1. Basisinformation
Mit dem Begriff Transgeschlechtlichkeit oder Transgender, aber auch den (Selbst-) Bezeichnungen „trans man“, „trans women“, „femmes“, „bois“ oder mit „transmaskulin“, „transfeminin“,1Vgl. Dembroff, Robin, Reimagining Transgender, in: Bettcher, Talia Mae et al. (Hrsg.), Trans Philosophy, Oxford 2024, 4. wobei „Trans/trans“ im deutschen Sprachraum als semantisch offenste Selbstbezeichnung firmiert, werden verschiedene Formen des Erlebens von Inkongruenz zu kulturell etablierten Sinnbestimmungen des Geschlechtlichen beschrieben. Im Unterschied zur Intergeschlechtlichkeit mit ihrem Ansatzpunkt in somatischen Bedingungen geht es im Fall von Transgeschlechtlichkeit „fundamentally about an experience“,2Dembroff, Transgender, 1. die das Subjekt dieses Erlebens zwar aus kontingenten Gründen häufig in konfliktive Erfahrungen verwickeln können, aber auch zur Erfahrung gelingenden Lebens führen.
Der Begriff Transgender hat mit Blick auf seine Genese eine politische Ligatur, die sich einerseits gegen die medizinisch-psychiatrische Dominanz im Diskurs über und vor allem im Leben von Personen richtet. Andererseits ist damit zunächst weniger eine Festlegung auf bestimmte psychische und körperliche Zustände verbunden gewesen, sondern ein „umbrella term“, der verschiedene Formen der Varianz des Geschlechtlichen in den Raum des Politischen trug. Hierdurch war und ist beabsichtigt, Gewalt gegen und Missachtung von Personen entgegenzuwirken.3Vgl. Halberstam, Jack, Trans*. A Quick and Quirky Account of Gender Variability, Oakland 2018, 8. Das ist semantikgeschichtlich deshalb wichtig, weil mit dem Begriff Transgender keine Festlegungen intendiert waren, die dazu geeignet sind, Personen erneut epistemische und damit verbunden praktische Gewalt durch Zuschreibungen zuzumuten.
Transgeschlechtlichkeit ist auf der einen Seite zunehmend in einen auch theologischen Konsensbereich über die Vielgestaltigkeit der Erlebensgrundlagen und Ausdrücke von Geschlechtlichkeit gerückt.4Vgl. Wirth, Mathias, Die Multirealisierbarkeit des Geschlechtlichen. Zur Kritik verweigerter Entfaltung in theologischen Gender-Studies und ihre Bedeutung für Trans- und nicht-binäre Personen, in: Heimbach-Steins, Marianne et al. (Hrsg.), Gender (Studies) in der Theologie. Begründungen und Perspektiven, Münster 2021, 142–153. Damit ist eine positive Entwicklung in Theologie und kirchlicher Praxis in Sicht, die einen konstruktiven Umgang mit Erfahrungen von Personen unternimmt, die zuvor wegen geschlechtlicher Nonkonformität und Transgeschlechtlichkeit Diskriminierungserfahrungen machen mussten. Robin Dembroff nennt die Kirche als einen in der eigenen Biographie erlebten sozialen Kontext zweigeschlechtlicher Zuweisung. 5Robin Dembroff nennt die Kirche als einen in der eigenen Biographie erlebten sozialen Kontext zweigeschlechtlicher Zuweisung (vgl. Dembroff, Transgender, 3). Allgemeiner zum Verhältnis von Religion und „Politics of Coming Out“ vgl. Wilcox, Melissa M., Queer Religiosities. An Introduction to Queer and Transgender Studies in Religion, Lanham 2021, 33–34. Das verbindet sich mit neuen Hinsichten auf biblische und theologische Traditionsbestände,6Vgl. Wilcox, Religiosities, 57. die von Protagonist*innen einer für Trans relevanten Theologie ausgearbeitet werden.7Vgl. beispielhaft Cornwall, Susannah, Apophasis and Ambiguity. The ‚Unknowingness‘ of Transgender, in: Isherwood, Lisa/Althaus-Reid, Marcella (Hrsg.), Trans/formations, London 2009, 13–40, 22. Wichtige Arbeiten dazu stammen von Marcella Althaus-Reid , Robert Shore-Goss
, Gerard Loughlin
, Elizabeth Stuart
und in der gegenwärtigen Systematischen Theologie besonders von Karen Bray
, Susannah Cornwall
, Virginia Mollenkott
, Linn Tonstad
sowie Thelathia Nikki Young
. Auf der anderen Seite findet ebenso zunehmend eine Verknüpfung von Transgeschlechtlichkeit mit Debatten statt, die an der ethischen und politischen Berücksichtigungsfähigkeit nicht-binärer Körperdarstellungen Zweifel hegen oder diese vehement zurückweisen. Dazu werden auch biblische Motive mobilisiert, wie das notorisch kreationistisch gelesene Wort über die männliche und weibliche Erschaffung des Menschen aus Gen 1,27bUnd Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.Zur Bibelstelle.8Vgl. Wirth, Mathias, Kreationismus und Anti-Gender. Über Schöpfungstheologie und moralisches Unbehagen, in: ZThK 120 (2023), 216–233.
