1. Das Thema
Eine riskante Kurzbeschreibung:
Gnade ist die unverdiente, unerwartete, unbegreifliche [und effektiv hinreichende] Zuwendung der Liebe Gottes [zu den] Menschen [in einer Fülle von Gestalten und Formen], die diese […] zum Heil in der Lebensgemeinschaft mit Gott führt, [die sich konkret in seinem ersterwählten Volk Israel und durch Christus in der Kirche aus den Völkern realisiert. Gnade deckt dabei] den Widerstand [der Menschen] gegen Gott als Gefangenschaft […] bei [und in] sich selbst auf […] und […] überwindet [sie befreiend, wobei begnadete Menschen sich selbst und anderen gegenüber selbst gnädig und barmherzig werden können. Gottes Gnadenzuwendung realisiert sich in seiner Geschichte mit den Menschen, sie ist noch im Prozess ihrer weitergehenden Realisierung und auf ihre Vollendung in Gottes Zeit und Ewigkeit selbst hin angelegt].1Pesch, Otto Hermann, Art. Gnade, in: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe 2 (2005), 51–61, 53, mehrfach modifiziert und erweitert.
Im Vorgriff auf die thematische Entfaltung (3.) gesagt, geht es um folgende Hauptpunkte:
- Gottes Gnade ist ungeschuldet, unverdient und durch kein Kalkül erzwingbar – das ist gleichsam „das Gnädige“ an der Gnade. Sie kann überdies verschiedene Formen annehmen und an verschiedenen Orten und Weltzeiten unterschiedlich erfahren werden. Ausschließende Duale wie „Gesetz versus Evangelium“ überzeugen kaum, vielmehr ist auch die alttestamentlich bezeugte Gabe des Gesetzes eine Form der Gnade.
- Gottes Gnade bewirkt, was sie sagt, sie ist suffizient, was Diskussionen über das Angeregtsein durch Gnade aber ein- und nicht ausschließt.
- Gottes Gnade ist kein abstraktes Prinzip. Auf sie darf vielmehr geschlossen werden, weil es eine Geschichte Gottes mit Mensch und Welt gab, gibt und geben wird. Entsprechend zeigt sich, was Gnade ist, in der Erwählung Israels und in der Berufung der Kirche; beide sind Instrumente von Gottes Gnade, nicht etwa Gottes Gnade selbst. Gnadenwirkung außerhalb von Israel und Kirche sind jederzeit Gottes Möglichkeit.
- Aus Gnade zeigt sich, dass Menschen von sich aus sich von Gott abwenden und in heilloser Weise aus sich selbst leben wollen. Gnadenzuwendung ermöglicht diese nicht immer leichte Erkenntnis und spielt zugleich die Möglichkeit zu, aus der Selbstverhaftetheit zu einer Existenz in Welt- und Menschenzuwendung zu gelangen.
- Gnade hat eine eschatologische Pointe und wird zu ihrer Fülle gelangen, wenn Gott alles in allem ist.
Angesichts dieser Themenfülle überrascht es nicht, dass es den einen biblischen Begriff für Gnade nicht gibt. Zwar setzt am ehesten Paulus das Wort χάρις charis (lateinisch gratia) einem Terminus vergleichbar ein, doch kommt er etwa in den Evangelien nicht vor, seine Sache aber sehr wohl. Alttestamentlich ist lexikalisch v. a. an חסד ḥesed (Güte, Gnade) und die Wurzel חנן ḥnn (Gunst erweisen) zu denken. Auffällig oft findet sich חסד ḥesed in Verbindung im אמת emet ([Bundes-]Treue), was die wechselseitige Erhellung von Gnadenthematik und Bundesgeschehen verdeutlicht (Ex 34,6Und der Herr ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue,Zur Bibelstelle).
Weiterführende Infos WiBiLex
Im WiBiLex gibt es mehrere Angebote, sich zu den biblischen Grundlagen von Gnadeverständnissen zu informieren. Hinsichtlich der Schlagwörter Gnade/Barmherzigkeit in alttestamentlicher Perspektive informiert Thomas Wagner: ders., Gnade/Barmherzigkeit, in: WiBiLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/19676/), abgerufen am 09.04.2025.
