Geist Gottes

„Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“ Dieser Satz bildet den Schluss des Apostolischen Glaubensbekenntnisses (bezeugt seit 404), das in allen westlichen Traditionen gebetet wird. Es ist trinitarisch aufgebaut, das heißt, es gibt an, was unter dem Glauben an Gott, den Schöpfer (vgl. Art. Schöpfung) und Vater, an Jesus Christus und an den Heiligen Geist zu verstehen ist. Doch lässt die Rede des dritten Glaubensartikels von Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und dem ewigen Leben als Erklärung für den Heiligen Geist nicht viele Gläubige eher ratlos zurück? Wie können wir den Heiligen Geist verstehen?

Das hebräische und das griechische Wort für Geist (Ruach und Pneuma) steht auch für Wind. Wie der Wind, so „überkommt“ der Geist Menschen, er „kommt herab“. Er „ergreift“ sowohl einzelne Menschen als auch Gemeinschaften. Doch da er schwer zu fassen ist, wird er gern als numinose, als unbegreifliche göttliche Macht angesehen. Ist es also sinnlos, sich um ein klares Verständnis von Gottes Geist zu bemühen? Wie können wir deutlich machen: Gottes Geist, der Heilige Geist, ist eine sehr reale Kraft, die Menschen befreit und erhebt? Er ist ein unbedingt guter Geist und muss von allen möglichen Geistern und natürlichen und kulturellen Mächten und Kräften unter den Menschen unterschieden werden. Das gelingt nicht über den religiös überhöhten Bezug auf eine Naturromantik. Denn auch wenn der göttliche Geist mit seinem „Überkommen“ an eine angenehm wärmende Sonne, einen kühlenden Wind oder einen ersehnten Regen erinnern kann, darf er nicht mit natürlichen und kosmischen Kräften verwechselt werden.[1] Die Sonne kann verbrennen, Stürme und Unwetter können vernichten und töten. Und alles natürliche Leben lebt unabdingbar auf Kosten von anderem Leben.[2] Auf welch anderem Weg können wir den unbedingt guten Geist Gottes, den Heiligen Geist, zu erfassen suchen?

Biblische Texte und Geschichten können uns davor bewahren, im Eindruck stecken zu bleiben: Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten – das sind doch nur verstiegene Sprechblasen vergangener Zeiten. Biblische Orientierungen, gerade an Texten des Alten Testaments, führen heraus aus dem Geflecht von Unklarheiten.

[1] Vgl. dazu Moltmann, Jürgen, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, Gütersloh 2010. Er möchte den Geist entdecken „in der Natur, in den Pflanzen, in den Tieren und in den Ökosystemen der Erde“ (23), „Gott in allen Dingen erfahren“ (49ff.).

[2] Vgl. Welker, Michael, „Der Geist der Freiheit und die Freiheit des Geistes“, in: Theologie im Gespräch. Jürgen Moltmann zum 95. Geburtstag, Bad Boll, 22.–24. 10. 2021, epd-Dokumentation 5, 2022, 7–12.

Table of Contents

    1. Das Wirken des Geistes: überkommend, befreiend, erhebend

    In biblischen Texten, die auf die Zeit der „Richter“ und „charismatischer Führer in Israel“ (1200–1000 vor Chr.) bezogen sind, finden wir zum ersten Mal eine „festgelegte, klar definierte und reichlich bezeugte Verwendung des Wortes ruach, ‚Geist‘“.1Westermann, Claus, Geist im Alten Testament, in: Evangelische Theologie 41/3 (1981), 223–230, 225. Mehrere einander ähnliche Geschichten sprechen von einer „Herabkunft“ des Geistes Gottes und vom „Überkommenwerden“ durch den Geist und von einer Befreiung aus einem durch Schuld und Leid („Sünde“) bedrängten Leben. Sie zeigen schon einige bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit den Aussagen des Apostolischen Glaubensbekenntnisses (z. B. Ri 3,7–11[7] Und die Israeliten taten, was dem Herrn missfiel, und vergaßen den Herrn, ihren Gott, und dienten den Baalen und den Ascheren. [8] Da entbrannte der Zorn des Herrn über Israel, und er verkaufte sie in die Hand Kuschan-Rischatajims, des Königs von Mesopotamien; und so diente Israel dem Kuschan-Rischatajim acht Jahre. [9] Da schrien die Israeliten zu dem Herrn, und der Herr erweckte ihnen einen Retter, der sie errettete, Otniël, den Sohn des Kenas, des jüngeren Bruders von Kaleb. [10] Und der Geist des Herrn kam auf ihn, und er wurde Richter in Israel und zog aus zum Kampf. Und der Herr gab den König von Mesopotamien Kuschan-Rischatajim in seine Hand, sodass seine Hand über ihn stark wurde. [11] Da hatte das Land Ruhe vierzig Jahre. Und Otniël, der Sohn des Kenas, starb.Zur Bibelstelle; 6,34–35[34] Da erfüllte der Geist des Herrn den Gideon. Und er blies die Posaune und rief die Abiësriter auf, ihm zu folgen. [35] Und er sandte Boten zu ganz Manasse und rief auf, dass auch sie ihm folgten. Er sandte auch Boten zu Asser und Sebulon und Naftali; die kamen herauf, ihnen entgegen.Zur Bibelstelle; 11,29Da kam der Geist des Herrn auf Jeftah, und er zog durch Gilead und Manasse und nach Mizpe in Gilead, und von Mizpe in Gilead gegen die Ammoniter.Zur Bibelstelle; 1Sam 11,6–7[6] Da geriet der Geist Gottes über Saul, als er diese Worte hörte, und sein Zorn entbrannte sehr. [7] Und er nahm ein Gespann Rinder und zerstückte sie und sandte die Stücke in das ganze Gebiet Israels durch Boten und ließ sagen: Wer nicht auszieht hinter Saul und Samuel, mit dessen Rindern soll man ebenso tun. Da fiel der Schrecken des Herrn auf das Volk, dass sie auszogen wie ein Mann.Zur Bibelstelle).

    Der Geist Gottes wird am Werk gesehen in der Rettung einer Gemeinschaft (der Israeliten) aus großer Not, die kaum weiß, wie ihr dabei geschieht. Dem geht voraus, dass sich die Gemeinschaft von Gott entfernt und entfremdet hatte. Die Israeliten hatten Gott vergessen und dienten den Baalen. Da gab Gott sie in die Hand von Feinden („Israel tat, was schlimm war in den Augen Gottes“: Ri 3,7Und die Israeliten taten, was dem Herrn missfiel, und vergaßen den Herrn, ihren Gott, und dienten den Baalen und den Ascheren.Zur Bibelstelle; 6,1Und als die Israeliten taten, was dem Herrn missfiel, gab sie der Herr in die Hand Midians sieben Jahre.Zur Bibelstelle; 10,6Aber die Israeliten taten wiederum, was dem Herrn missfiel, und dienten den Baalen und den Astarten und den Göttern von Aram und den Göttern von Sidon und den Göttern von Moab und den Göttern der Ammoniter und den Göttern der Philister und verließen den Herrn und dienten ihm nicht.Zur Bibelstelle). Die Unterdrückung durch ein anderes Volk oder die Unterlegenheit im Kampf lösen tiefe Verzweiflung aus, aber auch das Bewusstsein der eigenen Verfehlungen. („Da schrie Israel zu Gott“: Ri 3,9Da schrien die Israeliten zu dem Herrn, und der Herr erweckte ihnen einen Retter, der sie errettete, Otniël, den Sohn des Kenas, des jüngeren Bruders von Kaleb.Zur Bibelstelle; 6,6So wurde Israel sehr schwach vor Midian. Da schrien die Israeliten zum Herrn.Zur Bibelstelle; 10,10Da schrien die Israeliten zu dem Herrn und sprachen: Wir haben an dir gesündigt, denn wir haben unsern Gott verlassen und den Baalen gedient.Zur Bibelstelle).

