1. Was ist das Gewissen?


Martin Luthers Auftritt auf dem Reichstag zu Worms 1521 ist als eine Art Ur-Szene des Gewissens im kollektiven Gedächtnis verankert: „Wenn ich nicht durch das Zeugnis der Heiligen Schrift oder vernünftige Gründe widerlegt werde […], kann und will ich nichts widerrufen, denn wider das Gewissen etwas zu tun ist weder sicher noch lauter.“1Verhandlungen mit D. Martin Luther auf dem Reichstage zu Worms (1521), in: WA 7, (814) 825–887, 838,4–8, Übersetzung: Leonhardt, Rochus, Ethik, Leipzig 2021, 345.
Der Begriff des Gewissens wird in Philosophie, Theologie, Psychologie und im Recht behandelt. Bei allen Unterschieden im Einzelnen bezieht er sich auf das menschliche Vermögen, sich im eigenen Leben und Handeln moralisch bzw. religiös selbst zu binden, also: sich als verantwortlich zu erfahren. Von Gewissen ist in der Regel dann die Rede, wenn solche Selbstbindung problematisch wird, weil (1.) starke, unhintergehbare Bindungen im Spiel sind, (2.) tatsächliche oder mögliche Konflikte im Raum stehen und (3.) Individuen im Kern des eigenen Personseins betroffen sind.
Das deutsche Recht schützt Individuen in ihren personkonstitutiven Bindungen (Glaubens- und Gewissensfreiheit, Art. 4 GG), insbesondere in extremen Konfliktsituationen (z. B. Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen). Ebenso ist die Gewissensbestimmtheit von Parlamentsmitgliedern und Angehörigen medizinischer Berufe vor ungebührlicher Einflussnahme geschützt. So sind Ärzt*innen in ihren therapeutischen Entscheidungen nicht an die Weisung anderer (etwa von Klinikleitungen) gebunden; und eine Pflegekraft darf nicht gegen ihren Willen angewiesen werden, an einem Schwangerschaftsabbruch teilzunehmen. Dabei stellt sich sofort die Frage nach der Grenze von Gewissensfreiheit, sofern Dritte betroffen sind. Wer aus Gewissensgründen keine Blutkonserven erhalten will, darf das für sich ablehnen, auch wenn dadurch das eigene Leben gefährdet ist. Aber inwieweit dürfen Eltern das für ihre Kinder tun? Darf eine Bürgerin Steuern verweigern, weil mit diesen auch Rüstungsgüter finanziert werden? Darf eine Kirchengemeinde aus Gewissensgründen Geflüchtete vor Abschiebung schützen (Kirchenasyl)? Der Raum, den die Rechtsordnung für starke individuelle Bindungen öffnet, kann jedenfalls nicht unbegrenzt sein, sondern ist Sache sorgfältiger Justierung und beständiger Verhandlungen.
Die christliche Tradition fasst unter Gewissen die Erfahrung, vor Gott zu stehen und die eigene Lebensführung vor Gott verantworten zu müssen. Auf dieser Linie versteht Martin Luther das Gewissen (lateinisch conscientia, wörtlich: „Mitwissen“) als sittlich-religiöses Selbstverhältnis des Menschen, in dem ebenso die Unhintergehbarkeit von Bindungen („Gesetz“), das Scheitern an ihnen („Sünde“) wie die Befreiung davon („Gnade“) erfahren werden. So ist insbesondere das protestantische Christentum zu einer spezifischen Kultur des Umgangs mit dem Phänomen und den Problemen des Gewissens geworden.
