftrag in weltweiter Perspektive.4Vgl. Meyer, Matthias/Vogt, Peter (Hrsg.), Herrnhuter Brüdergemeine. Evangelische Brüder-Unität / Unitas Fratrum (Die Kirchen der Gegenwart 6), Göttingen 2020.
Die moderne ökumenische Bewegung im 20. Jh. geht u. a. auf Entwicklungen im 19. Jh. zurück:5Vgl. Frieling, Reinhard, Der Weg des ökumenischen Gedankens. Eine Ökumenekunde, Göttingen 1992, 34–48.
- Die Missionsbewegung sieht die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses durch die Trennung der Kirchen und die Konkurrenz der Missionsgesellschaften in Asien, Afrika und Lateinamerika beeinträchtigt.
- Pietismus und Erweckungsbewegungen führen zu überkonfessionellen Initiativen und Gründung u. a. der Evangelischen Allianz 1846 und des Christlichen Vereins Junger Männer 1855 (heute: Christlicher Verein Junger Menschen) sowie des Weltbundes christlicher Verbände junger Frauen 1898.
Die Weltmissionskonferenz von Edinburgh 1910 gilt als Geburtsstunde der modernen ökumenischen Bewegung.6Vgl. Koslowski, Jutta, Ökumene im Aufbruch. Die Entwicklung der ökumenischen Bewegung im 20. Jahrhundert, in: Kappes, Michael et al. (Hrsg.), Basiswissen Ökumene 1. Ökumenische Entwicklungen – Brennpunkte – Praxis, Leipzig/Paderborn 2017,17–36. Von ihr ausgehend, differenziert sich die ökumenische Bewegung in mehrfacher Hinsicht aus: Mission, internationale Friedensbewegung und Friedensarbeit, Bewegung für Praktisches Christentum (Life and Work), Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order).7Vgl. Körtner, Kirchenkunde, 286f.
Mit dem „Ruf zur Einheit“8Vgl. Sasse, Hermann (Hrsg.), Die Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung. Deutscher amtlicher Bericht über die Weltkirchenkonferenz zu Lausanne, 3.–21. August 1927, Berlin 1929, 91–113. bringt die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order) 1927 auf der Weltkonferenz in Lausanne die multilaterale Verständigung über die Kriterien der Einheit der Kirchen und die Auseinandersetzung über die konfessionellen Unterschiede in Gang.
Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil erkennt die römisch-katholische Kirche die spirituelle Bedeutung der Ökumene und definierte die römisch-katholischen Prinzipien des Ökumenismus.9Vgl. Pesch, Otto H., Das Zweite Vatikanische Konzil, Würzburg 1993. Mit der Gründung des Sekretariats bzw. des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen wird sie ein wichtiger Akteur in der Ökumene. Es entsteht ein dichtes Dialognetzwerk ökumenischer Begegnungen und Verständigungen. Darin sind die Protestantischen Freikirchen seit den 1970/80ziger Jahren des 20. Jahrhunderts einbezogen.10Dazu vgl. u. a. Geldbach, Erich, Die römisch-katholische Kirche im Gespräch mit den Freikirchen. Eine Einführung (Freikirchen-Forschung 16), Erzhausen 2007, 95–103.
Im 21. Jh. entsteht eine „Unübersichtlichkeit“11Dienstbeck et al., Unübersichtlichkeit. der Ökumene. Konfessionelle Differenzen werden entdramatisiert und der interreligiöse Austausch gewinnt an Bedeutung. Postkoloniale und kulturkritische Studien zeigen, dass Gremien- und Lehrökumene maßgeblich von der Sichtweise des sogenannten globalen Nordens und Westens dominiert werden.12Vgl. Klein, Rebekka A./Teuchert, Lisanne (Hrsg.), Ökumene in Bewegung. Neue Perspektiven der Forschung, Leipzig 2021. Migration, konfessionelle und interkulturelle Dynamiken sowie Diskurse um die Entstehung religiöser Identitäten führen dazu, dass Ökumene „nicht nur eine inter-, sondern auch eine intra- und transkonfessionelle Aufgabe“13Müller-Zähringer, Erik/Knorreck, Anna/Henkel, Christian, Quo vadis, ecumenisme? Zum Stand der Ökumene im Lichte gesellschaftlicher Tendenzen, in: ThQ 199 (2019), 379–399, 386. ist.