Zu der damit verbundenen Vorstellung vom Bund Gottes mit den Menschen sei verwiesen auf:
Rüterswörden, Udo, Art. Bund (AT), in WiBiLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/15777/), abgerufen am 09.04.2025;
Kraus, Wolfgang, Art. Bund (NT), in WiBiLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/50028/), abgerufen am 09.04.2025.
2. Theologiegeschichtliche Schlaglichter
In der frühen Patristik dominiert die Orientierung an heilsgeschichtlichen Modellen, nicht an einzelnen Schlüsselbegriffen. Ignatius von Antiochia († um 110) initialisiert den Gedanken eines um den Kreuzestod Jesu ausgespannten heilsgeschichtlichen Prozesses, der u. a. von Irenäus von Lyon
(† um 200) und – noch einmal reicher, aber mit später als heterodox erkannten Elementen – von Origenes von Alexandria
(† 254) aufgegriffen und ausgestaltet wird. Bereits mitten in den christologischen und trinitarischen Kontroversen des 4. Jahrhunderts formuliert Athanasius von Alexandrien
(295–373) diese Gnadenformel: „Er [Christus] wurde Mensch, damit wir vergöttlicht [θεωποιηθῶμεν theopoiethōmen] würden.“2Athanasius von Alexandrien, De incarnatione verbi Dei (MPG 25), Paris 1875, 95–198, 192. Neben der christologischen Konzentration des Gnadenthemas, die sich in Ost und West gleichermaßen durchsetzen wird, zeigt sich hier eine Bestimmung, die für die orientalischen wie byzantinischen Kirchen des Ostens kennzeichnend werden wird: Gottes gnädige Zuwendung zielt auf die Überwindung der Trennung von Gott und Mensch, die als Vergöttlichung des Menschen gedacht wird. Sie ist eingebunden in den insgesamt gnadenhaft zu denkenden Gott–Welt-Prozess, der mit der Schöpfung beginnt und mit der Vollendung abgeschlossen sein wird. Die bedeutendste Weiterentwicklung bzw. Präzisierung stellt die Energienlehre des Byzantiners Gregorios Palamas
(1296–1359) dar, nach dem aus Gott ungeschaffene Energien hervorgehen, die dem gläubigen Menschen die Teilhabe (μετοχή metochē) am Leben Gottes möglich werden lassen.3Vgl. Palamas, Grégoire, Défense des saints Hésychastes (griech. nach 1331), Leuven 1973, 640–692. Hier war eine Vorstellung gefunden, die für Jahrhunderte zur prägenden Lehre der byzantinischen Orthodoxie wurde.
Bereits kurz nach der grundsätzlichen Klärung des trinitarischen Problems kommt es im Westen zu einem ersten echten Gnadenstreit: Der britannische Mönch Pelagius (um 350–um 420) lehrte, dass die Gnade Gottes die menschliche Freiheit motiviert und zur aktiven Annahme und Mitgestaltung der Gnade befähigt und dass der freie Wille zur Erkenntnis von gut und böse in der Lage ist. Dem galt das schneidende Nein Augustins von Hippo
(354–430), der die Alleingeltung und Alleinwirksamkeit von Gottes Gnade betont und jedem Mitwirkungsmodell eine Absage erteilte.4Vgl. Aurelius Augustinus, De natura et gratia (CSEL 60), New York 1962, 233–299. Er hinterfing das mit einer Prädestinationslehre (vgl. Art. Erwählung/ Prädestination) nach der Gott von Ewigkeit her Menschen – freilich nicht alle – zum Heil vorgesehen hat und betont so, dass niemand etwas zum eigenen Heil zu leisten vermag.