2. Biblische Perspektiven
Das AT kennt kein eigenes Wort für das Gewissen, wohl aber das Phänomen, dass ein Mensch sich vor Gott für seine Taten verantwortlich findet. In seinem „Herzen“ als dem personalen Zentrum reflektiert David, was er getan hat, und legt vor Gott Rechenschaft ab (1Sam 24,6Aber danach schlug ihm sein Herz, dass er den Zipfel vom Rock Sauls abgeschnitten hatte,Zur Bibelstelle; 2Sam 24,10Aber das Herz schlug David, nachdem das Volk gezählt war. Und David sprach zum Herrn: Ich habe schwer gesündigt, dass ich das getan habe. Und nun, Herr, nimm weg die Schuld deines Knechts; denn ich habe sehr töricht getan.Zur Bibelstelle). Praktisch wird das im Gebet: Hier wird Gott angesprochen als der, der Herz und Nieren prüft (Ps 7,10Lass enden der Gottlosen Bosheit,den Gerechten aber lass bestehen;denn du, gerechter Gott,prüfest Herzen und Nieren.Zur Bibelstelle; Jer 17,10Ich, der Herr, kann das Herz ergründen und die Nieren prüfen und gebe einem jeden nach seinem Tun, nach den Früchten seiner Werke.Zur Bibelstelle) und in diesem Sinne „Mitwisser“ des Menschen ist (Ps 139[1] Ein Psalm Davids, vorzusingen.Herr, du erforschest michund kennest mich.[2] Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es;du verstehst meine Gedanken von ferne.[3] Ich gehe oder liege, so bist du um michund siehst alle meine Wege.[4] Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge,das du, Herr, nicht alles wüsstest.[5] Von allen Seiten umgibst du michund hältst deine Hand über mir.[6] Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch,ich kann sie nicht begreifen.[7] Wohin soll ich gehen vor deinem Geist,und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?[8] Führe ich gen Himmel, so bist du da;bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.[9] Nähme ich Flügel der Morgenröteund bliebe am äußersten Meer,[10] so würde auch dort deine Hand mich führenund deine Rechte mich halten.[11] Spräche ich: Finsternis möge mich deckenund Nacht statt Licht um mich sein –,[12] so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir,und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.[13] Denn du hast meine Nieren bereitetund hast mich gebildet im Mutterleibe.[14] Ich danke dir dafür,dass ich wunderbar gemacht bin;wunderbar sind deine Werke;das erkennt meine Seele.[15] Es war dir mein Gebein nicht verborgen, /da ich im Verborgenen gemacht wurde,da ich gebildet wurde unten in der Erde.[16] Deine Augen sahen mich,da ich noch nicht bereitet war,und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,die noch werden sollten und von denen keiner da war.[17] Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken!Wie ist ihre Summe so groß![18] Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand:Wenn ich aufwache, bin ich noch immer bei dir.[19] Ach, Gott, wolltest du doch den Frevler töten!Dass doch die Blutgierigen von mir wichen![20] Denn voller Tücke reden sie von dir,und deine Feinde erheben sich ohne Ursache.[21] Sollte ich nicht hassen, Herr, die dich hassen,und verabscheuen, die sich gegen dich erheben?[22] Ich hasse sie mit ganzem Ernst;sie sind mir zu Feinden geworden.[23] Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz;prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine.[24] Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin,und leite mich auf ewigem Wege.Zur Bibelstelle).2Vgl. Lichtenstein, Michael, Die Menschenkenntnis Gottes als Prüfung. Überlegungen zum Gewissen im Alten Testament ausgehend von Psalm 139, in: Schaede, Stephan/Moos, Thorsten (Hrsg.), Das Gewissen, Tübingen 2015, 121–149.
Im NT ist der Terminus des Gewissens (griechisch: συνείδησις) vor allem bei Paulus prominent. Auch wenn er noch kein kohärentes Gewissenskonzept entfaltet, sind doch vor allem zwei paulinische Texte für die spätere Theologie des Gewissens maßgeblich geworden. Dies ist zum einen das Motiv der Gerechten aus den Völkern: Wenn Menschen, die das Gesetz Gottes nicht kennen, trotzdem ihm entsprechend handeln, ist es eben ihr Gewissen, das ihnen bezeugt, was Gott fordert (Röm 2,14f.[14] Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur aus tun, was das Gesetz fordert, so sind sie, obwohl sie das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. [15] Sie beweisen damit, dass des Gesetzes Werk in ihr Herz geschrieben ist; ihr Gewissen bezeugt es ihnen, dazu auch die Gedanken, die einander anklagen oder auch entschuldigen,Zur Bibelstelle).
