1. Einleitung: Gerechtigkeit in einer Welt voller Ungerechtigkeiten
Dass die gegenwärtige Welt eine Welt voller Ungerechtigkeiten ist, die sich zudem immer schneller noch zu vertiefen scheinen, ist kaum zu übersehen. Nahezu jede Krise oder Herausforderung unserer globalisierten Existenz lässt sich auf Ungerechtigkeiten zurückführen oder hat diese zur Konsequenz. Gerade bei denen, die unter diesen Ungerechtigkeiten leiden, wird der Ruf nach Gerechtigkeit, die Sehnsucht nach einer gerechten Ordnung des Lebens für alle laut; zudem sehen sich Kirchen1Vgl. dazu zum Beispiel das Wort der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, 22.02.1997 (https://www.ekd.de/24153.htm), abgerufen am 16.08.2024. und engagierte Christ*innen überall auf der Welt aufgerufen, sich für Gerechtigkeit einzusetzen. Dabei ist die Frage nach Gerechtigkeit keineswegs eine Angelegenheit nur der Gegenwart, wie ein Blick in die Geschichte von Philosophie und christlicher Theologie mit ihren Wurzeln in der Welt des Alten Vorderen Orients und der Antike zeigt. Schon hier „erscheint Gerechtigkeit geradezu als ein Leitthema und als ein wesentlicher Motor des Nachdenkens über Gott, den Menschen, die Welt und deren gegenseitiges Verhältnis.“2Witte, Markus, Gerechtigkeit als Thema der Theologie, in: ders. (Hrsg.), Gerechtigkeit. Themen der Theologie Bd. 6, Stuttgart 2012, 3. Es geht beim Thema der Gerechtigkeit als Grundbegriff der Theologie3Vgl. Gräb-Schmidt, Elisabeth, Gerechtigkeit systematisch-theologisch, in: Witte, Markus (Hrsg.), Gerechtigkeit. Themen der Theologie Bd. 6, Stuttgart 2012, 125f. dabei nicht allein um unser Verständnis von Gerechtigkeit und ihren Maßstäben, sondern entscheidend auch um das Gottesverständnis: Gott ist ein Gott, der gerecht ist und Gerechtigkeit lieb hat (Ps 11,7Denn der Herr ist gerecht und hat Gerechtigkeit lieb. Die Frommen werden schauen sein Angesicht.Zur Bibelstelle).
2. Der Begriff der Gerechtigkeit in Antike und Bibel
2.1. Gerechtigkeit als blinde Justitia?
Zunächst einmal lohnt sich jedoch ein Blick auf ein vertrautes Bild von Gerechtigkeit: Die römische Göttin Justitia, die mit verbundenen Augen – also ohne Ansehen der Person – und mit einer Waagschale in der einen Hand nach dem antiken Grundsatz „suum cuique“ jeder Person das Ihre zumisst.4Vgl. dazu Horn, Christoph, Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs. Antike und Mittelalter, in: Goppel, Anna et al. (Hrsg.), Handbuch Gerechtigkeit, Heidelberg 2016, 6–14. Jede*r erhält also genau das, was ihr oder ihm zukommt; menschliche Gerechtigkeit scheint diesem Grundsatz nach möglich zu sein. Justitia sorgt zudem mit dem Schwert in der anderen Hand dafür, dass dieser Grundsatz auch vollzogen wird; ihre Gerechtigkeit ist auch eine strafende Gerechtigkeit. Damit ist ein Rechtsverständnis etabliert, das von der Gleichheit aller Menschen in ihrer Verschiedenheit ausgeht und die Überparteilichkeit der Rechtsprechung einfordert – ein wichtiges Schutzinstrument gerade jener, die nicht über Geld, Macht oder Einfluss verfügen. Dieses Gerechtigkeitsverständnis geht zurück bis in die griechische Antike, in der Gerechtigkeit einen Orientierungsbegriff im Blick sowohl auf das Leben der Einzelnen als auch auf das Ganze des Seins darstellte.5Vgl. dazu Gräb-Schmidt, Gerechtigkeit, 128f. Gerechtigkeit bezeichnet damit etwa für Plato (um 427–347 v. Chr.) nicht nur die höchste Tugend, sondern auch einen „Zustand des Wohlgeordnetseins“.6Holzleithner, Elisabeth, Gerechtigkeit. Grundbegriffe der Europäischen Geistesgeschichte, Wien 2009, 21. Eine entscheidende Frage bleibt damit allerdings unbeantwortet: Wenn jede*r das erhält, was ihr oder ihm zukommt, anhand welcher Kriterien werden einzelne Individuen beurteilt – nach ihren Verdiensten oder nach ihren Bedürfnissen?