3. Begründungen und Zielvorstellungen
Biblisch-theologisch lässt sich die Einheit in der Vielfalt christlichen Kirchen, Gemeinden und Gemeinschaften von ihrem gemeinsamen Grund im dreieinen Gott her verstehen. Der trinitarische Grund der Einheit in der Vielfalt ist die Berufung der Glaubenden durch den einen Gott und Vater, die Verbindung „der Vielen“ durch den einen Herrn Jesus Christus und ihre Belebung in der Gemeinschaft des Glaubens durch den einen Geist (vgl. Eph 4,1–7[1] So ermahne ich euch nun, ich, der Gefangene in dem Herrn, dass ihr der Berufung würdig lebt, mit der ihr berufen seid, [2] in aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Ertragt einer den andern in Liebe [3] und seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens: [4] ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; [5] ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; [6] ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen.[7] Einem jeden aber von uns ist die Gnade gegeben nach dem Maß der Gabe Christi.Zur Bibelstelle). Bekenntnisse, Strukturen, Organisationen, Dienste und Ämter sind darauf ausgerichtet, diese Einheit und Gemeinschaft im dreieinen Gott zu bezeugen.14Vgl. Heckel, Ulrich, Die sieben Kennzeichen für die Einheit der Kirche. Exegetische Impulse zu einer ökumenischen Theologie der Einheit, in: MdKI 71/4 (2020), 62–70.
Die durch den trinitarischen Grund gegebene Einheit der Gemeinden, Kirchen und christlichen Gemeinschaften ist eine „Einheit durch Vielfalt“15Cullmann, Oscar, Einheit durch Vielfalt. Grundlegung und Beitrag zur Diskussion über die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung, Tübingen 21990, 8., die Uniformität ausschließt. Unterschiede in und zwischen den Kirchen und christlichen Gemeinschaften des globalen Christentums – seien sie nun mentalitätsmäßig, kulturell oder theologisch begründet – müssen relativiert werden im Blick auf die Verbundenheit im Glauben an den dreieinen Gott und die gemeinsame Sendung, das Evangelium in Wort und Tat zu bezeugen.
Das Ziel jeder Partikularkirche muss sein, „durch Gebet, persönliche Begegnungen, gemeinsamen Dienst und ernsthafte theologische Gespräche konfessionelle Egoismen abzubauen und die in Christus bereits bestehende Einheit erkennbar zu machen‚ damit die Welt glaube (Joh 17,21dass sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.Zur Bibelstelle)“.16Demandt, Johannes, Freie Evangelische Gemeinden (Die Kirchen der Gegenwart 4), Göttingen 2012, 48.
Ziel der Ökumene ist die Darstellung der im dreieinen Gott bestehenden Gemeinschaft und Einheit der Christen und Kirchen. Dazu bedarf es ökumenischer Kommunikation und Interaktion aber auch einer Vorstellung, wie die Darstellung der Gemeinschaft und Einheit als Einheit einer Differenz aussehen kann.
4. Leitbilder und Modelle
Protestantische Freikirchen verstehen sich weniger als Konfessionen im strengen Sinn, die ihre ekklesiale Identitäten an Lehrbekenntnissen festmachen. Sie betrachten sich als Denominationen17Vgl. Laeyendecker, Leo, Art. Denomination, in: EKL 1 (31986), 812–814., als durch das biblische Zeugnis inspirierte und an ihm sich orientierende Gestaltwerdungen christlicher communio sanctorum. Im Kirchenverständnis vertreten sie einen personal-korporativen Ansatz, dem die institutionelle Verfasstheit nachgeordnet ist.
Die Modelle zur sichtbaren Einheit der Kirchen und christlichen Gemeinschaften sind Einheit in Vielfalt, Einheit in versöhnter Verschiedenheit und eine konziliare, wechselseitige verbundene Beziehungsgemeinschaft von selbstständigen Gemeinden.
