1. Einleitung
Das Gebot seine Feinde zu lieben gilt im Allgemeinen als „Spitzensatz der Ethik Jesu“1Konradt, Matthias, Das Gebot der Feindesliebe in Mt 5,43–48 und sein frühjüdischer Kontext, in: Oeming, Manfred (Hrsg.), Ahavah – Die Liebe Gottes im Alten Testament. Ursprünge, Transformationen und Wirkungen, Leipzig 2018, 349–382, 349. und damit als das Distinktionsmerkmal jesuanischer und deswegen auch christlicher Ethik. Zentral überliefert im Rahmen der Bergpredigt, genau genommen in Mt 5,43–48[43] Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen. [44] Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, [45] auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.[46] Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? [47] Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? [48] Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.Zur Bibelstelle, und in leicht anderer Form in Lk 6,27–28[27] Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; [28] segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen.Zur Bibelstelle.32–36[32] Und wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen. [33] Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Das tun die Sünder auch. [34] Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon? Auch Sünder leihen Sündern, damit sie das Gleiche zurückbekommen. [35] Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. [36] Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.Zur Bibelstelle, gehört es wohl in den Bestand der authentischen Worte Jesu und geht auf die Spruchsammlung Q zurück.2Vgl. Konradt, Gebot, 349. Allerdings lässt sich die Frage stellen, welche Bewandtnis eine solch radikale Forderung angesichts gegenwärtiger Gewalt- und Kriegserfahrungen haben kann. Anders ausgedrückt: Welche Orientierung kann ein Ethos der Feindesliebe geben, das nicht nur idealistische Forderungen aufstellt? Der Frage soll im Folgenden, zunächst mit Blick auf die biblischen Wurzeln und die Rezeptionsgeschichte der Feindesliebe, nachgegangen werden, um dann eine Verortung innerhalb des gegenwärtigen ethischen Diskurses vorzunehmen.
2. Biblische Grundlagen
Obwohl das Alte Testament zwar keine direkte Aufforderung den Feind zu lieben kennt, ist der Appell auch nicht ohne Vorbilder. So fordern auch Ex 23,4f.[4] Wenn du dem Rind oder Esel deines Feindes begegnest, die sich verirrt haben, so sollst du sie ihm wieder zuführen. [5] Wenn du den Esel deines Widersachers unter seiner Last liegen siehst, so lass ihn ja nicht im Stich, sondern hilf mit ihm zusammen dem Tiere auf.Zur Bibelstelle sowie Spr 25,21f.[21] Hungert deinen Feind, so speise ihn mit Brot, dürstet ihn, so tränke ihn mit Wasser, [22] denn du wirst feurige Kohlen auf sein Haupt häufen, und der Herr wird dir’s vergelten.Zur Bibelstelle auf, sich dem Feind gegenüber freundlich zu verhalten.3Vgl. Konradt, Gebot, 351; Ebach, Jürgen, Praktische Schritte zur Entfeindung statt abstrakt gebotener Feindesliebe. Exeg-ethische Beobachtungen und Erwägungen zu Ex 23,5, in: Wustmans, Clemens et al. (Hrsg.), Kontext und Dialog. Sozialethik regional – global – interdisziplinär. Festschrift für Traugott Jähnichen zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2024, 69–73. Zudem stellt sich die Frage, wie weit das Nächstenliebegebot reicht. Frühjüdische Texte, etwa Philo von Alexandrien oder die apokryphen Testamente der Zwölf Patriarchen, weiten das Gebot der Nächstenliebe bis auf den Feind aus.4Vgl. Ebach, Schritte. Der Gedanke der Feindesliebe ist also der biblischen Umwelt nicht unbekannt.