2. Problemhorizont (vgl. Art. Geschlecht)
Transgeschlechtlichkeit wird in Teilen und besonders in populistischen Politikstilen zur programmatischen Frage gegenwärtiger Krisenphänomene. Positionen, die nicht die ethische und politische Dimension etablierter sowie ebenfalls religionsbezogener Gerechtigkeitslücken im Bezug auf Trans reflektieren, müssen mit der Frage konfrontiert werden, ob dort gepflegte averse Diskurse gegen geschlechtliche Vielfalt nicht nur normativ unplausibel sind, sondern gerade im Horizont christlicher Berücksichtigung gefährdetes Leben schaffen. Es kann nämlich beobachtet werden, dass „[…] [t]ransgendered lives are being fashioned into a […] debate that serves to distract from a dying planet, a widening wealth gab, disappearing worker protections, shrinking social safety nets, and intentional undermining of democracy“.9Dembroff, Transgender, 1. Das gelingt mitunter dort, wo transgeschlechtliche Ausdrucksformen individuellen Selbstseins als „weird, disgusting, unnatural“10Dembroff, Transgender, 4. diffamiert werden.
Weil der Geltungsgrund der Geschlechtlichkeit normativ aus verschiedenen Gründen stark aufgeladen und damit eine Grundstruktur des Lebens tangiert ist, wird die eingangs genannte Inkongruenz zwischen erlebter und erwarteter Geschlechtlichkeit bei Trans unter den Bedingungen normierter Zweigeschlechtlichkeit (vgl. Art. Geschlecht) notorisch als Nonkonformität oder sogar als deplatzierter, illusionärer oder sündhafter Ausdruck der Entgrenzung adressiert. Transgeschlechtlichkeit dürfte in weiten Teilen der Gesellschaft als ein Tabu gelten, weil es als Widerspruch zur Sicherheit erscheint, mit der viele Personen ihre Einrichtung in der Zweigeschlechtlichkeit vornehmen.11Vgl. Dembroff, Transgender, 7. Die daraus resultierende prekäre Inkongruenz ist für die Position der Transgeschlechtlichkeit mit Berücksichtigungsdefekten assoziiert, für die das Christentum sowie dort inszenierte und weniger argumentierte Zweigeschlechtlichkeit Mitverantwortung trägt.