Protestantische Freikirchen betonen mit der Leuenberger Konkordie, dass Kirchengemeinschaft nicht nur Einheit in versöhnter Verschiedenheit, sondern auch „eine möglichst große Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst an der Welt“18Bünker, Michael/Friedrich, Martin (Hrsg.), Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie), Leipzig 2013, 51 (LK 29). beinhaltet.
5. Ökumene vor Ort und weltweit
Die ökumenische Bewegung ist von Anfang an eine Basisbewegung. Ökumene vor Ort bezeichnet die regional oder lokal angelegte Gemeinschaft von Christen, Gemeinden und Kirchen. Ökumene vor Ort ist ungleichzeitig. Das hängt mit den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen der Gemeinden, gewachsenen Verbindungen zwischen Christen verschiedener Konfessionen und dem Engagement der Dienstträger*innen vor Ort zusammen.
Ökumene vor Ort beinhaltet Begegnungen, wechselseitige Einladungen, geistliche Gemeinschaft in Gebet, Bibelgespräch und Gottesdienst, gemeinsames Zeugnis für den christlichen Glauben und gemeinsames diakonisches Handeln. Ökumene vor Ort lebt von der Beständigkeit und bedarf einer strukturellen Zusammenarbeit, die in Deutschland durch die lokale oder regionale Ebene der „Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen“ (ACK)19Vgl. Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, Regionale ACKs (https://www.oekumene-ack.de/regionale-acks), abgerufen am 02.05.2024. ermöglicht ist.
Ökumenische Aktivitäten vor Ort sind mit der Ökumene weltweit vernetzt. Beispiele dafür sind der jährlich stattfindende Weltgebetstag der Frauen, die Gebetswoche für die Einheit der Christen sowie die Allianz-Gebetswoche.
Ökumene vor Ort und weltweit braucht Leitlinien, wie sie auf europäischer Ebene die „Charta Oecumenica“20Charta Oecumenica. Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa, 22.04.2001 (https://www.oekumene-ack.de/fileadmin/user_upload/Charta_Oecumenica/Charta_Oecumenica.pdf), abgerufen am 20.04.2024. bietet, die 2001 in Straßburg von der Konferenz Europäischer Kirchen und dem Rat der Europäischen Bischofskonferenzen unterzeichnet wurde. Sie ist das erste Dokument, in dem sich die Christen und Kirchen Europas zur ökumenischen Zusammenarbeit erklären und dafür „verpflichtende Regeln“ geben. Auch die Protestantischen Freikirchen sind in den Rezeptionsprozess eingebunden.
6. Organisationen und Netzwerke
Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) ist unter den zahlreichen Organisationen der modernen ökumenischen Bewegung die umfassendste und vielfältigste. Zu ihm gehören auch Protestantische Freikirchen (u. a. methodistische, mennonitische, baptistische Kirchen wie auch Pfingstkirchen). Das Hauptziel der Gemeinschaft der Kirchen im ÖRK besteht darin, „einander zur sichtbaren Einheit in dem einen Glauben und der einen eucharistischen Gemeinschaft aufzurufen […] und auf diese Einheit zuzugehen, damit die Welt glaube.“21Ökumenischer Rat der Kirchen, Verfassung und Satzung, Genf 2022 (https://www.oikoumene.org/de/resources/documents/constitution-and-rules-of-the-world-council-of-churches), abgerufen am 21.03.2024, 1. Auf dieser Basis wird Ökumene gestaltet als Dialog- und Lehrökumene, Konsensökumene, Sozialökumene und als geistliche Ökumene.
Der ÖRK ist nicht der einzige ökumenische Zusammenschluss, aber weltweit der größte mit über 350 Mitgliedskirchen. Es gibt entsprechende Zusammenschlüsse auf kontinentaler und nationaler Ebene; in Europa ist das die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK). In Deutschland gibt es die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) mit 18 Mitgliedskirchen, zu denen Protestantische Freikirchen gehören.22Vgl. Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) (https://www.oekumene-ack.de/ueber-uns), abgerufen am 04.05.2024.