In der Theologie des lateinischen Mittelalters wird das Gnadengeschehen anthropologisch konkretisiert: Thomas von Aquin († 1274) bestimmt Gnade als übernatürlich induzierte Veränderung des Charakters und der Gesamtausrichtung der Persönlichkeit eines Menschen.5Vgl. Thomas de Aquino, Summa totius theologiae Ia IIae, 109–113, Marietti-Ausgabe Turin/Rom 1942, 666–708. Nach ihm wurde der existenzielle Zug dieses Denkens zugunsten breit angelegter Systematiken von Gnadenwirkungen tendenziell verdrängt. Der Hauptakzent lag auf der Unterscheidung von ungeschaffener und geschaffener Gnade, wobei bei letzterer je nach Denkschule auch eine Mitwirkung des begnadeten Menschen gedacht werden konnte. Gegen eine systematische Distanzierung sowie gegen jedes Modell der Kooperation wandte sich der Einspruch der Reformation. Martin Luther
betont, dass dem Menschen aus reiner Gnade das unverdiente Rechtfertigungsurteil zugesprochen wird und er so vor und mit Gott ein neues Leben führen darf. Gnade wird dabei nie zum „Besitz“, was die Realität der Anfechtung ein- und die Vorstellung eines Progresses in Heiligkeit ausschließt.6Vgl. Luther, Martin, Vorrede zum ersten Bande der Wittenberger Ausgabe der Deutschen Schriften (1539) (WA 50), 654–661, bes. 659. Lutherische Theologie im konfessionellen Zeitalter sah gleichwohl die Möglichkeit, Stufen der Rechtfertigung und Heiligung zu benennen und identifizierte sie in der „Rangfolge des Heils“ (ordo salutis). Die Schweizer Reformation, namentlich Calvin
, griff auf Augustins Entscheidung, die Gnaden- mit einer expliziten Prädestinationslehre zu stützen, zurück: Gottes Dekrete von Ewigkeit her sind dem menschlichen Verstand nicht offen und zugleich Ausdruck seiner Selbstfestlegung auf Gnade hin.7Vgl. Calvin, Johannes, Unterricht in der christlichen Religion (1559), Neukirchen-Vluyn 51988, III.21–25 (615–680). Die radikale Reformation, hier vor allem die täuferischen Strömungen, rückte die effektive Seite des Gnadenprozesses in den Fokus: Eine Besserung des Lebens in Gestalt einer Nachfolge Christi, die falsche Kompromisse ausschließt, ist die erhoffte und erbetene Wirkung der Gnade Gottes.8Vgl. Simons, Menno, Ein Fundament und klare Anweisung von der seligmachenden Lehre unseres Herrn Jesu Christi (1539), in: Die Schriften des Menno Simons, Steinhagen 2013, 246–385, 256–261.311f. Andere radikale Strömungen entdecken die Gnade Gottes ganz im inneren Geist- und Christuserlebnis, was ihnen den – nicht immer freundlich gemeinten – Titel „Spiritualisten“ eintrug.
Wechselseitiges Verstehen der reformatorischen Theologien untereinander einerseits sowie dieser mit der lehramtlichen römisch-katholischen Theologie andererseits in Sachen Gnade findet für Jahrhunderte faktisch nicht statt. Im Gefolge des Trienter Konzils, Dekret De iustificatione, legt sich die römische Theologie auf das Schema von ungeschaffener und geschaffener Gnade fest und verwirft alle Positionen, die eine von Gottes Gnade angeregte Mitwirkung im Gnadenprozess ablehnen. Die dadurch aufgeworfene Frage, wie Gottes Gnade und menschliche Freiheit sich zueinander, verhalten ist Gegenstand einer Kontroverse in der Barockscholastik – Luis de Molina (1535–1600) als Promotor der Freiheitsidee auf der einen, Domingo Báñez
(1528–1604) als sein thomistisch inspirierter Gegner auf der anderen Seite –, die nie wirklich entschieden wird und sich noch in gegenwärtigen innerkatholischen Debatten zur Sache zeigt.
In den evangelischen Strömungen insistiert etwa der sich entwickelnde Pietismus auf der Lebensnähe, ja: Erlebbarkeit der Gnade im sich zu Gott bekehrenden und bekehrten Leben. Philipp Jakob Spener (1635–1705) nennt „Wiedergeburt“ als dafür zentralen Vorstellungskomplex.9Vgl. Spener, Philipp J., Der hochwichtige Articul Von der Wiedergeburt (1696) (2 Bände), Hildesheim 1994. In der Theologie der Aufklärungszeit wird durchaus gefragt, ob die reine Passivität des Gnadengeschehens eine zureichende Beschreibung ist, zumal, da im Gefolge Lessings
und Kants
die Frage nach Gott von der theoretischen an die praktische Vernunft überwiesen wurde. Stärker als die katholische Seite suchte die evangelische die Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Religionskritik. Deren Hauptvorwurf war, dass „Gnade“ setze, dass das Beste für den Menschen nicht in ihm ist, sondern von außen zu ihm kommt und also Selbstzerrissenheit (Feuerbach
) oder glatte Leugnung des ungebändigten Lebens (Nietzsche
) darstelle. Theologische Reaktionen decken eine große Bandbreite an Positionen von subjektivitätstheoretischer Rekonstruktion des Glaubes bis hin zum neuerlichen Einschärfen der iustitia aliena ab, die etwa zum Kennzeichen der Dialektischen Theologie und der lutherischen Aufbrüche im 20. Jahrhundert wurde.