Neuere Debattenbeiträge zur Definition von Transgeschlechtlichkeit votieren daher unter dem Druck eines in Teilen zunehmend populistischen und transphoben Klimas wieder stärker für eine politisch-ethische Definition von Transgeschlechtlichkeit im Sinne von Transgeschlechtlichkeit als „self-directed gender nonconformity that are heavily penalized“.12Dembroff, Transgender, 1. Hiermit wird Transgeschlechtlichkeit einerseits von Formen geschlechtlicher Nonkonformität unterschieden, die ubiquitär sind, aber nicht zu Berücksichtigungsdefekten führen, wie gesellschaftlich in Teilen heute akzeptiertes stereotypes maskulines Verhalten am Ort weiblich gelesener Körper und umgekehrt (z. B. durch nicht entfernte Körperbehaarung im ersten oder lackierter Nägel im zweiten Fall). Eine integrative Interpretation von Trans als Praxis, die mit verschiedenen Graden alle betreffe, weil jede Person vorgegebene Muster variiere, wird aus politisch-ethischen Gründen zum Beispiel von Robin Dembroff abgelehnt. Das wird mit Verweis auf schwere Formen der Missachtung von Personen bekräftigt, die „self-directed“, also in einem erheblichen Sinne die Norm essentialistischer und binärer Geschlechtlichkeit mit dem Argument aufkündigen, die apostrophierte Grundstruktur des Lebens ermögliche ihr Selbstsein und Seinkönnen gerade nicht. Erfahrungen von Trans, die nicht als prekär erlebt werden und sich gegen das notorische Einrücken in Problemhorizonte des Politischen stemmen, stellen den gegenüberliegenden Strang des Versuchs dar, Transgeschlechtlichkeit zu charakterisieren. Beiden Positionen ist allerdings das Problembewusstsein dafür gemeinsam, dass die terminologischen und phänomenologischen Abgrenzungsversuche mit der Tendenz verbunden sind, dem Bedürfnis nach Rechtfertigung durch Personen zu entsprechen, die an der normativen Berücksichtigungsfähigkeit von Transgeschlechtlichkeit zweifeln.
3. Transgeschlechtlichkeit und Queer Theology
Ein zentrales Anliegen queerer Theologie ist die Argumentation des Werde-Charakters und nicht des Seins-Charakters personaler Existenz, aber auch und hiermit zusammenhängend theologischer Konzepte.13Vgl. Cornwall, Susannah, Controversies in Queer Theology, London 2011, 1. Das hat Bedeutung für die theologische Besprechung von Transgeschlechtlichkeit, zu der biographisch ein (körperliches) Werden gehört, das auf ein (psychisches) Sein zielt. Ein Widerspruch zur queer-theologischen Betonung des Werdens des Seins statt eines vermeintlichen Seins des Seins besteht bei genauem Hinsehen nicht, weil ein körperliches Werden gerade am Ort des Geschlechtlichen nicht eine äußerliche Modifikation dessen darstellt, was eine Person als Selbst auffasst. Dieses Selbst ist aufgrund des Werde-Charakters des Körperlichen nicht allein bei transidenten Personen im Sinne eines statischen Seins zu verstehen. Offensichtlich gehört zur Erfahrung von Selbstheit ein seinshaftes Moment der Kontinuität, jedoch vornehmlich Transgeschlechtlichkeit verdeutlicht den nicht selten notorischen Werde-Charakter dieses Selbstseins als stets zu realisierenden Ausdruck des Personseins. Mit der Betonung des Werde-Charakters des Seins ist in der Queer Theology, in welcher Transgeschlechtlichkeit an zentralen Stellen, manchmal nur implizit, Aufmerksamkeit erfährt, eine materiale wie moralsensitive Theologie im Blick. Sie ist besonders auf die Materialität des konkreten Lebens bezogen, weil sich dort Probleme und Potentiale des geschlechtlichen Selbstseins samt intersektionaler Verbindung zu Fragen von „class“ und „race“ stellen. Damit ist im Blick, wie unterschiedlich Gewaltaufschlagungen ausfallen, wenn eine ökonomisch privilegierte, männlich gelesene Person gendernonkonforme Verhaltensweisen zeigt, im Unterschied zu einer Person, auf die die genannten Zuschreibungen nicht angewendet werden. Queer Theology als eine interdisziplinäre theologische Perspektive und Methode, in der die Systematische Theologie und Transgeschlechtlichkeit durchaus zentral sind, fragt nach solchen Bedingungen und lässt auf dieser Grundlage Rückfragen an die eigenen Traditionen und ihre Verwicklung in Kulturen der Transphobie zu. Dabei werden Neuansichten möglich, die ethische Bedeutung haben. Wobei es nicht lediglich um Formen der Inklusion geht, die geschlechtliche Vielfalt vor den vermeintlich unanstastbaren „Großbegriffen des Christentums“ (Gunda Schneider-Flume ) rechtfertigen und passend machen. Vielmehr gehört zur ethischen Trajektorie der Queer Theology eine Neubestimmung sozialer Interaktionsbedingungen, wozu theologische Motive gänzlich neu und anders herangezogen werden. Melissa Wilcox
verwendet in diesem Zusammenhang in ihren theologischen Trans-Studien den deutschen Begriff des „Verstehens“.14Vgl. Wilcox, Religiosities, 105. In der Queer Theology verweist dies auf eine hermeneutische Operation, die nach den konkreten materialen und moralischen Bedingungen des Lebens von Personen und nach Wechselwirkungen mit Lehrgestalten des Christentums fragt, bei denen nonkonforme geschlechtliche Ausdrücke eine existentielle Rolle spielen.