Die neutestamentlichen Aussagen zur Feindesliebe kritisieren nun in erster Linie die Maxime, Freunde zu unterstützen und Feinden zu schaden. Die Kontroverse kreist hier vor allem um den griechischen Begriff echtros, bei dem zunächst unklar scheint, ob ausschließlich der persönliche Feind im privaten Nahbereich gemeint ist oder ob auch rivalisierende Gruppen eingeschlossen sind – die oben erwähnten neutestamentlichen Passagen also eine politische Dimension haben. Angesichts der Rede von „Verfolgern“ in diesem Kontext, liegt der Schluss nahe, dass diese politische Dimension durchaus mitgemeint ist: Römische Soldaten etwa werden in den Kreis der zu liebenden Nächsten aufgenommen.5Vgl. Konradt, Gebot, 372. Entscheidend aber ist letztlich der Grund für solches Handeln. Gott selbst nämlich „lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.Zur Bibelstelle). Solch barmherziges Handeln ist Vorbild für das eigene Handeln im Blick auf das nahe kommende Reich Gottes.6Vgl. Konradt, Gebot, 373f.376. Vor allem für Matthäus ist dabei die Verbindung zum Friedenstiften zentral: Wer dem Feind nicht mit Misstrauen begegnet, sondern freundlich, legt den Samen für ein Überwinden der Feindschaft in Versöhnung.7Vgl. Konradt, Gebot, 378f. Allerdings zeigt ein Blick auf die Fülle neutestamentlicher Texte bereits die Ambivalenz des Themas: Trotz aller Betonung von Gewaltverzicht, der sogar den Feind einschließt, ist das Neue Testament nicht frei jeder Aggression. Dies kommt zum Tragen im Gedanken der Mission, vor allem gegenüber Israel, in Auseinandersetzung mit sog. Irrlehrern, aber auch im Umgang mit dem Staat und der Welt, wie die Offenbarung des Johannes deutlich zeigt.8Vgl. Luz, Ulrich, Feindesliebe und Gewaltverzicht. Zur Struktur und Problematik neutestamentlicher Friedensideen, in: Holzem, Andreas (Hrsg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens, Paderborn/München u.a. 2009, 137–149.
Weiterführende Infos WiBiLex und WiReLex
Weitere bibelkundliche Informationen finden sich hier: Moenikes, Ansgar, Art. Liebe / Liebesgebot (AT). 2.2. Nächstenliebe – Feindesliebe – Fremdenliebe, in: WiBiLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/24991/), abgerufen am 08.04.2025.
Im religionspädagogischen Lexikon wird die Feindesliebe in folgendem Artikel thematisiert: Roose, Hanna, Art. Nächstenliebe. 2.3. Das Gebot der Feindesliebe, in: WiReLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/100288/), abgerufen am 08.04.2025.
3. Rezeptionsgeschichte
So ambivalent wie der Befund in den biblischen Schriften, zeigt sich auch die Rezeptionsgeschichte des Passus von der Feindesliebe. Während die Rede von der Feindesliebe in der radikalpazifistischen Tradition einen wichtigen Ankerpunkt bildet,9Vgl. Hofheinz, Marco, Radikaler Pazifismus, in: Werkner, Ines-Jaqueline/Ebeling, Klaus (Hrsg.), Handbuch Friedensethik, Wiesbaden 2017, 411–430. so wurde sie im Bereich der politischen Theoriebildung weitgehend ausgeklammert oder dahingehend interpretiert, dass sich das Gebot zur Feindesliebe lediglich auf den privaten Nahbereich beziehe und so ohne jegliche politische Wirkung bleibe.10Vgl. Huber, Wolfgang, Feindschaft und Feindesliebe. Notizen zum Problem des „Feindes„ in der Theologie, in: ZEE 26 (1982), 128–158, 146f. Ebenso wurde in der Tradition des Origenes die Feindesliebe zur Überwindung von Hass abgeschwächt oder als Gesinnungsmoral diffamiert.11Vgl. Körtner, Ulrich H. J., Art. Feind/Feindesliebe IV. Ethisch, in: RGG Online, 2018 (https://referenceworks.brill.com/display/entries/RGG4/COM-07515.xml?rskey=lrGTUm&result=1), abgerufen am 06.04.2025. In der Zeit der Reformation wurde dann ein Verständnis von Feindesliebe, das im Sinne einer Zweistufenethik nur bestimmte Personengruppen adressiert infrage gestellt: Für Luther
steht vielmehr die allgemeine Bedeutung der Bergpredigt für alle Christ:innen im Vordergrund: „durch den Spiegel des Gesetzes“12Vgl. Gänssler, Hans-Joachim, Evangelium und weltliches Schwert. Hintergrund, Entstehungsgeschichte und Anlass von Luthers Scheidung zweier Reiche oder Regimente, Wiesbaden 1983. erkennt der Mensch, dass er nicht in der Lage ist, die Gebote zu erfüllen. Pointiert wird die Feindesliebe auch von Bonhoeffer
in seinem Buch Nachfolge aufgegriffen, in dem er auf den christologischen Grund der Feindesliebe hinweist: Gottes Liebe zeigt sich am Kreuz, an dem Jesus für eine ihm feindliche Welt stirbt.13Vgl. Huber, Feindschaft, 151f. 155.
