1. Begriff und Anliegen der Theologie der Religionen
Zu allen Zeiten hat sich die christliche Theologie mit nichtchristlichen Religionen (wie auch mit heterodoxen Formen des Christentums) auseinandergesetzt: von Beginn an mit dem rabbinischen Judentum, seit dem ausgehenden 7. Jh. mit dem Islam (bei Johannes von Nikiu und Johannes von Damaskus
), aber auch mit anderen Religionsformationen, vor allem mit solchen, denen die christliche Mission begegnete. Dies geschah zumeist auf eine differenzbetonende, apologetische, nicht selten polemische Art, um die Inferiorität dieser Religionsformen darzustellen.
In den 1960er Jahren kam dann besonders im westlichen Christentum die Forderung nach einem Paradigmenwechsel in der interreligiösen Beziehungsgestaltung auf: Die Beziehung des christlichen Glaubens und der Kirche zu anderen Religionen sollte sowohl in der Praxis als auch in der theologischen Reflexion nach dem Kommunikationsmuster des „Dialogs“ gestaltet werden. Das löste aber Diskussionen um die Frage aus, wie und auf welche Weise am Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens festgehalten werden könne, wenn andere Religionen als prinzipiell gleichberechtigte Dialogpartner anerkannt werden. Zur Bezeichnung des thematischen Feldes, auf dem die Fragen der interreligiösen Beziehungsbestimmung und -gestaltung diskutiert wurden, kam zunächst in der katholischen Theologie im Umfeld und im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) die Formel „Theologie der Religionen“ auf. So publizierte Heinz Robert Schlette 1964 „Überlegungen zu einer ‚Theologie der Religionen‘“.1Schlette, Heinz Robert, Die Religionen als Thema der Theologie. Überlegungen zu einer „Theologie der Religionen“, Freiburg i. Br. 1964.
In der Konzilserklärung Nostra Aetate hatte die römisch-katholische Kirche einen epochalen Aufbruch zu einer neuen, wertschätzenden Sicht anderer Religionen vollzogen. Galt bis dahin der Satz Cyprians von Karthago († um 250 n. Chr.) „Es gibt kein Heil außerhalb der Kirche“, so hieß es jetzt: „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist.“2Nostra Aetate. Über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, 28.10.1965 (https://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651028_nostra-aetate_ge.html), abgerufen am 10.07.2024, Art. 2. Damit war ein starker Impuls zu religionstheologischen Reflexionen gegeben. Karl Rahner
zog diese Linie theologisch weiter aus und gestand Anhängerinnen und Anhängern anderer Religionen, die noch nicht mit dem Evangelium Jesu Christi konfrontiert worden waren, ein „anonymes Christsein“ zu.3Vor allem in Rahner, Karl, Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen, in: ders.: Schriften zur Theologie V, Einsiedeln et al. 21964, 136–158.
Kritische Einwände dagegen blieben nicht aus. Manche Kritiker sahen die Religionstheologie nicht als ein offenes Themenfeld, auf dem ganz unterschiedliche Ansätze zur Diskussion gestellt werden, sondern identifizierten sie mit bestimmten Positionen – etwa mit der Bezeichnung der Religionen als „Heilswege“ – und lehnten sie ab. Der Vorwurf lautet, hier würden großkalibrige apriorische Werturteile gefällt, die auf theologischen Spekulationen über die Wahrheitshaltigkeit und die Heilsbedeutung der Religionen beruhten. Diese Kritik ist allerdings keineswegs zwingend. „Theologie der Religionen“ besteht schlicht darin, die außerchristlichen Religionen zum Thema der Theologie zu machen.