2.2. Gerechtigkeit als roter Faden der Bibel7Eine Begründung für den Beginn mit biblischen Gerechtigkeitsvorstellungen gibt Wolterstorff, Nicholas, Art. Justice and Rights, in: St Andrews Encyclopaedia of Theology, 18.05.2023 (https://www.saet.ac.uk/Christianity/JusticeandRights), abgerufen am 16.08.2024.
2.2.1. Die rettende Gerechtigkeit Gottes im Alten Testament
Weiterführende Infos WiBiLex
Zur bibelkundlichen Vertiefung im Alten Testament: Fischer, Stefan, Art. Gerechtigkeit / Gerechter / gerecht (AT), in: WiBiLex (https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/gerechtigkeit-gerechter-gerecht-at), abgerufen am 08.03.2025.
So vertraut das Bild der blinden Justitia als Inbegriff von Gerechtigkeit auch sein mag, so beschreibt es doch nicht annähernd das, was biblische Vorstellungen von Gerechtigkeit in ihrer Vielfalt zu beschreiben versuchen. Gerechtigkeit ist dabei in beiden Testamenten ein derart zentrales Motiv, dass sie gar als „roter Faden“8Vgl. dazu Dietrich, Walter, Der rote Faden im Alten Testament, EvTh 49 (1989), 232–250, und Ebach, Jürgen, Ein roter Faden in der Bibel. Beobachtungen und Erwägungen zur Gerechtigkeit als biblischer und ethischer Ziel-, Norm- und Praxiskategorie, in: Felder, Matthias/Frettlöh, Magdalene (Hrsg.), Unsere großen Wörter. Reformatorische ReVisionen, reformiert! Bd. 11, 15. der biblischen Bücher und „Leitmotiv der Theologie des Alten Testaments“9Witte, Markus, Von der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen, in: ders. (Hrsg.), Gerechtigkeit. Themen der Theologie Bd. 6, Stuttgart 2012, 37. bezeichnet werden kann. Zwar unterscheiden sich die Gerechtigkeitsvorstellungen in den biblischen Büchern des Alten Testaments; es kann dennoch durchaus von einer Konzeption von Gerechtigkeit gesprochen werden, indem diese „immer eine auf Gott bezogene, durch Gott gestiftete und auch im zwischenmenschlichen Bereich von Gott her zu gestaltende Beziehung beschreibt“.10Witte, Gerechtigkeit, 61. Eine zentrale, auch in gegenwärtiger Theologie wieder aufgenommene Vorstellung von Gerechtigkeit ist dabei „ein Handeln [Gottes] sehr wohl in Ansehung der Person, nämlich ein parteilicher, solidarischer Einsatz für die Schwachen, denen zu ihrem Recht verholfen werden muss“.11Ebach, Faden, 17. Der hebräische Begriff für Gerechtigkeit, z’daka, hat nicht das Bild eines unbeteiligten, abwägenden Gottes vor Augen, sondern das des Richters (vgl. Art. Gericht) und Retters und seiner rettenden Gerechtigkeit.12Vgl. dazu Janowski, Bernd, Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999. Gerechtigkeit ist dabei nicht eine neben vielen anderen Eigenschaften Gottes, sondern wird in den biblischen Büchern als „zentrale Wesensbestimmung Gottes“13Welker, Michael, Gottes Gerechtigkeit, in: NZSTh 56:4 (2014), 410; vgl. dort auch zum folgenden. verstanden: „Ohne Gerechtigkeit wäre Gott nicht Gott.