    Sünde ist nicht einfach als moralische Bosheit oder gar nur als Selbstbezogenheit zu verstehen, sondern als ein komplexer Schuld-Leid-Wechselzusammenhang, wie z. B. im Buch Richter deutlich wird. Es ist eine Bedrohung von innen – ausgelöst durch die Anpassung der Gemeinschaft an die Götter der Völker, unter die sie zerstreut ist – und von außen – durch die Übermacht der anderen Völker. Aus dieser Verstrickung wird Israel durch Gottes Geist befreit. Und zwar nicht auf numinose Weise, sondern durch vom Geist „Überkommene“, die das Volk und seine Lebenskräfte aufrichten. Diese „Charismatiker“ sind keine besonders erlesenen, religiös und moralisch ausgezeichneten Menschen. Sie alle werden in den biblischen Überlieferungen durchaus als etwas unsympathisch oder sogar zwielichtig dargestellt. Doch es gelingt diesen von Gottes Geist Überkommenen, im Volk wieder Mut und Handlungsfähigkeit herzustellen.

    Das Volk kann sich nun nicht nur aus der verzweiflungsvollen Situation befreien, es erlebt eine langfristige Wiederaufrichtung des gefährdeten und zum Scheitern verurteilten gemeinsamen Lebens. Die Charismatiker werden zu politischen Führern und „Richtern“, und „das Land hatte vierzig Jahre lang Ruhe“ (Ri 3,11Da hatte das Land Ruhe vierzig Jahre. Und Otniël, der Sohn des Kenas, starb.Zur Bibelstelle; 8,28So wurde Midian gedemütigt vor den Israeliten, und sie hoben ihren Kopf nicht mehr empor. Und das Land hatte Ruhe vierzig Jahre, solange Gideon lebte.Zur Bibelstelle). Die Texte sprechen noch nicht von der „Auferstehung der Toten“ und dem „ewigen Leben“, aber doch von der Befreiung aus gefährlicher Verstrickung, von der Aufrichtung des dem Tod geweihten Lebens und von dem Beginn einer langen Friedenszeit.2Vgl. Welker, Michael, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Göttingen 72022, 58–71.

    Der Geist Gottes wird also entdeckt als eine Macht der Befreiung aus Verstrickungsverhältnissen und stiftet als eine Segensmacht anhaltend lebensförderliche Verhältnisse. Er stellt in einem von Gott entfremdeten, in sich zerrütteten und von außen bedrohten Volk Solidarität, Loyalität und die Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln, die Kraft zur Verteidigung und zu neuer Organisation her. Ein guter, lebensförderlicher, auch ethisch, rechtlich und religiös identifizierbarer Geist gewinnt die Menschen und richtet sie auf. Wie aber kann dieser gute Geist nicht nur überraschend erfahren werden? Wie kann er klar erkannt werden? Auch hier können Texte des Alten Testaments weiterhelfen. Sie sprechen vom „Ruhen“ des Geistes Gottes auf einem von Gott Erwählten und stellen Bezüge her zum biblischen Gesetz mit seinen Kraftquellen.

    2. Der ruhende Geist Gottes führt zu Gerechtigkeit, zum Schutz der Armen und Benachteiligten und zu gemeinsamer Gotteserkenntnis

    Auch die Geschichten vom „Ruhen des Geistes“ auf dem „Knecht Gottes“ oder auf dem, den Gott erwählt hat, sprechen von rettenden und befreienden Eingriffen des Geistes Gottes (Jes 11[1] Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. [2] Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn. [3] Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des Herrn. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, [4] sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. [5] Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.[6] Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. [7] Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. [8] Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter. [9] Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt.[10] Und es wird geschehen zu der Zeit, dass die Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Völker fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein.[11] Und der Herr wird zu der Zeit zum zweiten Mal seine Hand ausstrecken, dass er den Rest seines Volks loskaufe, der übrig geblieben ist in Assur, Ägypten, Patros, Kusch, Elam, Schinar, Hamat und auf den Inseln des Meeres. [12] Und er wird ein Zeichen aufrichten unter den Völkern und zusammenbringen die Verjagten Israels und die Zerstreuten Judas sammeln von den vier Enden der Erde. [13] Und der Neid Ephraims wird aufhören und die Feinde Judas werden ausgerottet. Ephraim wird nicht mehr neidisch sein auf Juda und Juda Ephraim nicht mehr feind. [14] Sie werden sich nach Westen auf die Hänge der Philister stürzen und miteinander berauben alle, die im Osten wohnen. Nach Edom und Moab werden sie ihre Hände ausstrecken, die Ammoniter werden ihnen gehorsam sein. [15] Und der Herr wird mit dem Bann belegen die Zunge des Meeres von Ägypten und wird seine Hand ausstrecken über den Euphrat mit seinem starken Wind und ihn in sieben Bäche zerschlagen, sodass man mit Schuhen hindurchgehen kann. [16] Und es wird eine Straße da sein für den Rest seines Volks, das übrig geblieben ist in Assur, wie sie für Israel da war zur Zeit, als sie aus Ägyptenland zogen.Zur Bibelstelle; 42,1–9[1] Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. [2] Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. [3] Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. [4] Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.[5] So spricht Gott, der Herr, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs, der dem Volk auf ihr den Atem gibt und Lebensodem denen, die auf ihr gehen: [6] Ich, der Herr, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand. Ich habe dich geschaffen und bestimmt zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, [7] dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.[8] Ich, der Herr, das ist mein Name, ich will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen. [9] Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es sprosst, lasse ich’s euch hören.Zur Bibelstelle; 61[1] Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; [2] zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn und einen Tag der Rache unsres Gottes, zu trösten alle Trauernden, [3] zu schaffen den Trauernden zu Zion, dass ihnen Schmuck statt Asche, Freudenöl statt Trauer, schöne Kleider statt eines betrübten Geistes gegeben werden, dass sie genannt werden »Bäume der Gerechtigkeit«, »Pflanzung des Herrn«, ihm zum Preise.[4] Sie werden die alten Trümmer wieder aufbauen und, was vorzeiten zerstört worden ist, wieder aufrichten; sie werden die verwüsteten Städte erneuern, die von Geschlecht zu Geschlecht zerstört gelegen haben. [5] Fremde werden hintreten und eure Herden weiden, und Ausländer werden eure Ackerleute und Weingärtner sein. [6] Ihr aber sollt Priester des Herrn heißen, und man wird euch Diener unsres Gottes nennen. Ihr werdet der Völker Güter essen und euch ihrer Herrlichkeit rühmen. [7] Dafür, dass ihr doppelte Schmach trugt, und für die Schande sollen sie über ihren Anteil fröhlich sein. Denn sie sollen das Doppelte besitzen in ihrem Lande. Sie sollen ewige Freude haben.[8] Denn ich bin der Herr, der das Recht liebt und Raub und Unrecht hasst; ich will ihnen den Lohn in Treue geben und einen ewigen Bund mit ihnen schließen. [9] Und man soll ihr Geschlecht kennen unter den Völkern und ihre Nachkommen unter den Nationen, dass, wer sie sehen wird, erkennen soll, dass sie ein Geschlecht sind, gesegnet vom Herrn.[10] Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt. [11] Denn gleichwie Gewächs aus der Erde wächst und Same im Garten aufgeht, so lässt Gott der Herr Gerechtigkeit aufgehen und Ruhm vor allen Völkern.Zur Bibelstelle). Verglichen mit den Kriegsgeschichten, die mit den frühen Charismatikern in Verbindung gebracht werden, wecken diese Texte keine ambivalenten Gefühle. Der „Träger des Geistes“ – im Neuen Testament häufig mit Jesus Christus identifiziert (z. B. Mt 12,15–21[15] Da aber Jesus das erkannte, entwich er von dort. Und eine große Menge folgte ihm, und er heilte sie alle [16] und gebot ihnen, dass sie ihn nicht offenbar machten, [17] auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten Jesaja, der da spricht: [18] »Siehe, das ist mein Knecht, den ich erwählt habe, mein Geliebter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat; ich will meinen Geist auf ihn legen, und er soll den Völkern das Recht verkündigen. [19] Er wird nicht streiten noch schreien, und man wird seine Stimme nicht hören auf den Gassen; [20] das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen, bis er das Recht zum Sieg führt; [21] und die Völker werden auf seinen Namen hoffen.«Zur Bibelstelle; Lk 3,22und der Heilige Geist fuhr hernieder auf ihn in leiblicher Gestalt wie eine Taube, und eine Stimme kam aus dem Himmel: Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.Zur Bibelstelle; Joh 1,32–34[32] Und Johannes bezeugte es und sprach: Ich sah, dass der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. [33] Und ich kannte ihn nicht. Aber der mich gesandt hat zu taufen mit Wasser, der sprach zu mir: Auf welchen du siehst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist’s, der mit dem Heiligen Geist tauft. [34] Und ich habe es gesehen und bezeugt: Dieser ist Gottes Sohn.Zur Bibelstelle) – wird Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und die allgemeine Gotteserkenntnis in Israel und sogar unter den Heiden aufrichten. Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Gotteserkenntnis zu erreichen, das sind die zentralen Anliegen des Gesetzes Gottes. Im Neuen Testament bezieht sich Mt 23,23Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Zehnten gebt von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz beiseite, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben! Doch dies sollte man tun und jenes nicht lassen.Zur Bibelstelle darauf und nennt als die „gewichtigen Angelegenheiten des Gesetzes“ die Aufrichtung von „Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Glaube“.