In der ökumenischen Theologie führte die Weitung des Blickfeldes über die christlichen Konfessionen und Denominationen hinaus zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit nichtchristlichen Religionen. Besonders in der englischsprachigen Theologie wurden religionstheologische Konzepte entwickelt. Die deutschsprachige evangelische Theologie blieb dagegen zurückhaltend. Das hat nicht zuletzt mit der theologischen Religionskritik der Wort-Gottes-Theologie (Karl Barth ) zu tun und wurzelt in der Zentrierung auf Christus sowie in der Betonung der Bibel als vorrangiger Erkenntnisquelle.
2. Das Verhältnis der Israeltheologie zur Religionstheologie
Diskussionen entzündeten sich an der Frage, ob das Judentum in den Kreis der außerchristlichen Religionen gehört oder ob ihm eine Sonderstellung als „Mutter- oder Schwesterreligion“ des Christentums zukommt. Von Seiten des gegenwärtigen Judentums wird immer wieder vor theologischen Vereinnahmungen durch das Christentum gewarnt und die „Würde der Differenz“4Vgl. Sacks, Jonathan, The Dignity of Difference. How to Avoid the Clash of Civilizations, London 2002. (Jonathan Sacks ) betont. Das Judentum sei eine gegenüber dem Christentum ganz eigenständige Religion. Christliche Theologinnen und Theologen verweisen demgegenüber auf die historische und theologische Verwurzelung des Christentums im Judentum. Notwendig wäre hier die Unterscheidung zwischen dem biblischen Israel als dem Wurzelboden des Christentums und dem nachbiblischen rabbinischen Judentum als einer vom Christentum deutlich unterschiedenen Religion.
3. Konzepte der neueren Religionstheologie
Seit den 1960er und verstärkt seit den 1980er Jahren wurden verschiedene Konzepte zur theologischen Deutung der religiösen Pluralität und zur Bestimmung der Beziehung zwischen dem christlichen Glauben und außerchristlichen Religionen entwickelt. Die Wichtigsten sind:
- Die Pluralistische Theologie der Religionen (PTR), als deren Hauptvertreter John Hick
(1922–2012) gilt. Ihr Grundgedanke lautet: Zumindest die großen, traditionsreichen „Weltreligionen“ stellen ebenbürtige Wege dar, sich zur göttlichen Wirklichkeit in Beziehung zu setzen. In ihnen vollzieht sich ein analoger Grundvorgang: das Aufbrechen der Selbstbezogenheit des Menschen und seine Öffnung für diese letzte Wirklichkeit, die Hick „the Real“ nennt.5So etwa in seinem religionstheologischen Hauptwerk Hick, John, Religion. Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod, München 1989, 254–320. Der wichtigste deutschsprachige Vertreter dieses (von ihm weiterentwickelten) Ansatzes ist Perry Schmidt-Leukel
.6Vgl. Schmidt-Leukel, Perry, Gott ohne Grenzen? Eine christliche und pluralistische Religionstheologie, Gütersloh 2005; Schmidt-Leukel, Perry, Wahrheit in Vielfalt. Vom religiösen Pluralismus zur interreligiösen Theologie, Gütersloh 2019.