Zu queerer Theologie:
Dr. Kerstin Söderblom, Katharina Payk, Dr. Wolfgang Schürger, Sonja Thomaier und Christian Höller bloggen regelmäßig über Ereignisse und Erfahrungen, die lesbische, schwule und bisexuelle Menschen sowie Transgender in der Kirche, ihrer Gemeinde und im Glauben machen. Dabei werfen sie einen christlichen Blick auf Entwicklungen in der queeren Welt:
https://www.evangelisch.de/blogs/kreuz-queer-1, abgerufen am 09.03.2025.
4. Systematisch-theologische Relevanz von Transgeschlechtlichkeit
Dogmatisch geforderte differenzierte und ethisch notwendig anerkennende Sichtweisen auf Transgeschlechtlichkeit fordern das gesamte Spektrum der Systematischen Theologie. Dabei können theologische Gehalte in teilweise ungewohnten Kontexten neu als eloquentes Areal für Diskurse über Freiheit und die Bedingungen ihres Gelingens reflektiert werden.15Vgl. Wilcox, Religiosities, 33. Das hängt einerseits mit dem Problem der essentialistisch gestellten Zweigeschlechtlichkeit zusammen, deren Einbettung in der gesamten Theologie unplausible Ansprüche moralisch kommuniziert hat, die biblisch weder schlüssig noch ethisch kohärent sind. Dies zeigen vor allem Debatten in der Queer Theology, zu deren frühen zentralen Fragen die nach den exegetisch und historisch ausweisbaren, aber oft verdeckten Vielgestaltigkeiten des Geschlechtlichen gehört. Andererseits gibt es materiale Themen, deren Analyse im Horizont von Transgeschlechtlichkeit zur Aufklärung und zum Abbau von Missverständnissen zwischen Christentum und Trans geführt haben. Ein Beispiel wären manchmal nur sublime Verbindungen von Transgender mit dem Bösen, wobei die trans Person als „evil deceiver or make-believer“16Dembroff, Transgender, 8. aufgefasst wird. Dagegen können in der Theologie analog Strukturen aufgezeigt werden, bei denen theologisch erheblich Körper ebenfalls nicht als das gelten, was sie in einer bestimmten Betrachtungsweise darstellen. Das Paradebeispiel bieten spezielle Abendmahlslehren.17Vgl. Wirth, Mathias, When Substantial and Accidental Bodies Differ. The Case of Eucharistic Transubstantiation and Gender Transition from the Perspective of Reformed Ethics, in: Klein, Rebekka A./Ullrich, Calvin D. (Hrsg.), The Unthinkable Body. Challenges of Embodiment in Religion, Politics, and Ethics, Tübingen 2024, 61–77. Das Böse selbst als zentrales Thema der Theologie und Ethik kann genauso aktiviert werden, um dem Vorwurf des Bösen im Zusammenhang mit Trans entgegenzuwirken. Hier geht es um den Nachweis zum Umgang mit Stereotypen, dass Trans deshalb nicht als böse oder diabolisch angesehen werden kann, weil keine normativen Strukturen aufgekündigt werden, mit denen Gewalt entstünde. Im Gegenteil strebt der Ausdruck geschlechtlicher Vielfalt das Ziel der Beendigung von Gewalt und Leiden an.18Vgl. Wirth, Mathias, Warum diabolische Geschlechtlichkeit nicht diabolisch ist. Über Trans/Gender und die ewigen Diagnosen des Bösen, in: Praktische Theologie 56 (2021), 83–89.