    Schlüsseltexte aus dem Alten Testament sind:

    Jes 11,1–4.9f.:
    Ein Reis wird hervorgehen aus Isais Stumpf und ein Spross aus seinen Wurzeln hervorsprießen. Und auf ihm wird ruhen Gottes Geist, der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Planens und der Stärke. Er richtet nicht nach dem Augenschein und entscheidet nicht auf bloße Gerüchte hin. Sondern mit Gerechtigkeit hilft er den Hilflosen zum Recht und wird in Gradheit eintreten für die Armen im Land […]. Nichts Böses und nichts Verderbliches wird man tun auf meinem ganzen heiligen Berg, denn das Land wird voll sein von der Erkenntnis Gottes wie das Meer mit Wasser gefüllt ist. Und an jenem Tag, da werden sich die Heiden wenden zum Wurzelschoß Isais, der dasteht wie ein Feldzeichen für die Völker. Und sein Ruhesitz wird Herrlichkeit sein. [Herv. d. MW]

    Jes 42,1–3.6f.:
    Hier mein Knecht, mein Erwählter. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt! Den Rechtsentscheid bringt er den Völkern hinaus. Er schreit nicht und lärmt nicht und lässt seine Stimme nicht auf der Gasse hören. Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den glimmenden Docht löscht er nicht aus. Ja, er bringt wirklich den Rechtsentscheid […]. Ich, Jahwe, habe dich aus Gerechtigkeit gerufen. Und ich habe dich geschaffen zum Bund für das Volk, zum Licht für die Völker, zu öffnen die blinden Augen, zu befreien aus dem Kerker die Gefangenen, aus der Haft, die im Finstern sitzen. [Herv. d. MW]3Zu Jes 11 und 40ff. vgl. Schüle, Andreas, Das Jesajabuch heute lesen, Zürich 2023, 137–143.153–162; aber auch Congar, Yves, Der Heilige Geist, Freiburg/Basel/Wien 1982, 24–26.

    Jes 61,1.6.8:
    Der Geist Gottes ruht auf mir, weil Gott mich gesalbt hat. Frohe Botschaft den Armen zu bringen […], auszurufen für die Gefangenen die Freilassung und für die Gefesselten die Öffnung […]. Ihr aber werdet ‚Priester Jahwes‘ heißen, ‚Diener unseres Gottes‘ nennt man euch […]. Denn ich, Jahwe, liebe das Recht […].4Vgl. Welker, Geist, 109–123.

    Die Verbindungen von gerechtem Recht, Schutz der Armen und Benachteiligten und wahrer Gotteserkenntnis sind nicht nur religiös höchst bedeutsam. Sie sind auch für ein säkulares Ethos unverzichtbar, das die Zusammenhänge von Bemühungen um gerechtes Recht, humane Moral und eine religiöse oder säkulare Wahrheitssuche hochhalten will.5Vgl. Welker, Michael, Theologie und Recht, in: Der Staat 49 (4/2010), 573–585; Welker, Michael, Gesetz und Recht – Recht und Gerechtigkeit. Recht und Religion in biblischen Perspektiven, in: Welker, Michael/Schmid, Konrad (Hrsg.), Recht und Religion. Jahrbuch für Biblische Theologie 37 (2022), Göttingen 2024, 39–53. Der Realismus des Geistwirkens wird durch die Kontinuität mit den Intentionen des Gesetzes verdeutlicht. Eine dritte Gruppe von Texten aus dem Alten und dem Neuen Testament vertiefen die Einsichten in seine Macht.

    Weiterführende Infos WiBiLex

    „Der Begriff רוח rûaḥ „Wind / Atem / Geist / Energie / Lebenskraft“ ist in der Hebräischen Bibel ganz zentral, er wird sowohl in anthropologischer Hinsicht (auf den Menschen bezogen) wie auch theologisch (von Gott) gebraucht, um eine Kraft auszudrücken, die begrifflich schwer zu fassen ist. Mit dem deutschen Wort „Geist“ ist nur ein kleiner Teil der biblischen Vorkommen gedeckt.“ Für den ganzen Artikel s. Schüngel-Straumann, Helen, Art. Geist (AT), in: WiBiLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/19184/), abgerufen am 23.03.2025.

    Zimmer, Siegfried, Was wir aus dem Alten Testament über den Heiligen Geist lernen können (Worthaus Podcast), 07.01.2022.
    Rabens, Volker, Begeisternde Spiritualität – Der heilige Geist im Neuen Testament (Worthaus Podcast), 17.02.2023.

    3. Die revolutionäre Ausgießung des göttlichen Geistes

    Die Metapher der „Ausgießung des Geistes“ findet sich in der Prophezeiung von Joel 3,1–3[1] Und nach diesem will ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten sollen Träume haben, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen. [2] Auch will ich zur selben Zeit über Knechte und Mägde meinen Geist ausgießen. [3] Und ich will Wunderzeichen geben am Himmel und auf Erden: Blut, Feuer und Rauchsäulen.Zur Bibelstelle, aber auch in Jes 32,15so lange, bis über uns ausgegossen wird der Geist aus der Höhe. Dann wird die Wüste zum fruchtbaren Lande und das fruchtbare Land wie Wald geachtet werden.Zur Bibelstelle und Sach 12,10Aber über das Haus David und über die Bürger Jerusalems will ich ausgießen den Geist der Gnade und des Gebets. Und sie werden mich ansehen, den sie durchbohrt haben, und sie werden um ihn klagen, wie man klagt um das einzige Kind, und werden sich um ihn betrüben, wie man sich betrübt um den Erstgeborenen.Zur Bibelstelle. Der Pfingstbericht im Neuen Testament zitiert Joel ausführlich:

    Apg 2,17–21:
    […] jetzt geschieht, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: In den letzten Tagen wird es geschehen, so spricht Gott: Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch, eure Söhne und eure Töchter werden Propheten sein, eure jungen Männer werden Visionen haben, und eure Alten werden Träume haben. Auch über /*meine/ Knechte und Mägde werde ich von meinem Geist ausgießen in jenen Tagen, und sie werden Propheten sein.