“ Gleichzeitig kann Gottes Gerechtigkeit aber nicht ohne Gottes Barmherzigkeit verstanden werden, vielmehr „erweist sich Gottes Gerechtigkeit als ein Moment seiner Barmherzigkeit, und diese wiederum besteht in einer entschiedenen Parteinahme für die Opfer“.14Ansorge, Dirk, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes. Die Dramatik von Vergebung und Versöhnung in bibeltheologischer, theologiegeschichtlicher und philosophiegeschichtlicher Perspektive, Freiburg i. Br. 2009, 138; vgl. dort auch zum folgenden. Gott behält seine barmherzige Gerechtigkeit nicht für sich, sondern lässt sie den Menschen zuteilwerden, die dazu aufgefordert sind, untereinander Gerechtigkeit zu üben. Gerechtigkeit ist so simultan Beziehungsverhältnis, Gabe und Aufgabe;15Vgl. Gräb-Schmidt, Gerechtigkeit, 132. eine Vorstellung, die in besonderer Weise im zentralen Motiv des Bundes, berit, ihren Ausdruck findet: Gott stiftet den Bund mit dem Volk Israel nicht aufgrund von dessen Verdiensten oder Qualitäten, sondern aufgrund von Gottes Liebe und Treue (Dtn 7,6–9[6] Denn du bist ein heiliges Volk dem Herrn, deinem Gott. Dich hat der Herr, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. [7] Nicht hat euch der Herr angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –, [8] sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat der Herr euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten. [9] So sollst du nun wissen, dass der Herr, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten,Zur Bibelstelle), und in diesem Bund sind die Menschen dazu aufgerufen, Gerechtigkeit zu leben. Diese Gottes Gerechtigkeit entsprechende menschliche Gerechtigkeit ist eine relationale und dynamische Gerechtigkeit; sie besteht in „lebendiger Gemeinschaftstreue“.16Mette, Norbert, Art. Gerechtigkeit, in: WiReLex – Wissenschaftlich Religionspädagogisches Lexikon im Internet, 2016 (https://doi.org/10.23768/wirelex.Gerechtigkeit.100209), abgerufen am 16.08.2024, 7. Gleichzeitig setzt der Bundesgedanke eine asymmetrische Beziehung zwischen Gott als Geber und Aufrechterhalter der Gerechtigkeit voraus.17Vgl. Gräb-Schmidt, Gerechtigkeit, 125f. Denn es ist Gottes Gerechtigkeit, in der alle menschlichen Versuche gerecht zu leben gründen; der Mensch bedarf immer wieder der barmherzigen und vergebenden Gerechtigkeit Gottes. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass Gerechtigkeit hier theologisch dreidimensional zu verstehen ist: (1) als Wesen Gottes, (2) im Verhältnis Gott und Mensch, und als (3) zwischenmenschliche Gerechtigkeit.18Vgl. Welker, Gerechtigkeit, 411.
2.2.2. Die Gerechtigkeit Gottes als Heilsgabe im Neuen Testament
Weiterführende Infos WiBiLex
Zur bibelkundlichen Vertiefung im Neuen Testament: Rose, Christian, Art. Gerechtigkeit (NT), in: WiBiLex (https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/neues-testament/gerechtigkeit-gottes-nt), abgerufen am 08.03.2025.