Die Relevanz Systematischer Theologie liegt neben dem Umgang mit der Verantwortung für die zum Kulturem gewordene repressive Form der Zweigeschlechtlichkeit in Reflexionen auf Konzepte und sogar Begriffe aus der Theologie, die ungünstige Festlegungen von Personen mit Bezug zu Trans begünstigen, theologisch aber gerade nicht als Affront gegen das Selbstsein einer Person konzipiert sind, sondern als Opposition. Ein mustergültiges Beispiel bietet die Rechtfertigungslehre.19Vgl. Wilcox, Religiosities, 54–55. Ihre in der Reformation konzipierte religiöse und damit verbunden existentielle Befreiung von der Angst der Person, in den Augen Gottes und dann der Welt „weird, disgusting, unnatural“ zu sein, hat bisher den Rechtfertigungsdruck von Transgeschlechtlichkeit kaum genommen. Personen, die sich mit der geschlechtlichen Position Trans verbinden, beklagen einen „demand for justification“.20Dembroff, Transgender, 4. Bei genauem Hinsehen gehe es hierbei um alles oder nichts, die Frage ist eine politisch-ethische Frage, die darauf abzielt, ob die andere Person, die sich als trans ausweist, überhaupt als berücksichtigungsfähig einzustufen ist.21Vgl. Leboeuf, Celine, What are you? Addressing Racial Ambiguity, in: Critical Philosophy of Race 8 (2020), 292–307, 299. Gelingt die Plausibilisierung nicht und bleibt das gewaltförmige Interesse von Mehrheitsgesellschaften an Festlegung zur Tilgung der Angst vor Andersheit unbefriedigt, droht die Aussonderung, die von sozialer Missachtung bis zu schwerer Gewalt und Tötungsdelikten reicht. Auf diese Weise wird ein theologischer Konsensbereich verlassen, weil der rechtfertigungstheologische Geltungsgrund der Person, also durch Gott im jeweiligen lebensnotwendigen Selbstsein angesehen und anerkannt zu sein, ignoriert wird. Das wird frappierend klar, wenn die Antwort, die Robin Dembroff auf Fragen an die eigene geschlechtliche Nonkonformität mit „I know what I am, and this form of life makes me happier“,22Dembroff, Transgender, 4. formuliert, den Rechtfertigungsdruck nicht nimmt. Die Rechtfertigungslehre positiv gewendet bedeutet aber in ethischer Hinsicht und mit Bezug auf die Bemühung der Personen, ein gelingendes Leben zu führen, kein Schulden mehr von Gründen, eben ein solches Leben führen zu können. Die existentielle Triftigkeit der Rechtfertigungslehre liegt ja gerade in der Befreiung zu einem Leben, das von der Angst zur Rechtfertigung des eigenen Seins entlastet ist. An den Einlösungsbedingungen dafür im Bereich von Transgeschlechtlichkeit ist theologisch weiter anzuknüpfen. Zum Beispiel ist dies geboten im Sinne einer stärkeren Anbindung des protestantisch zentralen Begriffs von der Subjekthaftigkeit der Person, der gegen alle Gefahren einer atomistischen Konzeption im Kern so etwas wie eine „first-person authority“ aufweist, wie programmatisch am Ausfall des bevormundenden Klerus und des direkten Schriftbezugs gezeigt werden dann. Genau die Akzeptanz einer „first-person authority“ nennt Robin Dembroff als ethische Notwendigkeit, um als trans Person vom Druck der Rechtfertigung und somit vom Gestikulieren mit der Option der Missachtung befreit zu werden.23Vgl. Dembroff, Transgender, 6 und weiter Sweeny Block, Elizabeth, Christian Moral Freedom and the Transgender Person, in: Journal of the Society of Christian Ethics 41 (2021), 331–347, 333 sowie Wirth, Mathias, Kosmos des Binären und Ethos der Erlösung. Zur Bedeutung eines theologischen Antinormativismus. in: Roggenkamp, Antje et al. (Hrsg.), Gebotene Wirklichkeiten? Konstruktion und Dekonstruktion zwischenmenschlicher Beziehungen in religiösen Diskursen, 2023 (PDF/E-Book, https://www.vr-elibrary.de/doi/10.13109/9783666507007), abgerufen am 20.01.2025, 102–117, 102. Andere aktuelle und anstehende systematisch-theologische Themen im Zusammenhang mit Transgeschlechtlichkeit, die nicht zuletzt in der Queer Theology behandelt werden, sind der kritische Umgang mit Dualismen im sozialen Bereich. So könnte die heuristische Praxis des Unterschieds zwischen der Position Trans und der Position Cis, der all die geschlechtlichen Ausdrücke zugeordnet werden, die sich nicht durch „self-directed“ Nonkonformität mit Blick auf das Bigenus bezeichnen und daher keine signifikanten Marginalisierungs-, aber auch Erfüllungserfahrungen durch Transitionen machen, normativ entlastet werden. Denn soziale Dualismen kommen notorisch mit der Gefahr der Hierarchisierung und folglich Privilegierung. Es ist gerade protestantische Ekklesiologie, die mit ihrer inneren konfessionellen Pluralität ein soziales Beispiel für Anerkennungsformen von Andersheit liefert, die ohne Diskurse der Herabsetzung auskommen.