    Der Pfingstbericht fügt hinzu, dass der auferstandene und erhöhte Jesus Christus, nachdem er vom Vater den verheißenen Heiligen Geist empfangen hat, ihn „ausgegossen“ hat (Apg 2,33)Da er nun durch die rechte Hand Gottes erhöht ist und empfangen hat den verheißenen Heiligen Geist vom Vater, hat er diesen ausgegossen, wie ihr seht und hört.Zur Bibelstelle. Auf Jesus Christus „ruht“ also Gottes Geist, und er ist derjenige, der den Geist gibt, der ihn auf die Menschen ausgießt.

    In seiner großen reformatorischen Dogmatik betont Johannes Calvin oes-gnd-iconwaiting...: Jesus Christus ist der Heilige Geist „nicht für sich allein (privatim) gegeben worden, sondern er soll eben seine Fülle den Hungernden und Durstigen überfließend zuteilwerden lassen!“6Calvin, Johannes, Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis, Göttingen 42022; Institutio II, 15,5 vgl. II, 15,2; einen kurzen Überblick zur Pneumatologie bei Calvin und Luther bietet Heron, Alasdair, The Holy Spirit, Philadelphia 1983, 99–117. Diese großartige Teilgabe am göttlichen Geist erfolgt durch die Geistausgießung, auch „Geisttaufe“ genannt.

    Diese Ausgießung des Geistes ist ein revolutionäres Geschehen, denn sie erfolgt auf Männer und auf Frauen – und das in patriarchalen Gesellschaften. Sie betrifft die Alten und die Jungen – und das geschieht in gerontokratischen Gesellschaften, in denen die Alten das Sagen haben. Schließlich ergreift sie auch die Knechte und Mägde – und das in – in der Antike selbstverständlichen – Sklavenhaltergesellschaften.

    Die Ausgießung des Geistes ist mit einem Sprachenwunder, genauer einem Verstehenswunder, verbunden, denn Menschen aus „aller Welt“ – aufgezählt werden achtzehn Länder oder Weltgegenden – verstehen die mit der Ausgießung vermittelte Botschaft von „Gottes großen Taten“ (Apg 2,9–11[9] Parther und Meder und Elamiter und die da wohnen in Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, [10] Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Römer, die bei uns wohnen, [11] Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden.Zur Bibelstelle). Die Ausgießung des Geistes konstituiert eine differenzierte und vielfarbige Gemeinschaft. Sie nötigt dazu, aus dem gängigen Zwei-Seiten-Denken in Relationen auszubrechen und elementare vielstellige Verhältnisse vor das geistige Auge zu stellen. Nicht eine zweistellige Gottesbeziehung wird gestiftet, sondern ein vielstelliges Beziehungsgeflecht. Es werden nicht nur monohierarchische, patriarchale, gerontokratische und klassengesellschaftliche Verhältnisse infrage gestellt, sondern auch nationalistische, chauvinistische und xenophobe Ideologien und Machtformen.

    Der Heilige Geist stiftet mit seiner Ausgießung ein gewaltiges Kraftfeld. Angeregt von Niklas Luhmanns oes-gnd-iconwaiting... Verwendung des Resonanzbegriffs, habe ich bereits 1988 festgestellt: „Der Heilige Geist ist der Resonanzbereich Christi […]. Er ist zu verstehen als die vielgestaltige Einheit der Perspektiven auf Jesus Christus, an der wir teilhaben, die wir mitkonstituieren können.“7Welker, Michael, Der Heilige Geist. Münsteraner Antrittsvorlesung vom 29.04.1988, in: Evangelische Theologie 49/2 (1989), 126–141, 140; Welker, Gottes Geist, 286–290; Luhmann, Niklas, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986, 40–50. 30 Jahre später wurde das Wort „Resonanz“ durch das Buch von Rosa, Hartmut, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt 2019 zu einem philosophischen, soziologischen und politischen Modewort. Die durch die Ausgießung des Geistes erfolgte Konstitution einer differenzierten pluralen Gemeinschaft, die sich durch Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und wahre Gotteserkenntnis auszeichnet, gewinnt Anteil an den noch viel reicheren Kräften des Geistes Jesu Christi und damit an seinem Leben, das über die irdischen Lebensverhältnisse hinausreicht. Dies erschließen wir uns in den folgenden Abschnitten, die sich auch auf die gegenwärtige Ausstrahlung der Wirkungen des göttlichen Geistes konzentrieren.

    4. Vom Geist Gottes bewegt und erfüllt: die größte Frömmigkeitsbewegung der Menschheitsgeschichte

    Der bedeutende englische Neutestamentler James Dunn oes-gnd-iconwaiting... hat in zahlreichen Veröffentlichungen die Tatsache hervorgehoben, dass schon die frühe Christenheit die Erkenntnis elektrisiert hat, dass Jesus Christus nicht nur von Gottes Geist erfüllt war, sondern dass der Auferstandene und Erhöhte diesen Geist auf die Seinen ausgießt. Diese Konzentration auf das Kraftfeld der Geistausgießung, auf die Polyphonie der Geistbegabungen und die lebendigen Interaktionen zwischen den von Gottes Geist ergriffenen und erfüllten Menschen hat zur größten Frömmigkeitsbewegung der Menschheitsgeschichte – und zwar im 20. Jahrhundert! – geführt. Die Geistausgießung ist zentrales Element in den Theologien und in der geistlichen Praxis der Pfingstkirchen und in den charismatischen Bewegungen.8Vgl. Dunn, James, Toward the Spirit of Christ. The Emergence of the Distinctive Features of Christian Pneumatology, in: Welker, Michael (Hrsg.), The Work of the Spirit. Pneumatology and Pentecostalism, Grand Rapids 2006, 3–26; Dunn, James, The Christ and the Spirit, Vol. 2 Pneumatology, Grand Rapids 1998; Frank D. Macchia, einer der führenden Theologen der Pfingstkirchen, nennt die Geisttaufe den „Kronjuwel“ der Pfingstkirchen und der Pfingsttheologie, ja der christlichen Erfahrung überhaupt: Macchia, Frank D., Baptized in the Spirit. A Global Pentecostal Theology, Grand Rapids 2006, bes. 20–33; Macchia, Frank D., The Kingdom and the Power. Spirit Baptism in Pentecostal and Ecumenical Perspective, in: Welker, Michael (Hrsg.), The Work of the Spirit. Pneumatology and Pentecostalism, Grand Rapids 2006, 109–125; Hollenweger, Walter, Charismatisch-pfingstliches Christentum. Herkunft, Situation, Ökumenische Chancen, Göttingen 2002; Zimmerling, Peter, Charismatische Bewegungen, Göttingen 22018. Auf derzeit 615 Millionen Anhänger und Anhängerinnen – ein Viertel aller Christen – wird die „Pfingstbewegung“ geschätzt. In Asien, Südamerika und Afrika wachsen deren Gemeinden am schnellsten.

    Die seit Jahren bestehenden Schwierigkeiten im Umgang zwischen Pfingstbewegung und charismatischen Bewegungen einerseits und protestantischen Kirchen andererseits hat eine Studie der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland 2021 auf den Punkt gebracht: „Von den historisch-protestantischen Kirchen wurden die Pfingstkirchen lange als ‚Sekten‘ wahrgenommen. ‚Die Pfingstler‘ wurden abwertend als ‚enthusiastisches Christentum‘ etikettiert. Von pfingstlicher Seite wurden evangelische Landeskirchen als institutionalisiertes und ‚totes‘ Christentum bezeichnet, in welchem der Heilige Geist nicht mehr präsent sei.“9Kammer der EKD für weltweite Ökumene, Pfingstbewegung und Charismatisierung. Zugänge – Impulse – Perspektiven, Leipzig  2021,18. Da sich die Pfingstbewegung „durch eine einzigartige Wachstumsdynamik“ auszeichne, wolle man sich mit ihrer Geschichte, mit theologischen „Gemeinsamkeiten, Unterschieden und […] Unvereinbarkeiten“, mit ihren „Praktiken des sozialen und politischen Engagements“ befassen und „Praxisempfehlungen“ für den gemeinsamen ökumenischen Weg aussprechen.10EKD, Pfingstbewegung, 21–23.25.