Dieser rote Faden wird auch im Neuen Testament aufgenommen: Gerechtigkeit ist in besonderem Maße sowohl für die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu (vgl. etwa Mt 6,33Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.Zur Bibelstelle) als auch für das Rechtfertigungsverständnis des Paulus zentral. Darauf verweist zunächst formal die Häufigkeit des Vorkommens der Wortgruppe dikaiosyne (Gerechtigkeit oder Gesetzmäßigkeit) besonders im Matthäusevangelium und in den Briefen des Paulus (dort vor allem im Römerbrief). Für die Kirchen- und Theologiegeschichte ist festzuhalten: Hinter dem Begriff der dikaiosyne, der in der Folge zentral für christliches Gerechtigkeitsverständnis wurde, steht im griechischen Denken eher die Vorstellung der Gesetzmäßigkeit, Rechtlichkeit oder rechten Beschaffenheit, so dass der alttestamentlich-jüdische Wortsinn von Gerechtigkeit als Heilsgabe in der Folgezeit in den Hintergrund tritt.19Vgl. Rose, Christian, Gerechtigkeit (NT), in: WiBiLex – Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, 2011 (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/59496/), abgerufen am 16.08.2024. Auch wenn die vielfältigen Gerechtigkeitsvorstellungen des Neuen Testamentes sich nicht in einem Begriff zusammenfassen lassen, so können doch einige Schwerpunkte ausgemacht werden, die dem oben bereits erwähnten dreidimensionalen Verständnis entsprechen: (1) Gottes Wesen ist auch dem Neuen Testament nach Gerechtigkeit. (2) Im Evangelium wird Gerechtigkeit erkennbar als Gottes Gemeinschaftstreue, als heilschaffende und richtende Macht und als Gabe, die die Menschen in ein heilvolles Verhältnis zu Gott stellt.20Vgl. Klaiber, Walter, Gerechtigkeit III. Neues Testament, in: RGG 3 (42000), 720; vgl. dort auch zum folgenden. Dieses Heilshandeln und diese Heilstreue Gottes zeigen sich zuerst und vor allem in Jesus Christus: In ihm wird der Neue Bund aufgerichtet, in seinem Tod nimmt Gott nicht nur die Sünde und ihre Folgen auf sich, sondern richtet und rechtfertigt („macht gerecht“) alle, die aus Glauben leben (Röm 3,21–26[21] Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. [22] Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: [23] Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, [24] und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.[25] Den hat Gott für den Glauben hingestellt zur Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden [26] in der Zeit der Geduld Gottes, um nun, in dieser Zeit, seine Gerechtigkeit zu erweisen, auf dass er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist aus dem Glauben an Jesus.Zur Bibelstelle). Auch hier ist Gottes Gerechtigkeit die Macht, die Heil schafft und in die heilvolle Beziehung zu Gott bringt. (3) Aber auch die zwischenmenschliche Gerechtigkeit spielt im Neuen Testament eine zentrale Rolle: Das Tun der Gerechtigkeit bringt die Glaubenden an die Seite derer, die unter Unrecht und Ungerechtigkeiten leiden. Wenngleich Menschen damit aufgetragen ist, als Gerechte zu leben, so bleibt auch im Neuen Testament deutlich, dass vollkommene Gerechtigkeit nur von Gott hergestellt werden kann (und wird), und dass Gerechtigkeit damit ein eschatologischer Hoffnungsbegriff bleibt, auch wenn er als Referenzgröße jetzt schon in das Leben der Glaubenden hineinwirkt.
3. Gottes Gerechtigkeit als Thema der Dogmatik
3.1. Gottes barmherzige Gerechtigkeit und die Vergebung der Sünden
Einer der für die westliche Tradition des Christentums entscheidenden und bis in die Gegenwart hinein wirkenden Denker war Augustinus (354–430), der mit seinem Verständnis der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes die christliche Theologie nachhaltig prägte. Augustinus versteht die Bibel so, dass alle Menschen Sünder sind und die ewige Verdammung gemäß der Gerechtigkeit Gottes verdienen und folgt damit eher einem antiken Verständnis von strafender Gerechtigkeit. Gleichzeitig aber erwählt Gott nach Augustinus in seiner Barmherzigkeit eine auserwählte Schar, denen Vergebung der Sünde unverlierbar geschenkt wird. Die Erwählten können sich ihre Gerechtigkeit gegenüber Gott nicht aktiv erarbeiten; sie erhalten sie aus Gnaden geschenkt. Allein Gott macht den Gottlosen zum Gerechten. Auch Anselm von Canterbury
(ca. 1033–1109) versucht, die Gerechtigkeit Gottes mit Gottes Barmherzigkeit zusammenzudenken und nutzt dazu eine Deutungskategorie seiner Zeit, nämlich die der satisfactio (Genugtuung). Wie Augustinus geht er von einem Bruch zwischen Gott und Menschen aus, der nicht von den Menschen, sondern nur von Christus geheilt werden kann.21Vgl. Greschat, Katharina, Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in Anselm von Canterburys Cur deus homo, in: Schmid, Konrad/Welker, Michael (Hrsg.), Recht und Religion. Jahrbuch für Biblische Theologie 37, Göttingen 2023, 269–290, 286. Der sündige Mensch verletzt durch seine Ungerechtigkeit(en) die Ehre Gottes und schuldet Gott damit Genugtuung. Da der Mensch diese Genugtuung aber nicht leisten kann, wird Gott Mensch in Jesus Christus und leistet auf diese Weise als sündloser Mensch Genugtuung. Durch Christi Opfer wird damit sowohl der Gerechtigkeit als auch der Barmherzigkeit Gottes Genüge getan.