3. Thematische Entfaltung
„Gnade“ bezeichnet keinen Einzelaspekt des Glaubens oder gar eine von mehreren „Heilstatsachen“. Als Konzentrations- und Kristallisationsbegriff für die Sache der Theologie überhaupt ist ihr Gegenstand nicht isolierbar. Ähnlich wie niemand „Glauben hat“, sondern vielmehr im Glauben, am Ort des Glaubens lebt, so ist Gnade kein Heils-„Besitz“: Menschen leben in und aus Gnade, als Begnadigte Gottes. Jeder Aspekt des Lebens ist davon befasst und verändert. Gnade ist das Ereignis von Gottes Selbstfestlegung zugunsten von Welt und Mensch. Sie folgt nicht aus einer Spekulation über das Wesen Gottes an sich, vielmehr ergibt sich das Bekenntnis zu ihr aus der Bezeugungsgeschichte der Schrift und den in ihrem Licht gelesenen Erfahrungen der Gegenwart Gottes. Gott, der Gnädige, zeigt dabei nicht etwas, sondern sich selbst.
Sprechend ist die Unterscheidung in dem Gabe– und dem Macht-/Präsenzaspekt von Gnade: Ist sie ein – wie immer näher zu bestimmendes – „Etwas“, das dem*der Begnadeten zukommt oder ist sie Gottes Macht- und Wirkungsbereich, in den Menschen geraten dürfen und der so Wirkung entfaltet? Die katholische Tradition optierte eher in die erste, die evangelische in die zweite Richtung. Untersuchungen zum Phänomen der Gabe führten in jüngerer Zeit dazu, den Unterschied weniger prinzipiell zu sehen: Kann als Hauptform der Gabe die Anerkennung der*des Anderen gelten, dann ist die Schnittmenge zwischen Gabe und Macht/Präsenz groß. Gnade ist jedenfalls eine Realisierung der Anwesenheit Gottes.
Die christologische Konzentration von Gnade unterstreicht die Reformation durch die Zugleichgeltung der Exklusivpartikel „Solus Christus“ und „sola gratia“. Sie – und anders auch die katholische Tradition – unterstrich dies häufig mit dem Dual von Gesetz und Evangelium bzw. Gesetz und Gnade. Nicht zuletzt Einsichten aus dem christlich-jüdischen Dialog halfen, Einseitigkeiten zu korrigieren: Die in der Hebräischen Bibel bezeugte Geschichte Gottes mit seinem Volk ist Gnadengeschichte. Dass die Gnadenreligion Christentum die Gesetzesreligion Judentum ersetze, ist als zutiefst problematischer Irrtum zu verabschieden. Dazu gehört auch die Aufarbeitung der Schuldgeschichte christlicher Judenfeindschaft (vgl. Art. Antisemitismus/ Antijudaismus).
Gnade wurde und wird partikular verstanden, z. B. wenn Teilhabe an der Gnade an die Teilnahme an kirchlichen Vollzügen gebunden wird, wie dies orthodox und katholisch, freilich auch in Teilen des evangelischen Spektrums gedacht wird. Der gnadenuniversalistische Gegenzug betont entweder die Gottoffenheit des Menschen an sich oder aber die Erwählung aller Menschen in Jesus Christus (vgl. Art. Allversöhnung/Allererlösung). Die erste Richtung muss sich fragen lassen, was es ihr erlaubt, Gnade zu regionalisieren und konstitutiv an menschliche Vollzüge zu binden, die zweite sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, Menschen anderen oder keinen Glaubens zu vereinnahmen. Ob die Betonung des universalen Charakters von Gottes Gnade notwendig auf die Usurpation anderer herauskommt, wird in den Spielarten der Theologie der Religion gegenwärtig vielfach diskutiert.