    Trotz hilfreicher Überblicke, trotz der Warnungen vor „generalisierender Beurteilung“ und „pauschalisierenden Wahrnehmungsschablonen“ und trotz der Aufforderung, „Fehlurteile auf beiden Seiten zu erkennen“,11EKD, Pfingstbewegung, 169. gelingt der „Orientierungshilfe“ kein Zugang zu den Grundlagen und Entwicklungsdynamiken der pfingstkirchlichen Theologie und Frömmigkeit. Sie bleibt in der Gefangenschaft eines bipolaren Denkens stecken. Ihre Darstellung der Pfingsttheologie ähnelt eher pietistischen und neuprotestantischen Denkmustern (Suche nach Gewissheit, unmittelbarer persönlicher Gotteserfahrung12Vgl. EKD, Pfingstbewegung, 65.67.73.132.). Vergeblich sucht man nach einer Vertiefung biblischer und reformatorischer Bildung und nach einer Verbesserung der systematischen Denkformen, die von den bipolaren Denkmustern auf eine der Geistausgießung und Geisttaufe entsprechende grundsätzliche Würdigung des multipolaren Kraftfeldes des Geistes umzustellen erlauben.13Vgl. dazu Welker, Michael, Pneumatologische Defizite. Ein Kommentar zur Orientierungshilfe der Kammer der EKD, in: Kirche und Migration im 20. Jahrhundert, KZG 34/1 (2021), 191–197.

    Ohne eine angemessene pneumatologische Orientierung wird die pfingstkirchliche Konzentration auf den erhöhten gegenwärtigen Christus eher skeptisch beäugt und in unguter Weise mit der Betonung der Relevanz des irdischen Jesus konfrontiert.14Vgl. EKD, Pfingstbewegung, 87; Berkhof, Hendrikus, Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen 1968, 14–33; Lampe, Geoffrey, God as Spirit, Oxford 1977, 95–119. Statt den Versuch zu unternehmen, von einer geisterfüllt geprägten polyphonen Umgebung auf die einzelnen Glaubenden hin zu denken, bleibt die Studie in so matten Versicherungen stecken wie der, „dass die biblischen Texte in jedem Fall als Glaubensausdruck mit individuell gemachten, aber über die Einzelnen hinaus erschließend wirkenden Gotteserfahrungen gesehen werden können.“15EKD, Pfingstbewegung, 79. Diese Wahrnehmungsschwierigkeiten wiederholen sich im Blick auf die Schöpfungstheologie, in deren Behandlung schlichte kosmogone Denkansätze und eschatologische erlösungstheologische Ansätze einander unfruchtbar entgegengesetzt werden.16Vgl. EKD, Pfingstbewegung, 80ff. Deutsche Kirchenleitende Theologie und Pfingsttheologie bewegen sich in unterschiedlichen Denk- und Erfahrenswelten.

    5. „Geistvergessen und geistversessen“? Denk- und Erkenntnisschwierigkeiten mit einer biblisch begründeten und realistischen Geist-Theologie

    Der Geist Gottes konstituiert nicht ein isoliertes selbstgewisses Individuum, das dann in alle möglichen Beziehungen eintritt, sondern der Geist konstituiert ein geistliches Beziehungsgeflecht, in dem Personen in lebendige, differenzierte Selbstbeziehungen und soziale Beziehungen eintreten. Von Anfang an geht es um komplexe Verhältnisse, in denen viele Menschen, Ereignisse und Impulse „emergent“ aufeinander einwirken. Diese polyphonen Verhältnisse der Einwirkung aufeinander, in denen dann auch bipolare „Relationen“ und monistische „Selbstbeziehungen“ stattfinden, werden vom Geist gewirkt. Statt sich von intellektuellen Konstruktions- und Reduktionsprozessen blenden zu lassen, sollte man eher an reale Verhältnisse in Familien, Freundschaftskreisen, Bildungsprozessen oder religiösen Kommunikationsprozessen denken, wenn man sich mit dem Thema Gottes Geist sinnvoll befassen möchte.

    Einen in lehrreicher Weise fehlgeschlagenen Versuch, auf biblisch-theologischer Basis zwischen diesen Denkwelten zu vermitteln, hat der Göttinger Neutestamentler Reinhard Feldmeier oes-gnd-iconwaiting... mit seinem Buch „Gottes Geist“ vorgelegt. Es tritt auf mit dem großen lobenswerten Anspruch, „sowohl der Geistvergessenheit der Kirchen der Nordhalbkugel wie der Geistversessenheit mancher Kirchen des globalen Südens den kritischen Spiegel des biblischen Zeugnisses vorzuhalten und so Impulse zu weiterem theologischen Nachdenken zu geben“.17Feldmeier, Reinhard, Gottes Geist. Die biblische Rede vom Geist im Kontext der antiken Welt, Tübingen 2020, VII. Im fünften Teil dieses Buches werden sehr erhellend geisttheologische Ausführungen bei Markus, Paulus, Lukas und Johannes behandelt. Doch schon die blassen und bruchstückhaften Ausführungen zu den alttestamentlichen Überlieferungen über den Geist und das Wirken des Geistes im zweiten Teil des Buches enttäuschen. Auch die pneumatologisch ungeheuer wichtige Figur der Geistausgießung und ihre für die Theologie und Frömmigkeit in den Pfingstkirchen und charismatischen Bewegungen so wichtigen Erkenntnisimpulse bleiben in zwei oder drei Anmerkungen so gut wie versteckt. Deshalb ist das Buch von einem „kritischen Spiegelbild des biblischen Zeugnisses“ im Blick auf Gottes Geist weit entfernt.

    Von den Ausführungen zu den Evangelien und Paulus oes-gnd-iconwaiting... im fünften Teil abgesehen, ist das Buch bar jeder biblisch-pneumatologischen Bildung. Die zahlreichen theologischen Bemühungen auf der Nordhalbkugel, über Gottes Geist und das Wirken des Geistes Aufschlüsse zu gewinnen, werden mit ihren Stärken und Schwächen ebenso völlig ausgeblendet wie die differenzierten Entwicklungen in der Pfingsttheologie. Der Autor ist stark beeindruckt von seinen begrenzten Erfahrungen in Brasilien, wo die „Universale Kirche des Gottesreiches“ „über 76 Radio- und 20 Fernsehsender sowie über weitere 100 Senderbeteiligungen (verfügt) und […] allein in Brasilien jährlich ca. 1,4 Milliarden $ einnimmt.“18Feldmeier, Gottes Geist, 1.

    Dass der Gründer dieser Kirche, der selbsternannte „Bischof“ Edir Macedo ein Privatvermögen von über 1 Milliarde $ zusammengetragen hat, dass er einen rigiden patriarchalen Sexismus und Rassismus vertrat und mit seinen einflussreichen Medien den skrupellosen Präsidenten Jair Bolsonaro unterstützt hat, wird von Feldmeier unter der Rubrik „Ambivalenz“ notiert und mit der Empfehlung „selbstkritischer Offenheit“, besonders im Blick auf „die in diesen Kirchen erlebte Lebendigkeit“ ausbalanciert.19Feldmeier, Gottes Geist, 5. Demgegenüber hatte die Kammer der EKD deutlich vor der Instrumentalisierung des christlichen Glaubens für politische Ziele und Kommerzialisierung von Religion gewarnt und deshalb auch vor dem Streben nach ökumenischer Partnerschaft mit davon betroffenen Kirchen.20Vgl. EKD, Pfingstbewegung, 185–188.