Ökumenische Akteure sind auch die konfessionellen Weltbünde und Organisationen von Kirchenfamilien. Zu ihnen zählen der Weltrat der Methodistischen Kirchen, der Baptistische Weltbund, die internationale Organisation der Heilsarmee und die Mennonitische Weltkonferenz.23Vgl. Oeldemann, Konfessionskunde, 309–311.322–324; vgl. auch Körtner, Kirchenkunde, 300–303.
Ein bedeutender ökumenischer Akteur auf europäischer Ebene ist die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE).24Vgl. Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) (https://www.leuenberg.eu/about-us/member-churches/), abgerufen am 20.04.2024. Sie versteht sich als eine Gemeinschaft selbstständiger evangelischer Kirchen, die sich auf der Grundlage der Leuenberger Konkordie von 1973 zu gemeinsamem Zeugnis und Dienst verbunden und Kirchengemeinschaft erklärt haben.25Vgl. Bünker/Friedrich (Hrsg.), Konkordie. Auch Protestantische Freikirchen wie die Waldenser, die Tschechische Brüderkirche, die Herrnhuter Brüdergemeine sowie Evangelisch-methodistischen Kirchen sind Mitglieder der GEKE. Andere Protestantische Freikirchen, wie bspw. die Mennoniten und die Baptisten, gehören der GEKE nicht an, stimmen aber mit dem Evangeliumsverständnis der Leuenberger Konkordie überein.26Vgl. Evangelisch Sein. Stellungnahme der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) anhand der Leuenberger Konkordie (LK), VEF-Mitgliederversammlung Kassel, 12.04.2011, epd-Dokumentation 19/2023, 53–56.
Protestantische Freikirchen betonen die ökumenische Rolle internationaler Netzwerke und interkonfessioneller Bewegungen. Exemplarisch steht dafür die Weltweite Evangelische Allianz (eng. World Evangelical Alliance), die 129 nationale und sieben regionale Evangelische Allianzen (Afrika, Asien, Karibik, Europa, Lateinamerika, Nordamerika, Südpazifik) vereinigt. Sie versteht sich als interkonfessionelle Einigungsbewegung einzelner Christinnen und Christen, die auf einer gemeinsamen „Basis des Glaubens“ beruht.27Vgl. World Evangelical Alliance (WEA) (https://worldea.org/who-we-are/), abgerufen am 20.04.2024. Vgl. dazu Körtner, Kirchenkunde, 311f. Zur Basis des Glaubens vgl. https://worldea.org/who-we-are/statement-of-faith/, abgerufen am 20.04.2024.
Weiterführende Infos Konfessionskunde
Weitere Strukturen internationaler Ökumene werden hier erläutert: https://konfessionskunde.de/strukturen/, abgerufen am 09.04.2025.
7. Ökumene und Konfessionen
Das globale Christentum besteht in einer Vielzahl von Christentümern und die eine Kirche Jesu Christi, zu der sich Christen in ihren Glaubensbekenntnissen bekennen, in einer Vielzahl von Kirchen, Gemeinden und Gemeinschaften. Das Phänomen der Konfessionalität kann aus der historischen Vermitteltheit des christlichen Glaubens erklärt werden.28Vgl. Fahlbusch, Erwin, Kirchenkunde der Gegenwart (ThW 9), Stuttgart 1979, 15; vgl. auch Dahlke, Benjamin, Konfessionskunde. Anliegen und Herausforderungen einer Teildisziplin Ökumenischer Theologie, in: TThZ 125 (2016), 128–146.
Konfessionalität und Ökumenizität bilden daher keinen keinen Gegensatz, auch weil Einheit nicht mit Uniformität zu verwechseln ist. Kontextualität und Pluralität der einen Kirche Jesu Christi sind u. a. in der Vielfalt des Menschseins, der Vielfalt der Geistesgaben sowie der Sendung der Kirchen und christlichen Gemeinschaften durch den dreieinen Gott begründet.