Gnade, so wiederum eine die theologischen Lager übergreifende Feststellung, ist nicht folgenlos. Die katholische Tradition hatte das durch die – in sich problematische, weil verdinglichende – Rede von der gratia creata (geschaffene Gnadenwirkung) im Blick, die evangelische unterscheidet dafür zwischen forensischer und effektiver Rechtfertigung: Der forensische Aspekt meint die ungeschuldete und unverdiente Gerechtsprechung des*der Sünder*in, der effektive Aspekt das daraufhin mögliche neue Leben vor und mit Gott. Die Kritik an einer rein forensischen Auslegung wurde mitunter scharf vorgetragen (Bonhoeffer : „billige Gnade“), trifft aber einen Wahrheitskern.10Vgl. Bonhoeffer, Dietrich, Nachfolge (DBW 4), Gütersloh 21994, 29. Entsprechend ist das Thema Gnade auch in allen Grundlegungsdebatten für die theologische Ethik zu finden. In der Fülle ihrer möglichen Formen fragt sie danach, welche Lebens-/Handlungszusammenhänge sich auftun, wenn Menschen als von Gott Begnadete leben dürfen, Gemeinschaft erfahren und stiften sowie die Orientierungs- und Handlungsoptionen ihrer jeweiligen Gegenwart verantwortungsvoll zu gestalten versuchen.
Diese Gestaltungsmöglichkeit und -aufgabe reicht bis hinein in üblicherweise streng codifizierte Bereiche: Das Kirchenrecht in entsprechend verfassten Denominationen (vgl. Art. Konfessionen) sowie die gewohnheitlichen Vollzüge in anderen stehen unter dem Anspruch, weltliche Rechtsordnung nicht einfach zu kopieren, sondern nichts weniger als „Recht der Gnade“ zu sein.11Vgl. Dombois, Hans, Das Recht der Gnade. Ökumenisches Kirchenrecht (3 Bände), Witten/Bielefeld 1961–1983. Das kirchliche Strafrecht mancher Jahrhunderte, etwa in den Auswüchsen der Ketzer- oder Hexenverfolgung, gibt Anlass zu einer profund selbstkritischen Geschichte des Kirchenrechts.
Kritisch ist Gnade auch in einem anderen, noch zentraleren Aspekt: Im „Licht der Gnade“ (Luther ) zeigt sich, wie es um Mensch und Welt im Zustand der Gottabgewandheit steht. Gottes gnadenvolle Präsenz ermöglicht und erfordert die Ausarbeitung der Rede von der menschlichen Sünde. (Erst) im Licht der Gnade wird deutlich, dass Menschen von sich aus in einem heillosen Leben verstrickt sind, so dass die Rede von der Gnade theo-logisch einer Sündenlehre vorausgeht. Die mitunter anzutreffende Strategie, als müssten Menschen zuerst zur Einsicht ihrer Gnadenbedürftigkeit kommen, bevor ihnen diese gewährt werde („Höllenfahrt der Selbsterkenntnis vor der Himmelfahrt der Gotteserkenntnis“) ist dagegen kurzschlüssig:12Nach Tholuck, Friedrich A., Gespräche über die vornehmsten Glaubensfragen der Zeit, Gotha 1846, 90. Ohne das Licht der Gnade ist gar nicht wissbar, wo Mensch und Welt im Argen liegen.
Es gibt eine evangelische Tendenz, Gnade in der eins-zu-eins-Relation von Gott und dem*der Einzelnen zu sehen. So richtig es ist, dass Menschen vor und mit Gott exzentrisch zu sich kommen, blendet das doch den wesentlichen Gemeinschaftscharakter von Gnade ab: Begnadete gehören zur familia Dei aus Juden und Heiden. Umgekehrt hat jede Rede von der Kirche gnadentheologische Prämissen.