    Zu einer „unfreiwilligen Förderung der theologischen ‚Geistvergessenheit im Westen‘“21Welker, Michael, Rezension: Reinhard Feldmeier, Gottes Geist. Die biblische Rede vom Geist im Kontext der antiken Welt, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 275 (2022), 1–9, 7. trägt das Buch bei, indem es – durchaus historisch lehrreich und klug – in zwei langen Teilen unter dem Titel „Das Wirken der Weltvernunft – die griechisch-römische Philosophie“ und den Beiträgen zum stoischen Einfluss im hellenistischen Judentum bibelfernen Geist-Konzepten Aufmerksamkeit verschafft. Es lenkt damit die Aufmerksamkeit auf Geist-Theorien, die über Jahrhunderte hinweg auf metaphysische und subjektivitätstheoretische Geist-Konzepte fixiert waren. Die matten Hinweise, man müsse „bei der Rezeption philosophischer Geistkonzepte zugleich die Eigenart des biblischen Geistbegriffs zur Geltung bringen“,22Feldmeier, Gottes Geist, 102. verschleiern die für christliche Theologie, für Kirchen und Frömmigkeit dramatischen Verdrängungsprozesse im Blick auf eine biblisch orientierte und zugleich realistische Lehre vom Heiligen Geist. Diese Defizite waren auch folgenreich für die Entfaltung einer überzeugenden Gotteslehre und Christologie. Der einflussreiche Pfingsttheologe Frank D. Macchia oes-gnd-iconwaiting... formuliert treffend: „In relation to God the Creator and the Lordship of Jesus Christ, the Spirit draws creation polyphonically into the eternal life of God. […] Simple one-on-one-relations and monohierarchical forms of social interactions are implicitly resisted in favor of a participation in the multicontextual and polyphonic work of the Spirit.“23Macchia, Kingdom, 125.

    6. Der multimodale Geist der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Wahrheit, der Nächstenliebe und des Friedens: ein Kraftpaket des Guten

    Ein höchst eindrückliches Beispiel einer realistischen Geistausgießung im 20. Jahrhundert ist aus Polen überliefert. 1979, acht Monate nach seiner Wahl zum Papst, besucht Karol Wojtyla oes-gnd-iconwaiting... sein Heimatland und zelebriert eine Messe auf dem Siegesplatz von Warschau. Er beendet sie mit einem Gebet und einer Anrufung Gottes:

    Und ich rufe, ich, ein Sohn polnischer Erde und zugleich Papst Johannes Paul II., ich rufe aus der ganzen Tiefe dieses Jahrhunderts und am Vorabend des Pfingstfestes: Sende aus deinen Geist! Sende aus deinen Geist! Und erneuere das Angesicht der Erde! Dieser Erde! Amen.24Johannes Paul II., Heilige Messe, 02.06.1979 (https://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/homilies/1979/documents/hf_jp-ii_hom_19790602_polonia-varsavia.html), abgerufen am 08.10.2024.

    Im Jahr darauf brachen Streiks im Lande aus, die zur Gründung der Gewerkschaft Solidarnocs und zu vielen freiheitlichen sozialen und politischen Transformation in Polen und weiteren Ländern führten. Zwei Jahrzehnte später, auf seiner achten und vorletzten Reise nach Polen, spricht Johannes Paul II. oes-gnd-iconwaiting... wieder am Ort seiner legendären Ansprache von 1979:

    Ist nicht Antwort Gottes alles, was in dieser Zeit in Europa und in der Welt geschehen ist, angefangen bei unserer Heimat? Vor unseren Augen ist es zur Änderung der politischen, der Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme gekommen, wodurch die Einzelpersonen und die Nationen den Glanz ihrer Würde neu gesehen haben. Die Wahrheit und die Gerechtigkeit gewinnen ihren Wert zurück und werden zur dringlichen Herausforderung für alle, die das Geschenk der Freiheit zu schätzen wissen.25Johannes Paul II., Predigt, 13.06.1999 (https://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/homilies/1999/documents/hf_jp-ii_hom_19990613_beatification.html), abgerufen am 08.10.2024.

    Die in der Rede genannten Themen Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit bewegen – neben Frieden und Liebe – die Menschen seit Urzeiten. Sie sind auch zentrale Anliegen in der Bibel. Für Paulus oes-gnd-iconwaiting... und andere biblische Überlieferungen stehen sie ausdrücklich in Verbindung mit dem Wirken des göttlichen Geistes. Gottes Geist ist ein Geist der Gerechtigkeit (Röm 8,10Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen.Zur Bibelstelle). Er ist ein Geist der Wahrheit (2Thess 2,13Wir aber müssen Gott allezeit für euch danken, vom Herrn geliebte Brüder und Schwestern, dass Gott euch als Erstlinge erwählt hat zur Seligkeit in der Heiligung durch den Geist und im Glauben an die Wahrheit,Zur Bibelstelle und Joh passim). Er ist ein Geist der Freiheit (2Kor 3,17Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.Zur Bibelstelle). Er ist ein Geist der Menschenfreundlichkeit, der Nächstenliebe und damit ein Anwalt der Menschenwürde. Ich habe deshalb vorgeschlagen, den göttlichen Geist als eine „multimodale und multipolare Macht“ zu verstehen.26Welker, Michael, Zum Bild Gottes. Eine Anthropologie des Geistes, Gifford Lectures 2019/20, Leipzig 22021, 29–33.

    Leider würdigt der Papst nicht die biblischen Betonungen der Ausgießung des Geistes auf die Frauen und die Jungen. Die damit verbundenen Problematisierungen patriarchaler und gerontokratischer Strukturen hätten die Potentiale kirchlicher Selbstkritik wohl überfordert. Doch diese Herausforderungen werden unabweisbar, wenn wir Ernst machen mit der Erkenntnis, dass der Heilige Geist für die Christenmenschen der Geist Jesu Christi ist, dass er von ihm ausgegossen wird und den Menschen Anteil an seinem Geist geben soll.

    Im Licht des vorösterlichen Wirkens Jesu ist dieser Geist von einer starken diakonischen Kraft: Die Zuwendung zu konkret bedrängten und leidenden Menschen in Annahme, Trost und Heilungen, in ihrer Erbauung durch Verkündigung und befreiender Lehre. Das „königliche Wirken“ Jesu Christi und seines Geistes erfolgt nicht in monarchischer Machtentfaltung, sondern in der Kraft eines Bruders und Freundes, der auch das Schicksal eines Verachteten und Ausgestoßenen erfahren hat. Dem entspricht die große Bescheidenheit des „priesterlichen Wirkens“, das durch die Auferstehungszeugnisse und im Blick auf das „ewige Leben“ erschlossen wird. Der Auferstandene offenbart sich im Friedensgruß, im Dankgebet über dem Brot, im Brotbrechen, im Erschließen des Messiasgeheimnisses der Schrift, in der Sammlung und Sendung der Menschen die ihm nachfolgen wollen – in Kontinuität und in Diskontinuität mit dem vorösterlichen Jesus.27Besonders eindrücklich verdeutlicht dies die Emmausgeschichte, Lk 24,13–35[13] Und siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, das war von Jerusalem etwa sechzig Stadien entfernt; dessen Name ist Emmaus. [14] Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten. [15] Und es geschah, als sie so redeten und einander fragten, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. [16] Aber ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten.[17] Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs? Da blieben sie traurig stehen. [18] Und der eine, mit Namen Kleopas, antwortete und sprach zu ihm: Bist du der Einzige unter den Fremden in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen dort geschehen ist? [19] Und er sprach zu ihnen: Was denn? Sie aber sprachen zu ihm: Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Tat und Wort vor Gott und allem Volk; [20] wie ihn unsre Hohenpriester und Oberen zur Todesstrafe überantwortet und gekreuzigt haben. [21] Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde. Und über das alles ist heute der dritte Tag, dass dies geschehen ist. [22] Auch haben uns erschreckt einige Frauen aus unserer Mitte, die sind früh bei dem Grab gewesen, [23] haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagen, er lebe. [24] Und einige von denen, die mit uns waren, gingen hin zum Grab und fanden’s so, wie die Frauen sagten; aber ihn sahen sie nicht.[25] Und er sprach zu ihnen: O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! [26] Musste nicht der Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? [27] Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in allen Schriften von ihm gesagt war. [28] Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen. [29] Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben.[30] Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen. [31] Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen. [32] Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?[33] Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten zurück nach Jerusalem und fanden die Elf versammelt und die bei ihnen waren; [34] die sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und dem Simon erschienen. [35] Und sie erzählten ihnen, was auf dem Wege geschehen war und wie er von ihnen erkannt wurde, da er das Brot brach.Zur Bibelstelle. Vgl. auch Eckstein, Hans-Joachim/Welker, Michael (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Auferstehung, Göttingen 52019; Peters, Ted/Russell, Robert John/Welker, Michael (Hrsg.), Resurrection. Theological and Scientific Asssessments, Grand Rapids 2002.