Zum anderen thematisiert Paulus Schutzbedürftigkeit und Irrtumsanfälligkeit des Gewissens. In der Auseinandersetzung um das Essen von Fleisch aus Götzenopfern droht das Gewissen der „Schwachen“ beschädigt zu werden, da sie – irrtümlich – befürchten, durch die Teilnahme am Essen von Gott abzufallen (1Kor 8,12Wenn ihr aber so sündigt an den Brüdern und Schwestern und verletzt ihr schwaches Gewissen, so sündigt ihr an Christus.Zur Bibelstelle). Die „Starken“, die wissen, dass es keine Götzen gibt und der Fleischgenuss religiös irrelevant ist, sind daher gehalten, in Liebe auf solches Essen zu verzichten, eben um das Gewissen der anderen nicht zu belasten.
3. Antike und mittelalterliche Theologie
Augustinus (354–430) versteht das Gewissen als den Ort menschlicher Gottesbegegnung schlechthin. Im Gewissen artikuliert sich die Stimme Gottes im Menschen, auch in moralischer Hinsicht. Augustinus verallgemeinert damit Röm 2,14f.[14] Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur aus tun, was das Gesetz fordert, so sind sie, obwohl sie das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. [15] Sie beweisen damit, dass des Gesetzes Werk in ihr Herz geschrieben ist; ihr Gewissen bezeugt es ihnen, dazu auch die Gedanken, die einander anklagen oder auch entschuldigen,Zur Bibelstelle zu einer anthropologischen Grundbestimmung: Alle Menschen sind qua Gewissen moralischer Einsicht fähig. Es motiviert zu gutem Handeln, tadelt bei Fehlverhalten und stellt in diesem Sinne ein inneres Gericht Gottes über das menschliche Leben dar; aber es offenbart auch die Möglichkeit der Umkehr und der göttlichen Vergebung. Einen komplexen Gewissensbegriff entwickelt Thomas von Aquin
(1225–1274). Er unterscheidet zwischen zwei Aspekten des Gewissens, die die beiden genannten paulinischen Motive aufnehmen: In der synteresis weiß ein Mensch grundlegend um die ersten moralischen Prinzipien, wie etwa um das Gebot, Gutes zu tun und Böses zu meiden. Im Anschluss an Röm 2,14f.[14] Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur aus tun, was das Gesetz fordert, so sind sie, obwohl sie das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. [15] Sie beweisen damit, dass des Gesetzes Werk in ihr Herz geschrieben ist; ihr Gewissen bezeugt es ihnen, dazu auch die Gedanken, die einander anklagen oder auch entschuldigen,Zur Bibelstelle ist sie eine universale vernünftige Erkenntnisfähigkeit, die unverlierbar ist. Die conscientia hingegen bezeichnet die konkrete Anwendung dieser Prinzipien auf bestimmte Situationen. Sie besteht aus Akten der Urteilskraft, die situativ bestimmt, was richtig und was falsch ist. Dabei kann sie irren, wenn Menschen – wie die „Schwachen“ in 1Kor 8[1] Was aber das Götzenopfer angeht, so wissen wir, dass wir alle die Erkenntnis haben. Die Erkenntnis bläht auf; aber die Liebe baut auf. [2] Wenn jemand meint, er habe etwas erkannt, der hat noch nicht erkannt, wie man erkennen soll. [3] Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt.[4] Was nun das Essen von Götzenopferfleisch angeht, so wissen wir, dass es keinen Götzen gibt in der Welt und keinen Gott als den einen. [5] Und obwohl es solche gibt, die Götter genannt werden, es sei im Himmel oder auf Erden, wie es ja viele Götter und viele Herren gibt, [6] so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm, und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn.[7] Aber nicht alle haben die Erkenntnis. Einige essen’s als Götzenopfer, weil sie immer noch an die Götzen gewöhnt sind; und so wird ihr Gewissen, weil es schwach ist, befleckt. [8] Aber die Speise macht’s nicht, wie wir vor Gott stehen. Essen wir nicht, so fehlt uns nichts, essen wir, so gewinnen wir nichts.[9] Seht aber zu, dass diese eure Freiheit für die Schwachen nicht zum Anstoß wird! [10] Denn wenn jemand dich, der du die Erkenntnis hast, im Götzentempel zu Tisch sitzen sieht, wird dann nicht sein Gewissen, da er doch schwach ist, verleitet, das Götzenopfer zu essen? [11] Und so geht durch deine Erkenntnis der Schwache zugrunde, der Bruder, für den doch Christus gestorben ist. [12] Wenn ihr aber so sündigt an den Brüdern und Schwestern und verletzt ihr schwaches Gewissen, so sündigt ihr an Christus. [13] Darum, wenn Speise meinen Bruder zu Fall bringt, will ich nimmermehr Fleisch essen, auf dass ich meinen Bruder nicht zu Fall bringe.Zur Bibelstelle – falsche Informationen oder ungenügende Einsicht haben. Das Gewissen im Sinne von conscientia ist demnach der Schulung durch Vernunft und göttliche Offenbarung bedürftig.3Zum Gewissensbegriff bei Augustin und Thomas von Aquin vgl. Schockenhoff, Eberhard, Wie gewiss ist das Gewissen? Eine ethische Orientierung, Freiburg i. Br. /Basel/Wien 2003, 95–121.
Weiterführende Infos WiReLex
Zur geschichtlichen Perspektive vgl. auch: Mokrosch, Reinhold, Art. Gewissen und Gewissensbildung. Brennpunkte aus der Geschichte des Gewissens- und Gewissensbildungsverständnisses, in: WiReLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/100061/), abgerufen am 11.03.2025.
4. Reformation
Martin Luther (1483–1546) schließt an Augustin
an, zieht die thomistische Unterscheidung von synteresis und conscientia wieder ein und stellt einen einheitlichen Begriff des Gewissens ins Zentrum seiner Theologie. Im Gewissen erfährt ein Mensch die Anfechtung, Gottes Gesetz auch beim besten Wollen niemals zureichend erfüllen und daher vor Gottes Gericht nicht bestehen zu können, kurz: gänzlich sündhaft zu sein. Hier wird aber im Glauben auch der erlösende Freispruch erfahren, von Gott um Christi willen ohne eigenes Zutun, allein aus Gnade als gerecht angesehen zu werden. Im Gewissen hört ein Mensch also Gottes Wort doppelt: als anklagendes Gesetz und als befreiendes Evangelium.4Vgl. Luther, Martin, Sermon von dreierlei gutem Leben, das Gewissen zu unterrichten (1521), WA 7, (792) 795–802, 795ff. Unter Freiheit des Gewissens ist also im Kern eine religiöse, das Gottesverhältnis des Menschen betreffende Erfahrung verstanden. Diese hat dann durchaus weltliche Implikationen, wenn Luther, wie auf dem Wormser Reichstag, die alleinige Bindung des Gewissens an Gottes Wort gegen den Anspruch der kirchlichen und obrigkeitlichen Autorität stellt, in Glaubensdingen mit den Mitteln des Zwangs zu agieren. Hingegen ist Freiheit im politischen Sinne für Luther ebenso wenig im Blick wie eine gegenüber Bibel und Bekenntnis autonome Vernunft.5Zum Gewissensbegriff Luthers vgl. Barth, Roderich, Forum internum. Überlegungen zum protestantischen Gewissensbegriff, in: Evangelische Theologie 83/5 (2023), 324–337.