Gottes Gnade trifft auf eine heillose Welt, in der sich nach wie vor unnennbar viel vollzieht, was Gnadenwirkung nicht genannt werden kann und auch nicht im Rahmen von Theodizee-Argumentationen trickreich dazu uminterpretiert werden sollte. Vielmehr gilt, dass Gottes Gnade mit seinen Menschen und der Welt noch unterwegs ist auf ihre Vollendung hin. Das Bekenntnis zu Ende der Johannesapokalypse, dass Gott alle Tränen abwischen und der Tod sein Sein verlieren wird (Offb 21,4und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.Zur Bibelstelle), zeigt die eschatologische Textur auch der Rede von der Gnade Gottes.
4. Kritik und Dialog
Seit der frühen Neuzeit wurden gnadentheologische Konzeptionen kritisiert, weil sie erkenntlich feudal strukturiert waren: Der mächtige Landesherr erweist seinen Untertanen nach eigenem Gutdünken Huld oder unterlässt dies ebenfalls nach Gutdünken. Dagegen wurde entweder naturrechtlich (Samuel Pufendorf [1632–1694] u. a.) oder im Rahmen einer Rekonstruktion des Glaubens im Licht der kritischen Vernunft (Immanuel Kant
, 1724–1804) vorgegangen. Die gerechtigkeits- und freiheitsgesteuerte Ablehnung des Gottesgnadentums traf zurecht eine falsche Verschwisterung von Herrschaftsideologie und Theologie. Angesichts auch gegenwärtiger theologischer Rechtfertigungen (absoluter) politischer Herrschaft zeigt sich die weiterhin nötige Präsenz dieses emanzipatorischen Denkens.
Umgekehrt ist präzise der Gnadendiskurs emanzipatorisch, wo er das aufklärerisch-neuzeitliche Selbstprojekt hinterfragt: Die massiven Zumutungen des Autonomiediskurses, als sei das vernünftige Selbst für alle Kenntnis und allen Erfolg samt Selbstdurchsetzung gegen Widerstände und Konkurrenten verantwortlich, ist in sich selbst eminent gnadenlos und prolongiert die Idee vom Menschen als Wolf des Menschen – auch in der spätmodernen Machart, die den autonomen und erfolgsverwöhnten Menschen in der Multioptionsgesellschaft bewirbt. Dagegen spielt der Gnadendiskurs die Möglichkeit des geschenkhaften Lebens ein und wirft ein helles Licht auf die massiven Gestehungskosten der Selbstverwirklichungsideale.
Im interreligiösen Dialog ist das Christentum aufgerufen, sein Verständnis von Gnade auszuschärfen und geduldig nach Parallelen und Unterschieden in anderen Religionen zu fragen. Der kleinschrittige thematische Einzelvergleich – Herangehensweise der Komparativen Theologie – dürfte dafür erfolgversprechender sein als notwendig vage Behauptungen, alle oder die meisten Religionen hätten es letztlich mit Gnade zu tun.
Nicht zuletzt trifft die Behauptung, Gott sei gnädig, auf Desinteresse oder Abweisung aus dem Feld des gewohnheitsmäßigen oder expliziten Atheismus. Neben der Zurückweisung mitunter sehr schlichter Annahmen über Glaube und Religion geht es hier v. a. darum, die impliziten Glücks- und Gnadenversprechen derjenigen Programmatiken zu beleuchten, die die Annahme Gottes gewohnheitsmäßig vergessen oder explizit ablehnen. Hier wie öfter ist der Gnadendiskurs nicht etwa eine harmlose Nettigkeit, wie prominent aber irrtümlich ein Heinrich Heine zugeschriebenes Dictum vermutete: „Gott wird mir schon vergeben, das ist schließlich sein Job.“ Er ist vielmehr theologische kritische Theorie der Gegenwart.