3.2. Der gnädige Gott, die Gerechtigkeit Christi und die Rechtfertigungslehre
Auch für die Reformationen des 16. Jahrhunderts war die Frage nach Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit entscheidend; gerade an ihr zeigt sich insbesondere für Martin Luther (1483–1546) das Wesen Gottes und des Menschen: Der gnädige Gott rechnet dem sündigen Gläubigen aus Barmherzigkeit die Gerechtigkeit Christi in einem „frohen Wechsel“ zu. Die für die reformatorischen Theologien so zentrale Rechtfertigungslehre entwickelt sich gerade an der Frage nach Gottes und des Menschen Gerechtigkeit. Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind dabei auch für Luther keine gegensätzlichen, sondern komplementäre Eigenschaften Gottes. Für Luther wurde insbesondere der Römerbrief wichtig und hier Röm 3,28So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.Zur Bibelstelle (der Mensch wird durch Glauben ohne Werke gerecht); die Gerechtigkeit des gnädigen Gottes ist keine strafende Gerechtigkeit, sondern eine schenkende Gerechtigkeit. Reformierte Lehre nimmt in diesem Zusammenhang das Motiv des Bundes wieder auf und versteht die Gerechtigkeit Gottes als dessen Bundestreue und Heilswillen. Der Bund wird als die Sphäre verstanden, in der die göttliche Gerechtigkeit auch zwischen den Menschen Gestalt gewinnt. Oftmals verzeichnet wurden aus protestantischer Perspektive jüdische und römisch-katholische Erlösungslehren, denen unzutreffender Weise unterstellt wurde, ein Konzept von Heil zu vertreten, dass auf Werkgerechtigkeit und Leistungsfrömmigkeit basiere.22Vgl. zum Beispiel Wengst, Klaus, Christsein mit Tora und Evangelium. Beiträge zum Umbau christlicher Theologie im Angesicht Israels, Kohlhammer 2014, 42. Dagegen bekennt die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, die 1999 zuerst von Lutherischem Weltbund und der römisch-katholischen Kirche unterzeichnet wurde: „Wir bekennen gemeinsam, dass der Mensch im Glauben an das Evangelium‚ unabhängig von Werken des Gesetzes‘ (Röm 3,28So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.Zur Bibelstelle) gerechtfertigt wird.“23Lutherischer Weltbund und Römisch-katholische Kirche, Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, 31.10.1999 (https://lutheranworld.org/de/resources/publication-gemeinsame-erklaerung-zur-rechtfertigungslehre), abgerufen am 16.08.2024, 17.