Ökumene reflektiert und bearbeitet aber nicht nur eine theologisch legitime Vielfalt, sondern auch das die Kirchen und Christen Trennende und zielt auf die versöhnte Gemeinschaft am Tisch des Herrn.29Vgl. Leppin, Volker/Sattler, Dorothea (Hrsg.), Gemeinsam am Tisch des Herrn. Ein Votum des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen, Freiburg/Göttingen 2020.
8. Ökumene und Mission
Die Anfänge der modernen ökumenischen Bewegung sind eng mit der Geschichte der Mission im 19. und 20. Jh. verbunden, in die auch die Protestantischen Freikirchen und ihre Missionswerke einbezogen waren. Das Missionsverständnis hat sich im ausgehenden 20. und frühen 21. Jh. u. a. durch die kritische Aufarbeitung der Missionsgeschichte des Christentums verändert. Mission als menschliche Aktivität und Handeln der Kirchen und Gemeinden ist Teilnahme an der missio Dei, die auf die Erneuerung der Welt, das Kommen des Reiches Gottes und die Hinwendung des Menschen zum dreieinen Gott zielt.
Protestantische Freikirchen teilen und rezipieren das vom Päpstlichen Rat für den Interreligiösen Dialog (PCID), der Evangelischen Weltallianz (WEA) und dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) gemeinsam veröffentlichte Dokument „Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt“30MissionRespekt. Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt (https://missionrespekt.de/fix/files/chz-studienausgabe.pdf), abgerufen am 28.04.2024.. Das Dokument entfaltet in ökumenischer Perspektive ein theologisch vertretbares Verständnis sowie eine theologisch verantwortbare Praxis von Mission.31Vgl. dazu auch Wrogemann, Henning, Mission und Religion in der systematischen Theologie der Gegenwart. Das Missionsverständnis deutschsprachiger protestantischer Dogmatiker im 20. Jahrhundert (FSÖTh 79), Göttingen 1997.
9. Ökumene und Ethik
Ein zentrales Anliegen der Ökumenischen Bewegung ist, das gemeinschaftliche christliche Zeugnis vom Evangelium Gottes in Jesus Christus als vom christl. Ethos getragenen Dienst zu entfalten. Die auf den Weltkonferenzen der Bewegung für praktisches Christentums (Life and Work) entwickelten Ansätze einer ökumenischen Sozialethik wurden und werden vom ÖRK in unterschiedlichen Initiativen fortgesetzt, beispielsweise im konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.32Vgl. Frieling, Weg, 287–312.313–326.
Differenzen in moralisch-ethischen Fragen belasten zunehmend die Einheit innerhalb und zwischen den Kirchen und christlichen Gemeinschaften. Die Herausforderung besteht darin, unterschiedliche konfessionelle Konzepte der Ethikbegründung und die Pluralität ethischer Positionen konstruktiv zueinander ins Verhältnis zu setzen. Leitend dafür sind aus Sicht Protestantischer Freikirchen die Gottebenbildlichkeit und Christusgeschwisterlichkeit des Menschen in der Beziehung zu seinen Mit-Geschöpfen und die daraus folgenden Gestaltungsmaximen gesellschaftlichen Zusammenlebens in personalen, lokalen, regionalen und globalen Kontexten.33Ein Beispiel dafür ist die Theologische Orientierungshilfe der Vereinigung Evangelischer Freikirchen e. V. (VEF) zur Friedensethik vom 26.11.2015, in: MdKI 67/4 (2016), 14f.
Die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen hat 2021 mit dem Dokument „Dialog fördern, um Koinonia zu stärken“ eine Herangehensweise an ethische Fragen erarbeitet, die einen konstruktiven Umgang mit Differenzen aufzeigt.34Vgl. Haar, Miriam et al. (Hrsg.), Wenn Ethik zur Zerreißprobe für Kirchen wird. Dokumentation und Diskussion der Studie der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung „Dialog fördern, um Koinonia zu stärken“ (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 137), Leipzig 2023.