5. Neuere und neueste Impulse
Das Thema Gnade ist so zentral, dass nahezu alle neueren theologischen Impulse bei ihm Spuren hinterließen. Eine Auswahl: Die in Südamerika inaugirierte Befreiungstheologie legt Wert darauf, dass Gnade, als Befreiung gedacht, immer auch die soziale Befreiung meinen sollte und also ihre gerechtigkeitstheologischen Implikationen zu entfalten hat. Schon zeitig kritisierte die Feministische Theologie, dass die klassischen Konzeptionen von Sünde und Gnade am Vorbild männlicher Autonomie orientiert sind und die spezifischen Erfahrungen von Frauen kupieren oder mindestens nicht adäquat abbilden. Die Queer-theologischen Debatten der Gegenwart nehmen dies auf und fragen nach den Verdeckungen, die entstehen, wenn ein dichotomisches Geschlechterverhältnis allein als normativ gesetzt und – wie in Sektoren des Evangelikalismus und auch der katholischen und orthodoxen Theologie neuerdings massiv vertreten – biologistisch überhöht wird. Dagegen insistieren sie auf einem radikalen Universalismus des Gnadenhandelns Gottes, das alle Geschlechter inkludiert. Im christlich-jüdischen Dialog wurden falsche gnadentheologische Oppositionsfiguren („Gesetzlichkeit versus Gnade“) kritisiert und klargestellt, dass die Semantik der Gnade ohne die Hebräische Bibel gar nicht aussagbar ist. In der Ökumenischen Theologie konnte in jahrzehntelanger Arbeit gezeigt werden, dass es einen Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre gibt, die Rede von der Gnade Konfessionsfamilien also eint und nicht etwa trennt.13Vgl. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, 1999, z. B. Brosseder, Johannes (Hrsg.), Überwindung der Kirchenspaltung, Neukirchen-Vluyn 1999, 32–46. Herausforderungen ergeben sich im nach wie vor zu zögerlichen Dialog mit charismatischer/pfingstlicher Theologie, die die Realität der Gaben der Gnade („Charismen“) betont und ihre Erlebbarkeit als Teil des lebendigen Christseins bewirbt.
Weiterführende Informationen zum Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre
Auf der Homepage u. a. des Lutherischen Weltbundes finden sich knappe Informationen sowie ein kurzer historischer Abriss zu den Meilensteinen der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ zwischen der römisch-katholischen Kirche und der lutherischen Weltgemeinschaft sowie eine open-access Jubiläumsausgabe der Erklärung selbst. S. hierzu: https://lutheranworld.org/de/was-wir-tun/die-einheit-der-kirche/gemeinsame-erklaerung-zur-rechtfertigungslehre-ger, abgerufen am 09.04.2025.
Mittlerweile haben sich die methodistische Kirche, die anglikanische Kirche und die reformierte Kirche der Erklärung angeschlossen.
6. Bleibend wichtige Fragen
Neben den eben genannten Aspekten, die sich aus der Bearbeitung des jetzt Dringlichen ergeben, zeigen sich mit Blick auf das bleibend Wichtige der Theologie klassische Fragen, die jedes vertiefte Verständnis von Gottes Gnade – auch angesichts eines beeindruckenden theologiegeschichtlichen Fundusʼ – je neu bearbeiten muss. Die wichtigsten beiden sind:
- Wie ist das Verhältnis von Gnadenzuspruch einerseits und sich dadurch einstellender Lebensveränderung zu denken? Das richtet sich vor allem an die evangelische Debatte, die den forensischen Aspekt immer, den Aspekt effektiver Rechtfertigung aber allenfalls zurückhaltend im Blick hat.
- Wie verhalten sich die von außen kommende Gnade und die Freiheit des Menschen zueinander? Dies wird derzeit vorrangig katholisch diskutiert, weil Freiheit als Gabe des Schöpfers (vgl. Art. Schöpfung) hochgehalten und eine entsprechend zurückhaltende Lehre von der Kirche als Gnadenanstalt entwickelt werden soll.
Beiden Arbeitsbereichen kann als kritische Theorie ein Satz Karl Barths empfohlen werden, der 2Kor 12,9Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne.Zur Bibelstelle als „Meine Gnade genügt dir“ übersetzt und dann so auslegt: „Diese vier Wörtlein genügen.“14Barth, Karl, Predigten 1954–1967 (Gesamtausgabe 12), Zürich 32003, 220.
Weiterführende Infos SAET
Für eine Vertiefung des katholischen Gnadenverständnisses in englischer Sprache s. O’Callaghan, Paul/Vial de Amesti, Catalina, Art. Grace in Roman Catholic Theology, in: St. Andrew’s Encyclopedia of Theology (https://www.saet.ac.uk/Christianity/GraceinRomanCatholicTheology), abgerufen am 09.04.2025.