Zur kirchlichen Vertiefung:
Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hat sich schon recht früh positiv würdigend mit Transgeschlechtlichkeit beschäftigt und dazu überdies entsprechende Arbeitsmaterialien erstellt:
https://www.ekhn.de/themen/queer-leben/lgbt-iq-news/transidentitaet-der-weg-zur-eigenen-geschlechtlichen-identitaet-und-unterstuetzung-durch-die-kirche, abgerufen am 09.03.2025.
5. Ausblick
Die Zweigeschlechtlichkeit stellt weiterhin eine soziale Struktur dar, die normiert, wie Personen aussehen, wie sie sich bewegen, was sie präferieren, wen sie lieben sollen.24Vgl. Dembroff, Transgender, 6. Transgeschlechtlichkeit mehr als politischer Begriff und weniger als mögliche Selbstbeschreibung mit all den positiven Gehalten, die individuell dazu gehören, bedeutet ein „[…] concept to help us see that certain people suffer severe penalties for their nonconformity – the kinds of penalties that deeply harm or that restrict life opportunities“.25Dembroff, Transgender, 12. Systematische Theologie leistet einen Beitrag zur normativen Entlastung der Zweigeschlechtlichkeit und damit unter anderen Vorzeichen auch geschlechtlicher Diversität, der weder – um einen weiten Bogen zu spannen – schöpfungstheologisch noch eschatologisch eine gebotene Realität entspricht, zu welcher Menschen sich nicht verhalten könnten.26Vgl. Schneider, Laurel C./Young, Thelathia Nikki, Queer Soul and Queer Theology. Ethics and Redemption in Real Life, New York 2021, 44. Es sind eher sekundäre Anlagerungen, die im Laufe der Geschichte aus einer Form des Lebens eine Form des Überlebens und der Bedrohung gemacht haben. Eine theologische Konsolidierung von Geschlechtlichkeit als Ausdruck materialen Selbstseins mitsamt den möglichen konstruktiven Bezugnahmen auf Andersheit beginnt bereits dort in der Systematischen Theologie, wo, wie zum Beispiel in neueren reformiert-theologischen Ansätzen, „human flourishing“ zu einem zentralen normativen Kriterium theologischer Urteilsbildung wird. Dabei handelt es sich um einen offensichtlich konstruktiven Begriff, der sowohl in der Literatur von trans Personen wie in der Literatur theologischer Ethik vorkommt.27Vgl. Dembroff, Transgender, 13 und Messer, Neil, Flourishing. Health, Disease, and Bioethics in Theological Perspective, Grand Rapids 2013. Mit dieser Maxime kann verständlich zur Sprache gebracht und dann auch operationalisiert werden, worin Potentiale sowie Probleme theologischer Rede über Geschlechtlichkeit liegen: Wenn hiermit Normierungen verbunden sind, die Gewalt gegenüber Personen begünstigen, die sich als trans und gendernonkonform darstellen, im Sinne von zum Beispiel sexualisierter Gewalt, Benachteiligung im Gesundheitssystem, bei der Chancengleichheit, im sozialen Raum, bestehen weiter Unbestimmtheiten in den Paradigmen der christlichen Lehre, die im Horizont widriger Interpretationsmöglichkeiten aufgeklärt werden können.28Vgl. Wilcox, Religiosities, 105.