    Im Licht des Kreuzes gewinnt der Geist Christi und sein „prophetisches Wirken“ in der Befreiung von der Macht der Sünde eine beklemmende Dramatik.28Vgl. dazu Welker, Michael, Gottes Offenbarung. Christologie, Göttingen 42000, 229–233.257–291. Jesus Christus wird gekreuzigt im Namen der politischen Weltmacht Rom, auch wenn ihr politischer Vertreter feststellt: „Ich finde keine Schuld an ihm!“ (Joh 18,38Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.Zur Bibelstelle; 19,6Als ihn die Hohenpriester und die Diener sahen, schrien sie: Kreuzige! Kreuzige! Pilatus spricht zu ihnen: Nehmt ihr ihn hin und kreuzigt ihn, denn ich finde keine Schuld an ihm.Zur Bibelstelle; Mt 27,24Da aber Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern das Getümmel immer größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen; seht ihr zu!Zur Bibelstelle; Mk 15,14Pilatus aber sprach zu ihnen: Was hat er denn Böses getan? Aber sie schrien noch viel mehr: Kreuzige ihn!Zur Bibelstelle). Er wird gekreuzigt im Namen der herrschenden Religion und unter dem Druck der von den religiösen Führern manipulierten öffentlichen Moral und Meinung. Auch das römische und das jüdische Recht sind involviert. Alle Kräfte, die eigentlich menschliches Leben schützen sollten – Politik, Religion, Recht, öffentliche Moral und Meinung – wirken gegen den unschuldig Verurteilten zusammen. Offenbart wird am Kreuz die Welt „unter der Macht der Sünde“ – komplexeste Zusammenhänge der Verstrickung von Leid und Schuld. Nur im Leiden und in der „Hingabe“ seines Geistes (Mk 15,37Aber Jesus schrie laut und verschied.Zur Bibelstelle; Mt 27,50Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.Zur Bibelstelle; Lk 23,46Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er.Zur Bibelstelle; Joh 19,30Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied.Zur Bibelstelle) kann sich der Gekreuzigte offenbaren.

    7. Die Unterscheidung der Geister – theologisch und philosophisch – in wahrheitssuchenden Gemeinschaften

    Der Heilige Geist ist ein Geist der Wahrheit, der mit seinen Kräften über die irdischen Lebensverhältnisse hinaus am Werk ist. Er greift aus über die unverzichtbaren Kräfte der Selbsterhaltung und Selbstdurchsetzung in natürlichen irdischen Lebensverhältnissen. Diese Kräfte der Selbsterhaltung und Selbstdurchsetzung betont eine Geist-Theorie, die eine Alternative zur Theologie des Heiligen Geistes mit einer äußerst mächtigen und höchst eindrücklichen Tradition anbietet.

    Das großartige Konzept des Geistes in der Metaphysik des Aristoteles oes-gnd-iconwaiting... Buch XII, 7 ist ihr vielleicht wichtigstes Dokument. Dieser Geist – ein Vorfahre des modernen „Ich denke“ – ist die Kraft, die sich selbst denkt, sofern sie am Gedachten teilnimmt und Anteil bekommt. Der Geist ist die Kraft, die sich in der Beziehung auf anderes nicht verliert, sondern in der denkenden Beziehung sich selbst gewinnt und erhält. Im Geist werden Denkendes und Gedachtes identisch. Dieses in der Beziehung zum Gedachten Sich-selbst-gegenständlich-Machen und Sich-selbst-gegenständlich-Werden des tätigen Geistes wird von Aristoteles als „das Göttliche“ angesehen. Konkret steht Aristoteles ein Aufstieg des Denkens in der Selbsterschließung und der Welterschließung vor Augen.29Vgl. Aristoteles, Metaphysik XII, Frankfurt 52004; Bordt, Michael, Aristoteles‘ „Metaphsik XII“, Freiburg 2006; zur Person des Heiligen Geistes vgl. Oberdorfer, Bernd, The Holy Spirit – A Person? Reflection on the Spirit’s Trinitarian Identity, in: Welker, Michael (Hrsg.), The Work of the Spirit. Pneumatology and Pentecostalism, Grand Rapids 2006, 27–46.

    Der Philosoph Hegel oes-gnd-iconwaiting... hat Aristoteles bewundert, zugleich die Aufgabe der Philosophie und die Leistung seiner eigenen Philosophie darin gesehen, ein wesentliches Defizit der Theorie des Aristoteles zu beheben. Die zentrale Konzentration auf das Denken sei unzureichend. Der Geist muss auch als eine reale materielle Macht des Sich-selbst-Hervorbringens und Sich-selbst-thematisch-Werdens begriffen werden, mit zahllosen Selbstverhältnissen in einer geschichtlichen Welt.30Vgl. Welker, Bild, 43–44.

    Mit dieser Sicht konnte Hegel die Kräfte der Religion, des Rechts, der Kunst, der Politik würdigen. Nicht verhindern konnte er die gewaltige Dominanz der Selbsterhaltung, Selbstentfaltung und Selbstdurchsetzung in den Geisttheorien, ob nur gedanklich oder auch materiell-kulturell. Der multimodale Geist Jesu Christi, aber auch der multimodale Geist der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Wahrheit, der Mitmenschlichkeit, und des Friedens ist ein Kraftfeld der Entfaltung einer nicht-selbstbezüglichen Person. John Polkinghorne oes-gnd-iconwaiting... hat vorgeschlagen, die Personalität des Heiligen Geistes in seiner Kontextsensitivität, in seinem Einfühlungsvermögen zu sehen, nicht in einer Selbstbezogenheit. Dies entspricht der Rede des Johannes vom „Geist der Wahrheit“: „Er wird euch in die ganze Wahrheit leiten, denn er wird nicht aus sich selbst reden – sondern was er hören wird, wird er reden und das Kommende wird er euch verkünden.“ (Joh 16,13).31Vgl. Polkinghorne, John/Welker, Michael, Faith in the Living God. A Dialogue, Eugene 22019, 48.76f.81.138–143.

    Die Kräfte des göttlichen Geistes weisen alle über die irdischen Lebensverhältnisse hinaus. Indem sie an der Aufrichtung von Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit, Liebe und Frieden in einer unter vielen Formen von Ungerechtigkeit, Unfreiheit, Unwahrheit und Lüge, Hass und Friedlosigkeit leidenden Welt wirken, verweisen sie auf das göttliche Leben, auf das sich alle Hoffnungen auf ein erlöstes und ewiges Leben ausrichten. In der Befreiung aus Leid-Schuld-Wechselzusammenhängen und in einer über unverzichtbare irdische Anstrengungen der Selbsterhaltung und Selbstdurchsetzung hinausführenden Kraft offenbart sich Gottes Geist: der Geist Jesu Christi, der multimodale Geist der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Wahrheit, der Menschenfreundlichkeit und des Friedens. Von diesem Geist spricht das apostolische Glaubensbekenntnis.