4. Theologisch-ethische Konsequenzen
Welche Bedeutung kann aber eine Vorstellung wie die Feindesliebe in der Gegenwart haben? Für wen gilt sie und welche orientierende Kraft ergibt sich für den Einzelnen und den politisch öffentlichen Diskurs? Oder, pointiert gefragt: „Ist es bei einem Streit auf dem Schulhof wirklich sinnvoll, freiwillig auch die ‚andere Wange‘ hinzuhalten und auf eine aktive Verteidigung zu verzichten?“14Käbisch, David, Zehn Gebote und Bergpredigt, in: Simojoki, Hendrik (Hrsg.), Ethische Kernthemen. Lebensweltlich – theologisch-ethisch – didaktisch, Göttingen 32022, 478–489, 478.
Die Antwort auf diese Fragen kann zunächst an den biblischen Befund und die Tradition anknüpfen. So ist einerseits festzuhalten, dass eine Engführung auf den persönlichen Feind, also eine unpolitische Privatisierung der Feindesliebe dem biblischen Textbestand nicht gerecht wird. Andererseits kann nun aber eine ethisch derart anspruchsvolle Haltung nicht einfach politisch oder gar rechtlich verordnet werden. Wollte man so argumentieren müsste im Sinne einer Entgrenzung der Nächstenliebe auch der Feind ohne Unterschied genauso behandelt werden wie der Freund. Indessen ist aber bereits im Wort Feindesliebe angezeigt, dass es einen Feind gibt, Feindes- und Nächstenliebe also nicht ins eins fallen. Gefordert sein dürfte vielmehr ein Verzicht auf Gewalt angesichts des Feindes – und zwar nicht nur im individuellen Nahbereich, sondern auch in gesellschaftlichen und politischen Kontexten.15Vgl. Huber, Wolfgang/Reuter, Hans-Richard, Friedensethik, Stuttgart/Berlin 1990, 220f.
Feindesliebe könnte hier vor allem dazu dienen, die Gewaltspirale zu unterbrechen, da sie gerade nicht am Grundsatz der Gegenseitigkeit orientiert ist. Aus dieser Grundhaltung kann der methodistische Theologe Walter Wink mit Blick auf den Kontext der Apartheid in Südafrika festhalten: „Feindesliebe bedeutet, die eigene Unterdrückung im Prisma der Herrschaft Gottes zu sehen – nicht nur als das, was sie jetzt ist, sondern auch als das, wozu sie werden kann: völlig verwandelt dank der göttlichen Macht.“16Wink, Walter, Angesichts des Feindes. Der dritte Weg Jesu in Südafrika und anderswo, München 1988. Für Wink ist die Feindesliebe deswegen Inbegriff christlichen Glaubens. Er führt aus:
Feindesliebe bedeutet anzuerkennen, daß auch die Feinde Kinder Gottes sind. Auch der Feind oder die Feindin meinen im Recht zu sein […]. Wenn wir unsere Feinde dämonisieren, verunglimpfen oder mit dem absoluten Bösen identifizieren, dann leugnen wir, daß auch sie in sich einen Funken Gottes haben, der Veränderung immer noch möglich macht. […] Wir gehen davon aus, dass die Feinde bereits vollständig den erlösenden Händen Gottes entglitten sind.17Wink, Weg, 78.
Feindesliebe gründet für Wink also auf dem Gedanken der grundlegenden Gleichheit aller Menschen vor Gott, ohne zu verkennen, dass es Feinde geben kann. Die Chance zur Überwindung von Gewalt liegt darin auf angetane Gewalt nicht gewalttätig zu reagieren.