3.3. Gerechtigkeit als Wesen Gottes und als Praxis der Gläubigen
Befreiungstheologien, besonders in ihrer lateinamerikanischen Form, beziehen sich zentral auf Gottes „gerechtigkeitsstiftendes und befreiendes“24Aguirre, Rafael/Cormenzana, Francisco Javier Vitoria, Gerechtigkeit, in: Ellacuría, Ignacio/Sobrino, Jon (Hrsg.), Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Bd. 2, Luzern 1996, 1183; vgl. dort auch zum folgenden. Handeln in der Geschichte sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament. Wird im Alten Testament vor allem Bezug auf den Exodus genommen, so wird die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu verstanden von „Leben und Lehre Jesu, der in der Tradition Israels steht und jene Leidenschaft für die Gerechtigkeit sein eigen nennt, die den Glauben des Alten Testaments durchzieht“. 25Aguirre/Cormenzana, Gerechtigkeit, 1193. Befreiungstheologien betonen vor diesem Hintergrund, dass Gott eine besondere Vorliebe für die Armen und Marginalisierten hat, und sich Gottes Gerechtigkeit in der Parteinahme für die Benachteiligten manifestiert („Gottes vorrangige Option für die Armen“). Die Gerechtigkeit Gottes ist damit keine abstrakte Idee, sondern das Wesen des rettenden Gottes, das sich in der und durch die Geschichte offenbart, und gewinnt gerade in der gegenwärtigen Welt voll Ungerechtigkeiten verstärkt an Bedeutung, insbesondere auch im Aufruf an die Gläubigen, sich aktiv für soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Damit wird die Gerechtigkeit Gottes als Gegenentwurf zu ungerechten sozialen und wirtschaftlichen Strukturen verstanden, die es zu kritisieren und zu verändern gilt; sie zielt auf eine umfassende Befreiung und Praxis der Nächstenliebe ab, die sowohl spirituelle als auch soziale, politische und ökonomische Aspekte umfasst. Gegen eine Tendenz protestantischer Theologie, die Gerechtigkeit Gottes ausschließlich im Kontext der Rechtfertigung des einzelnen Gläubigen zu bedenken, betont die presbyterianische Theologin Elsa Tamez in ihrer Relecture der Rechtfertigungslehre aus lateinamerikanischer Sicht, dass die Rechtfertigung aus Glauben Gottes Gerechtigkeit und Solidarität in der Praxis Jesu offenbart. Durch diese Gerechtigkeit Gottes, die den Gläubigen aus Gnade zuteilwird, erleben gerade die Marginalisierten, dass sie selbst zu den Gestaltern ihrer eigenen Geschichte werden.26Vgl. Tamez, Elsa, Gegen die Verurteilung zum Tod. Paulus oder die Rechtfertigung durch den Glauben aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgeschlossenen, Luzern 1998, 206–226. Befreiungstheologien verweisen nicht allein auf den zentralen Charakter der Gerechtigkeit Gottes für die christliche Theologie, sondern auch darauf, dass die Praxis der Gerechtigkeit „Gott aus seinem uralten Gefängnis“ einer bedeutungslosen Transzendenz befreit habe, und diese damit „zum vorzüglich christlichen Ort der Gotteserfahrung“27Aguirre/Cormenzana, Gerechtigkeit, 1213. geworden sei.
Auch außerhalb des lateinamerikanischen Kontextes wurde dieses Verständnis der Gerechtigkeit Gottes und der Praxis der Gerechtigkeit für viele weitere befreiungstheologische Ansätze (etwa Black Theology, feministische/womanistische/mujerista Theologien, Minjung-Theologie, palästinensische Befreiungstheologien) zum entscheidenden theologischen Topos im jeweiligen Kontext.
Postkoloniale Theologien nehmen diesen Faden auf und hinterfragen die Dominanz westlicher Vorstellungen von Gerechtigkeit, auch der Gerechtigkeit Gottes, und betonen die Notwendigkeit, andere kulturelle und religiöse Traditionen einzubeziehen. Angesicht der zu-Recht-bringenden Gerechtigkeit Gottes kann postkoloniale Theologie die Notwendigkeit einer wiederherstellenden Gerechtigkeit betonen, die historisches Unrecht anerkennt und zu heilen versucht.