    Weiterführende Infos

    Für religionspädagogische Informationen und Impulse s. Gerth, Julia, Art. Heiliger Geist, in: WiReLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/100064/), abgerufen am 23.03.2025.
    Für einen ausführlichen, englisch-sprachigen Beitrag zum Geist Gottes mit besonderem Fokus auf biblische Befunde s. Levison, John (Jack) R., Art. The Spirit in the Christian Bible, in: St Andrews Encyclopaedia of Theology (https://www.saet.ac.uk/Christianity/TheSpiritintheChristianBible), abgerufen am 23.03.2025.

    Dietz, Thorsten, Der Heilige Geist – der geheimnisvolle Gott (Worthaus Podcast), 22.01.2023.

    Bibliographical Entries

    Käfer, Anne et al. (Hrsg.), Die Rede von Gott Vater und Gott Heiligem Geist als Glaubensaussage. Der erste und dritte Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gespräch zwischen Bibelwissenschaft und Dogmatik, Tübingen 2020.

    Philipps, Albrecht (Hrsg.), Creator Spiritus. Das Wirken des Heiligen Geistes als theologisches Grundthema (Evangelische Impulse 8), Göttingen 2019.

    Stavnichuk, Alexander, Der Heilige Geist im ökumenischen Gespräch und im Pentekostalismus. Eine theologische Annäherung zur Erweiterung des ökumenischen Gesprächs (KKR 82), Göttingen 2022.

    Welker, Michael, Geist Gottes. Theologie des Heiligen Geistes, Göttingen 72022.

    Notes

    • 1
      Westermann, Claus, Geist im Alten Testament, in: Evangelische Theologie 41/3 (1981), 223–230, 225.
    • 2
      Vgl. Welker, Michael, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Göttingen 72022, 58–71.
    • 3
      Zu Jes 11 und 40ff. vgl. Schüle, Andreas, Das Jesajabuch heute lesen, Zürich 2023, 137–143.153–162; aber auch Congar, Yves, Der Heilige Geist, Freiburg/Basel/Wien 1982, 24–26.
    • 4
      Vgl. Welker, Geist, 109–123.
    • 5
      Vgl. Welker, Michael, Theologie und Recht, in: Der Staat 49 (4/2010), 573–585; Welker, Michael, Gesetz und Recht – Recht und Gerechtigkeit. Recht und Religion in biblischen Perspektiven, in: Welker, Michael/Schmid, Konrad (Hrsg.), Recht und Religion. Jahrbuch für Biblische Theologie 37 (2022), Göttingen 2024, 39–53.
    • 6
      Calvin, Johannes, Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis, Göttingen 42022; Institutio II, 15,5 vgl. II, 15,2; einen kurzen Überblick zur Pneumatologie bei Calvin und Luther bietet Heron, Alasdair, The Holy Spirit, Philadelphia 1983, 99–117.
    • 7
      Welker, Michael, Der Heilige Geist. Münsteraner Antrittsvorlesung vom 29.04.1988, in: Evangelische Theologie 49/2 (1989), 126–141, 140; Welker, Gottes Geist, 286–290; Luhmann, Niklas, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986, 40–50. 30 Jahre später wurde das Wort „Resonanz“ durch das Buch von Rosa, Hartmut, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt 2019 zu einem philosophischen, soziologischen und politischen Modewort.
    • 8
      Vgl. Dunn, James, Toward the Spirit of Christ. The Emergence of the Distinctive Features of Christian Pneumatology, in: Welker, Michael (Hrsg.), The Work of the Spirit. Pneumatology and Pentecostalism, Grand Rapids 2006, 3–26; Dunn, James, The Christ and the Spirit, Vol. 2 Pneumatology, Grand Rapids 1998; Frank D. Macchia, einer der führenden Theologen der Pfingstkirchen, nennt die Geisttaufe den „Kronjuwel“ der Pfingstkirchen und der Pfingsttheologie, ja der christlichen Erfahrung überhaupt: Macchia, Frank D., Baptized in the Spirit. A Global Pentecostal Theology, Grand Rapids 2006, bes. 20–33; Macchia, Frank D., The Kingdom and the Power. Spirit Baptism in Pentecostal and Ecumenical Perspective, in: Welker, Michael (Hrsg.), The Work of the Spirit. Pneumatology and Pentecostalism, Grand Rapids 2006, 109–125; Hollenweger, Walter, Charismatisch-pfingstliches Christentum. Herkunft, Situation, Ökumenische Chancen, Göttingen 2002; Zimmerling, Peter, Charismatische Bewegungen, Göttingen 22018.
    • 9
      Kammer der EKD für weltweite Ökumene, Pfingstbewegung und Charismatisierung. Zugänge – Impulse – Perspektiven, Leipzig  2021,18.
    • 10
      EKD, Pfingstbewegung, 21–23.25.
    • 11
      EKD, Pfingstbewegung, 169.
    • 12
      Vgl. EKD, Pfingstbewegung, 65.67.73.132.
    • 13
      Vgl. dazu Welker, Michael, Pneumatologische Defizite. Ein Kommentar zur Orientierungshilfe der Kammer der EKD, in: Kirche und Migration im 20. Jahrhundert, KZG 34/1 (2021), 191–197.
    • 14
      Vgl. EKD, Pfingstbewegung, 87; Berkhof, Hendrikus, Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen 1968, 14–33; Lampe, Geoffrey, God as Spirit, Oxford 1977, 95–119.
    • 15
      EKD, Pfingstbewegung, 79.
    • 16
      Vgl. EKD, Pfingstbewegung, 80ff.
    • 17
      Feldmeier, Reinhard, Gottes Geist. Die biblische Rede vom Geist im Kontext der antiken Welt, Tübingen 2020, VII.
    • 18
      Feldmeier, Gottes Geist, 1.
    • 19
      Feldmeier, Gottes Geist, 5.
    • 20
      Vgl. EKD, Pfingstbewegung, 185–188.
    • 21
      Welker, Michael, Rezension: Reinhard Feldmeier, Gottes Geist. Die biblische Rede vom Geist im Kontext der antiken Welt, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 275 (2022), 1–9, 7.
    • 22
      Feldmeier, Gottes Geist, 102.
    • 23
      Macchia, Kingdom, 125.
    • 24
    • 25
    • 26
      Welker, Michael, Zum Bild Gottes. Eine Anthropologie des Geistes, Gifford Lectures 2019/20, Leipzig 22021, 29–33.
    • 27
      Besonders eindrücklich verdeutlicht dies die Emmausgeschichte, Lk 24,13–35. Vgl. auch Eckstein, Hans-Joachim/Welker, Michael (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Auferstehung, Göttingen 52019; Peters, Ted/Russell, Robert John/Welker, Michael (Hrsg.), Resurrection. Theological and Scientific Asssessments, Grand Rapids 2002.
    • 28
      Vgl. dazu Welker, Michael, Gottes Offenbarung. Christologie, Göttingen 42000, 229–233.257–291.
    • 29
      Vgl. Aristoteles, Metaphysik XII, Frankfurt 52004; Bordt, Michael, Aristoteles‘ „Metaphsik XII“, Freiburg 2006; zur Person des Heiligen Geistes vgl. Oberdorfer, Bernd, The Holy Spirit – A Person? Reflection on the Spirit’s Trinitarian Identity, in: Welker, Michael (Hrsg.), The Work of the Spirit. Pneumatology and Pentecostalism, Grand Rapids 2006, 27–46.
    • 30
      Vgl. Welker, Bild, 43–44.
    • 31
      Vgl. Polkinghorne, John/Welker, Michael, Faith in the Living God. A Dialogue, Eugene 22019, 48.76f.81.138–143.

    Cite as

    Welker, Michael: „Geist Gottes“, Version 1.0, in: Onlinelexikon Systematische Theologie, 1 May 2025. DOI: https://doi.org/10.15496/publikation-104735

    Cite as

    Print