Die Diskussion um die PTR ist vor allem in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts und in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts intensiv geführt worden, wobei besonders deren theologische Begründbarkeit hinterfragt wurde. Die Glaubenskongregation des Vatikan verurteilte diese Position in der Erklärung Dominus Iesus vom 6. August 2000 und sanktionierte ihre Vertreter.7Vgl. Dominus Iesus. Über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche, 06.08.2000 (https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20000806_dominus-iesus_ge.html), abgerufen am 12.07.2024. - Das Konzept der Abrahamischen Religionstheologie (ATh) ist nur auf das Judentum, das Christentum und den Islam bezogen. Diese Religionen richteten sich – so die These – auf den einen und gleichen Gott, wie er in unterschiedlicher Weise in der Hebräischen Bibel, im Neuen Testament und im Koran bezeugt sei. Abraham gilt als der Stammvater dieses Gottesglaubens und als gemeinsamer Bezugspunkt der drei Religionen. Von ihm gehen nach Gen 16f[1] Sarai, Abrams Frau, gebar ihm kein Kind. Sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hieß Hagar. [2] Und Sarai sprach zu Abram: Siehe, der Herr hat mich verschlossen, dass ich nicht gebären kann. Geh doch zu meiner Magd, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme. Und Abram gehorchte der Stimme Sarais. [3] Da nahm Sarai, Abrams Frau, ihre ägyptische Magd Hagar und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau, nachdem Abram zehn Jahre im Lande Kanaan gewohnt hatte.[4] Und er ging zu Hagar, die ward schwanger. Als sie nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Herrin gering. [5] Da sprach Sarai zu Abram: Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich! Ich habe meine Magd dir in die Arme gegeben; nun sie aber sieht, dass sie schwanger geworden ist, bin ich gering geachtet in ihren Augen. Der Herr sei Richter zwischen mir und dir. [6] Abram aber sprach zu Sarai: Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir’s gefällt. Da demütigte Sarai sie, sodass sie vor ihr floh.[7] Aber der Engel des Herrn fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste, nämlich bei der Quelle am Wege nach Schur. [8] Der sprach zu ihr: Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst du hin? Sie sprach: Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen. [9] Und der Engel des Herrn sprach zu ihr: Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand.[10] Und der Engel des Herrn sprach zu ihr: Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. [11] Weiter sprach der Engel des Herrn zu ihr: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der Herr hat dein Elend erhört. [12] Er wird ein Mann wie ein Wildesel sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn, und er wird sich all seinen Brüdern vor die Nase setzen.[13] Und sie nannte den Namen des Herrn, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn sie sprach: Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat. [14] Darum nannte man den Brunnen: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht. Er liegt zwischen Kadesch und Bered.[15] Und Hagar gebar Abram einen Sohn, und Abram nannte den Sohn, den ihm Hagar gebar, Ismael. [16] Und Abram war sechsundachtzig Jahre alt, als ihm Hagar den Ismael gebar.Zur Bibelstelle zwei Abstammungslinien aus: eine über Isaak und die andere über Ismael. Juden und die hinzuerwählten Christen könnten sich über Isaak, die Muslime über Ismael auf Abraham berufen. Gegenüber dem Modell der PTR wollen die Vertreter dieses Modells näher an den Erzählkulturen der drei Religionstraditionen bleiben. Doch führt die ATh in gravierende Probleme, u. a. weil die Figur Abrahams von den drei Religionen auf ihre je eigene Weise stilisiert wird und weil Isaak und Ismael in Gal 4,21–31[21] Sagt mir, die ihr unter dem Gesetz sein wollt: Hört ihr nicht das Gesetz? [22] Denn es steht geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Magd und einen von der Freien. [23] Aber der von der Magd ist nach dem Fleisch geboren worden, der von der Freien aber durch die Verheißung.[24] Das ist bildlich zu verstehen: Die beiden Frauen sind zwei Bundesschlüsse, einer vom Berg Sinai, der in die Knechtschaft gebiert; das ist Hagar. [25] Hagar aber bezeichnet den Berg Sinai in Arabien und ist ein Gleichnis für das jetzige Jerusalem, das mit seinen Kindern in der Knechtschaft lebt. [26] Aber das Jerusalem, das droben ist, das ist die Freie; das ist unsre Mutter. [27] Denn es steht geschrieben : »Sei fröhlich, du Unfruchtbare, die du nicht gebierst! Brich in Jubel aus und jauchze, die du nicht schwanger bist. Denn die Einsame hat viel mehr Kinder, als die den Mann hat.« [28] Ihr aber, Brüder und Schwestern, seid wie Isaak Kinder der Verheißung.[29] Aber wie zu jener Zeit der, der nach dem Fleisch geboren war, den verfolgte, der nach dem Geist geboren war, so geht es auch jetzt. [30] Doch was spricht die Schrift? »Stoß die Magd hinaus mit ihrem Sohn; denn der Sohn der Magd soll nicht erben mit dem Sohn der Freien« . [31] Darum, Brüder und Schwestern, sind wir nicht Kinder der Magd, sondern der Freien.Zur Bibelstelle in einen scharfen Kontrast zueinander gestellt werden.