5. Aufklärung
Die Autonomie der Vernunft, an der auch das Gewissen Anteil hat, ist ein zentrales Thema von Immanuel Kants (1724–1804) Philosophie. Was das Subjekt bei Kant mit eben derjenigen Unhintergehbarkeit bindet wie Gottes Wort bei Luther
, ist das, was die Vernunft mit zwingender Notwendigkeit als richtig erkennt: das Sittengesetz, ausgedrückt im kategorischen Imperativ, so zu handeln, dass die Maxime dieses Handelns zugleich als allgemeines Gesetz gewollt werden kann. Zu beurteilen, ob eine konkrete Handlung dem Sittengesetz entspricht oder nicht, ist eine weitere Leistung der Vernunft, genauer: der moralischen Urteilskraft. Das Gewissen ist dann eine dritte, selbstkritische Leistung der Vernunft, in der diese sich gleichsam selbst vor Gericht stellt und darüber entscheidet, ob sie bei der Beurteilung der Richtigkeit von Handlungen tatsächlich „mit aller Behutsamkeit“6Kant, Immanuel, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), 4. Stück, § 4. vorgegangen ist – oder sich nicht doch heimlich selbst in die Tasche gelogen hat. Die Vorstellung, sich im Gewissen Gott und seinem Gesetz gegenüber verantworten zu müssen, ist dann nur noch ein bildhafter Ausdruck für die selbstgesetzgebenden und selbstkritischen Tätigkeiten der Vernunft.
6. Neuere Kritik des Gewissens
Für Friedrich Nietzsche (1844–1900) handelt es sich beim Gewissen gerade nicht um eine Instanz menschlich-vernünftiger Freiheit, sondern vielmehr um die Vernichtung der Freiheit des Menschen, der im schlechten Gewissen den Willen zur Macht grausam gegen sich selbst kehrt und zum Gefangenen der Sitte wird. Auf der Spur der Nietzsche’schen Gewissens- und Moralkritik hat etwa Judith Butler
(geb. 1956) den gegen sich selbst gerichteten und in diesem Sinne selbstverneinenden Charakter des Gewissens analysiert. Bei Butler steht das Gewissen für den untergründigen Gewaltaspekt von Subjektivierung insgesamt: Um überhaupt persönliche Freiheit beanspruchen zu können, muss ein Individuum sozial als Mitspieler*in anerkannt werden und sich daher allen Regeln dessen unterwerfen, was es in einer bestimmten Gesellschaft heißt, ein Subjekt zu sein. Im Kern der Autonomie steht daher Fremdbestimmung; gegen sie zu rebellieren würde soziale Nichtexistenz bedeuten. Freiheit ist unter diesen Bedingungen bescheidener zu denken: als subversive Variation der ständig wiederholten Praktiken des Subjektseins im Wissen darum, mehr sein zu können als das soziale Wesen, das man ist.7Vgl. Butler, Judith, „Das Gewissen macht Subjekte aus uns allen“. Subjektivation nach Althusser, in: Butler, Judith, Psyche der Macht, Frankfurt a. M. 2001, 101–124.
Ähnlich wurden die materialen Inhalte von Gewissensurteilen kritisiert. Die Psychoanalyse hat Sigmund Freuds (1856–1939) Konzept des Gewissens populär gemacht, der das Gewissen als Verinnerlichung elterlicher Autorität versteht, von deren Erwartungen sich ein reifes Individuum seinerseits emanzipieren muss. Dass das Gewissen hegemoniale soziale Normen in die innere Selbstbeurteilung des Individuums einschreibt, ist etwa im Kontext der Befreiungstheologie, feministischen und Queer Theology kritisch notiert worden. Wenn christliche Gewissensbildung insbesondere cisgeschlechtliche und heterosexuelle Normen als „anständig“ affirmiert, kommt es zu einer Marginalisierung queerer Menschen. Es bedürfe daher einer theologischen Revision bzw. Inversion im Sinne einer „unanständigen Theologie“.8Vgl. Althaus-Reid, Marcella, Indecent Theology. Theological Perversions in Sex, Gender and Politics, London et al. 2010.
Doch das Gewissen ist auch von theologisch konservativer Seite aus kritisiert worden. Unter dem Titel „The Abuse of Conscience“ kritisiert der römisch-katholische Theologe Matthew Levering die Tradition der auf das Gewissen des Individuums fokussierenden autonomen Ethik und fordert die Rückbindung des Gewissens an offenbarte Schriftwahrheiten bzw. an die kirchliche Lehre.9Vgl. Levering, Matthew, The Abuse of Conscience. A Century of Catholic Moral Theology, Grand Rapids 2021.