Nun ist aber angesichts struktureller Gewalt fraglich, wer es sich leisten kann seine Feinde zu lieben – und wer zum Feind stilisiert wird. Elsa Dorlin etwa weist in ihrem Buch Selbstverteidigung darauf hin, dass nicht alle Personen ein Recht auf Selbstverteidigung haben: Menschen, die in der Gesellschaft subalterne Positionen einnehmen, Schwarze etwa oder Frauen, wird eben nicht dasselbe Recht auf Selbstverteidigung zugestanden wie Menschen, die mit gesellschaftlicher Macht ausgestattet sind.18Vgl. Dorlin, Elsa, Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt, Berlin 2022.
Weiterführende Infos
Der Begriff der „Subalternität“ geht auf den bekannten Essay Can the Subaltern Speak? von Gayatri Chakravorty Spivak zurück, eine der Gründungsfiguren des postkolonialen Feminismus. Weiterführende Informationen finden sich hier: Art. Nandi, Miriam, in: Gender Glossar, 19.08.2018 (https://www.gender-glossar.de/post/gayatri-chakravorty-spivak), abgerufen am 06.04.2025.
Vor diesem Hintergrund scheint eine Ethik der Feindesliebe die Kluft zwischen Macht und Ohnmacht eher zu verschärfen. Anders ausgedrückt: Wenn Mächtige ihre Feinde lieben, so verzichten sie auf Gegengewalt und nehmen dafür Nachteile in Kauf. Wo aber ohnehin schon Ohnmächtige Feindesliebe und Gewaltverzicht üben, könnte sie dies ihr Leben kosten. Andererseits zeigt Judith Butler im Buch Die Macht der Gewaltlosigkeit auf, dass es durchaus politisches Kalkül sein, unliebsame Personen(gruppen) als Feind zu diffamieren.19Vgl. Butler, Judith, Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen, Berlin 2023. Hier könnte eine Ethik der Feindesliebe helfen, den Schleier einer solchen Konstruktion zu durchschauen. Eine universale ethische Anleitung im Sinne eines Ethos der Nächstenliebe ist also ethisch kaum befriedigend – vielmehr spielt die individuelle Situation und das dazugehörige Machtgefüge eine wichtige Rolle.
Um vor diesem Hintergrund auf den anfangs skizzierten Schulhofstreit zurückzukommen: sicher kann der Schulhof durchaus ein Ort sein kann, an dem die ethischen Maximen des Feindesliebegebots gelebt werden. Dann geht es darum, die Gewaltspirale zu unterbrechen und andere Wege der Konfliktlösung zu finden. Das eigentliche Ziel aber liegt darin zu überprüfen, ob nicht auch politisch besser auf Gegengewalt verzichtet werden kann und auch hier gewaltfreie Lösungen gefunden werden können. Wo jedoch einseitig ein Gewaltverzicht verordnet wird, der letztlich dazu dient, bestehende Missverhältnisse zu untermauern, ist der Verweis auf Feindesliebe verfehlt.
5. Fazit
Trotz der scheinbaren Prominenz des Themas, ist kaum zu übersehen, dass der Gedanke der Feindesliebe ein theologisches Schattendasein fristet. Während in den 1980er Jahren zahlreiche theologische Publikationen den Gedanken der Feindesliebe auch angesichts von Nuklearwaffen diskutiert haben,20Vgl. Huber, Feindschaft; Huber/Reuter, Friedensethik; Wink, Weg. so scheint das Thema seinen Weg in die ethischen Debatten des 21. Jahrhundert kaum gefunden zu haben. Dabei haben Themen wie Gewaltverzicht und Versöhnung an Aktualität nicht verloren, weder auf dem Schulhof noch in den aktuellen Kriegsgebieten. Zu diskutieren wären heute neben der Frage nach dem Geltungsbereich auch strukturelle Fragen, etwa wer zum ‚Feind‘ stilisiert wird und welcher Zusammenhang es zwischen dem Feind und dem (vermeintlich) Anderen gibt. Hier gilt: Wo allen Menschen eine grundlegende Gleichheit zugestanden wird, ist Feindesliebe ein ethisch zwar anspruchsvoller, wohl aber lohnenswerter Baustein zur Beilegung von Konflikten.