3.4. Gerechtigkeit für Täter und Opfer der Sünde
Insbesondere die befreiungstheologische Orientierung an den unter Ungerechtigkeiten leidenden Opfern der Sünde hat dazu geführt, dass die reformatorische Rechtfertigungslehre kritisch untersucht wurde: „Die einseitige Beschränkung auf die Täter und die Vergebung ihrer aktiven Sünden hat den Protestantismus blind gemacht für die Leiden der Opfer und ihre passiven und für Gottes rettende und richtende ‚Option für die Armen‘“28Moltmann, Jürgen, Gerechtigkeit für Opfer und Täter, in: ders., In der Geschichte des dreieinigen Gottes. Beiträge zur trinitarischen Theologie, München 1991, 77; vgl. dort auch zum folgenden. Jürgen Moltmann betont dementsprechend in Aufnahme biblischer Traditionslinien, dass Gottes Gerechtigkeit zunächst eine „Recht schaffende Gerechtigkeit“ für die Opfer sei, durch die diese in ihrer menschlichen Rechtlosigkeit bei Gott Recht bekommen. In der Aufnahme von Sühnevorstellungen aus der christlichen Tradition wendet sich Moltmann dann der „rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes für die Täter“ zu, die diese zu einem Leben in Gerechtigkeit im Angesicht ihrer Opfer und der eigenen Schuld befähigt. Zusammengefasst kann festgehalten werden: „Gott ist gerecht, weil er rechtlosen Menschen Recht schafft und ungerechte Menschen zurechtbringt.“29Moltmann, Gerechtigkeit, 88. Aufgenommen wurde diese Opferorientierung insbesondere in der theologischen Beschäftigung mit sexualisierter Gewalt (in und außerhalb der Kirche) in der Frage nach einer zurechtbringenden und rechtschaffenden Gerechtigkeit ohne vorschnelle Forderungen nach Vergebung von Seiten der Opfer.
3.5. Gerechtigkeit als verbindendes Thema im ökumenischen und interreligiösen Dialog
Nicht zu übersehen ist, dass das Thema der Gerechtigkeit gerade angesichts der katastrophalen Ungerechtigkeiten der globalisierten Gegenwart eine zentrale Rolle in verschiedenen Formen der theologischen und kirchlichen Zusammenarbeit einnimmt. Im ökumenischen Dialog zwischen, aber auch innerhalb von Konfessionsfamilien, findet die Frage nach Gerechtigkeit nicht allein aus ethischer Perspektive Interesse; der Einsatz gegen verschiedenste Formen der Ungerechtigkeit wird mit einem biblischen Gottesbild begründet, das durch befreiungstheologische Theologien wieder in den Mittelpunkt der Gotteslehre gerückt ist. Das Engagement des Ökumenischen Rates der Kirche für die Bewahrung der Schöpfung und Klimagerechtigkeit etwa wird folgendermaßen eingeleitet: „Der Gott der Bibel ist ein Gott der Gerechtigkeit, der die verwundbarsten und schwächsten seiner Geschöpfe beschützt, liebt und sich um sie kümmert.“30Ökumenischer Rat der Kirche, Bewahrung der Schöpfung und Klimagerechtigkeit (https://www.oikoumene.org/de/what-we-do/care-for-creation-and-climate-justice), abgerufen am 16.08.2024. Dagegen spielen Themen der Gerechtigkeit im Blick auf die Rechtfertigungslehre außerhalb der oben bereits erwähnten Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre im ökumenischen Gespräch kaum eine Rolle. Die drei abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) eint die Vorstellung eines Gottes der Gerechtigkeit und bietet damit eine wichtige Grundlage für Austausch und interreligiöses Lernen.31Vgl. dazu Kruip, Gerhard, Religiöse Wurzeln und Perspektiven. Judentum und Christentum, in: Goppel, Anna et al. (Hrsg.), Handbuch Gerechtigkeit, Heidelberg 2016, 35–41, und Schirrmacher, Christine, Religiöse Wurzeln und Perspektiven. Islam, in: Goppel, Anna et al. (Hrsg.), Handbuch Gerechtigkeit, Heidelberg 2016, 41–47. Auch darüber hinaus versucht christliche Theologie, ihr Verständnis von Gerechtigkeit angesichts der vielfältigen Erfahrungen von Ungerechtigkeiten in das interreligiöse Gespräch und das Gespräch mit anderen Disziplinen und Akteur*innen der Gesellschaft einzubringen.