- Die Komparative Theologie (KTh) weist alle religionstheologischen Theorien zurück, die apriorische (also der konkreten Auseinandersetzung mit anderen Religionen vorausliegenden und übergeordneten) interreligiöse Verhältnisbestimmungen vornehmen. Sie will sich ganz auf den „mikrologischen“ Vergleich einzelner Erscheinungsformen der Religionstraditionen beschränken. Es handelt sich also eher um eine Methode als um ein inhaltliches Konzept. Als einer der wichtigsten Inauguratoren der neueren KTh kann Francis X. Clooney
vom Boston College gelten.8Vgl. Clooney, Francis X., Hindu and Catholic, Priest and Scholar. A Love Story, London 2024; Kimmel, Joseph L./Takacs, Axel M. Oaks (Hrsg.), The Wiley Blackwell Companion to Comparative Theology. A Festschrift in Honor of Francis X. Clooney, SJ, Hoboken 2023. Im deutschsprachigen Raum hat sich Klaus von Stosch
als einer der Hauptvertreter profiliert.9Vgl. Stosch, Klaus von, Einführung in die Komparative Theologie, Paderborn 2021.
Doch kommt auch dieser Ansatz nicht umhin, religionstheologische Voraussetzungen in Anspruch zu nehmen. So gründet etwa die Erwartung, dass der Vergleich zu theologisch relevanten Einsichten führt, in der Annahme, dass die zum Vergleich herangezogenen außerchristlichen Religionsphänomene authentische Transzendenzerfahrungen bezeugen. - Während die PTR und die ATh grundlegende Gemeinsamkeiten der Religionstraditionen postulieren und die KTh theologische Erkenntnisse aus dem interreligiösen Vergleich gewinnen will, zielt die Hermeneutische Religionstheologie auf einen differenzsensiblen Religionsdialog. Im Bewusstsein der bleibenden Unterschiedenheit entfaltet sie die christliche Theologie im Kontext außerchristlicher Religionstraditionen. Dabei ist sie um ein möglichst authentisches Verstehen dieser Traditionen bemüht, strebt aber auch danach, ihre eigenen Positionen so zu entfalten, dass sie von deren Anhängerinnen und Anhängern verstanden werden.
Die Deutung der religiösen Pluralität kann nicht in einer pluralistischen Zentralperspektive erfolgen, sondern nur in der Vielfalt der religiösen und weltanschaulichen Binnenperspektiven. Die Religionskulturen gleichen demnach verschiedenen Sprachen, die verschiedene Weltsichten nicht nur zum Ausdruck bringen, sondern konstituieren. Es sind unterschiedliche Globalperspektiven mit Transzendenzbezug. Dass sie sich auf die göttliche Wirklichkeit beziehen, kann mit guten theologischen Gründen angenommen werden. Letztlich aber muss diese Frage offenbleiben.
Jede der Religionen ist nach diesem Modell dazu aufgefordert, von der Mitte ihrer religiösen Überzeugungen aus Brückenköpfe auszuweisen, die eine dialogische Beziehungsbestimmung und -gestaltung erlauben. Dazu lassen sich die in den Religionstraditionen enthaltenen Universalitätspotenziale heranziehen, christlicherseits etwa der Glaube an Gott als freien Einheitsgrund der gesamten Wirklichkeit, an das universale „Wort“ und den „Geist“ Gottes, der religiöse Formationen transzendiert.10Ich bezeichne diesen Ansatz auch als „Inklusivismus auf Gegenseitigkeit“ oder „Mutualen Inklusivismus“. Vgl. Bernhardt, Reinhold, Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion, Zürich 2006, 206–275.