10. Ökumene und Religionen
Ökumene steht im 21. Jh. vor der Herausforderung des interreligiösen Dialogs. Neben die Mission treten der Dialog und Konvivenz. Diese sind theologisch darin begründet, dass Religionsgemeinschaften herausgefordert sind, ihren Beitrag zu einem friedlichen, gerechten und freiheitlichen Zusammenleben in menschlichen Gesellschaften und zwischen Nationen zu leisten.
Protestantischen Freikirchen begründen die Motivation für interreligiösen Dialog und gesellschaftliches Engagement mit den Worten: „Als Ausdruck unseres Glaubens engagieren wir uns für Menschenrechte, für Religions- und Gewissensfreiheit, für Frieden, Respekt und Chancengleichheit.“35Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF), Glaube an Christus befreit. 500 Jahre Reformation – Botschaft der Vereinigung Evangelischer Freikirchen, in: MdKI 67/6 (2016), 139.
Ein zentrales Thema für den interreligiösen Dialog ist die Religionsfreiheit, die nicht nur das Recht auf individuelle Religionsausübung bedeutet, sondern jeglichen Zwang in Fragen der Religion aus- und die Freiheit zur Konversion einschließt. Der Respekt vor den jeweils anderen Religionsgemeinschaften darf dabei nicht gegen die Achtung des Individuums und seiner Religionsfreiheit ausgespielt werden.36Vgl. Körtner, Kirchenkunde, 322.
11. Perspektiven und Herausforderungen
Ökumene hat die Perspektive, dass die Gemeinschaft in Jesus Christus die Grenzen der Völker, Staaten, Rassen und Kulturen überschreitet. Diese ermöglicht und erfordert ein gemeinsames Agieren von Christen, Kirchen und christlichen Gemeinschaften jenseits von überkommenen Einheitsmodellen.
Ökumene braucht multilaterale Konzeptionen für Begegnungen, Dialoge und Zusammenarbeit, welche der pluralisierten und sich weiter pluralisierenden konfessionellen Landkarte gerecht werden. Solchen Konzeptionen korrespondieren Methoden wie etwa der Receptive Ecumenism, der das wechselseitige Lernen voneinander und das Teilen von Gaben in den Mittelpunkt stellt.37Vgl. Murray, Paul D. et al. (Hrsg.), Receptive Ecumenism as Transformative Ecclesial Learning. Walking the Way to a Church Re-formed, Oxford 2022.
Das 2022 erschienene Studiendokument der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung „Towards a Global Vision of the Church, Explorations on Global Christianity and Ecclesiology“38Ökumenischer Rat der Kirchen (Hrsg.), Towards a Global Vision of the Church. Explorations on Global Christianity and Ecclesiology (Faith and Order Paper 234), Genf 2022. zeigt exemplarisch, wie ein breites Spektrum von Gesprächen über das globale Christentum und die Ekklesiologie geführt werden kann. Perspektiven aus verschiedenen Regionen (insbesondere Asien, Afrika und Lateinamerika), Konfessionsfamilien (wie evangelikale, pfingstliche, charismatische und unabhängige Kirchen) und Formen des Kircheseins (wie kirchliche Bewegungen, neue Formen des Mönchtums und Online-Kirchen) werden ein- und aufeinander bezogen.
Die veränderte ökumenische Landschaft erfordert, bisherige Herangehensweisen in der ökumenischen Wissenschaft und Praxis neu zu justieren und zu erweitern. Neben Lehrgestalten und Frömmigkeitsformen sind Mentalitäten von Konfessionen in den Blick zu nehmen sowie die intersektionalen Faktoren, in denen sich religiöse Identitäten ausbilden.39Vgl. Seebald, Michael, Ökumenische Theologie als Kulturwissenschaft, in: Huber, Michael/Schüz, Peter (Hrsg.), Ökumene der konfessionellen Mentalitäten. Interdisziplinäre Vorüberlegungen in theologischer Absicht, Münster/Hamburg/Berlin/London 2020, 37–58.
Offen ist, inwiefern christliche Ökumene ein Modell für die gesellschaftlich und politisch wichtigen Fragen von Einheit und Pluralität, Integration und Exklusion, Heterogenität und Zugehörigkeit bietet.