7. Gegenwärtige Herausforderungen
Insgesamt hat der Begriff des Gewissens eine zentrale Rolle für die Herausbildung eines modernen Subjektverständnisses gespielt. Er umfasst die am Allgemeinen orientierte moralische Selbststeuerung ebenso wie die spezifische Individualität zentraler eigener Überzeugungen, Bindungen und Haltungen; er markiert die Achtungswürdigkeit moralischer Selbstbindung und die kritische Funktion des Subjekts als Widerlager gegen die Eigenlogik von Institutionen; er bezeichnet den Ort der Selbsttranszendenz des Subjekts, das, wenn es nach dem Ureigensten seiner selbst fragt, sich darin zugleich auf anderes und andere hin überschreitet; und er steht, kritisch gewendet, für die Möglichkeit, dass subjektive Selbststeuerung wiederum Züge verinnerlichter Heteronomie annehmen kann.
Moderne theologische Gewissensbegriffe, wie sie etwa Paul Tillich (1886–1965) in seinem Konzept des „transmoralischen Gewissens“10Tillich, Paul, Das transmoralische Gewissen, in: Tillich, Paul, Das religiöse Fundament des moralischen Handelns. Schriften zur Ethik und zum Menschenbild (GW 3), Stuttgart 1965, 56–70. vertritt, sind durch die genannte Kritik mindestens teilweise hindurchgegangen. Sie suchen die moralische Engführung, die die Topoi Sünde und Erlösung durch den Bezug auf das Gewissen erfahren haben, zu überwinden. Nichtsdestotrotz ist der Begriff des Gewissens auch in seinen moralischen Elementen aus verschiedenen Gründen theologisch für die Gegenwart unverzichtbar.
Aus ethischer Sicht bedarf zunächst der Zentralbegriff der Verantwortung einer Konkretisierung: Wer ist verantwortlich, etwa für den Klimaschutz oder für die Überwindung von Armut? Dies ist in hoch arbeitsteiligen, global vernetzten Gesellschaften problematisch. „Gewissen“ bezeichnet hier die Behaftbarkeit eines Individuums für Verantwortung: die Bereitschaft, für das eigene Tun und Unterlassen Rechenschaft zu geben.
Zweitens hat sich das Problem starker normativer Bindungen angesichts verschärfter Pluralitätserfahrungen in der Gegenwart noch einmal vertieft. Die Rechts- und Wirtschaftsordnung, die Moral der Herkunftsfamilie, die „Identität“ der eigenen community, die „Kultur“: Sie alle stellen normative Erwartungen an ein Individuum. „Gewissen“ bezeichnet ein reflektiertes Verhältnis zu diesem spannungsvollen Erwartungsspektrum.
Drittens ist es nicht selbstverständlich, was Menschen in die Lage versetzt, sich zu eigenen und fremden starken Ansprüchen und Bindungen noch einmal in Freiheit verhalten zu können. „Gewissen“ bezeichnet die Einsicht, dass Freiheit nicht im Heraustreten aus Bindungen in die Bindungslosigkeit, sondern im Bindungswechsel besteht.11Vgl. Weskott, Markus, Gewissen und Gewissensfreiheit im neueren Protestantismus. Denkansätze von Thielicke bis Rendtorff, Stuttgart 2020.
Viertens hat die Erfahrung, dass bestimmte Normen unhintergehbar gültig sind, ein religiöses Moment. Scheitere ich an ihnen, steht meine personale Integrität im Ganzen auf dem Spiel. „Gewissen“ bezeichnet den Ort, an dem die Absolutheit des Geforderten als eine transzendente Verantwortungsbeziehung erfahren wird. „Gewissen“ bezeichnet aber auch die Fähigkeit, zwischen der Absolutheit letzter Normen und der pragmatischen Relativität des moralischen Alltags zu unterscheiden, also Moral und Religion nicht zu trennen, sie aber in einem lebensförderlichen Abstand zu halten.