Anthropozän

Der Anfang der 2000er-Jahre geprägte Begriff des Anthropozäns entstammt ursprünglich den Naturwissenschaften. Er steht für eine wesentlich vom Menschen bestimmte geochronologische Epoche, die das Holozän abgelöst hat und in der der Mensch selbst zu einer Naturgewalt geworden ist. Der Begriff ist jedoch nicht allein auf naturwissenschaftliche und technologische Phänomene beschränkt, sondern erhält aufgrund der implizierten Mensch-Natur-Verstrickung auch eine ethische Bedeutung, die sich vor allem in Fragestellungen nach der Verantwortung des Menschen für die Natur manifestiert. Trotz verschiedener Kritiken an seiner deskriptiven und normativen Adäquatheit, und trotz seiner Ablehnung durch die International Commission on Stratigraphy im Jahr 2024, erweist sich der Begriff gerade mit Blick auf theologische, naturethische, naturästhetische und kulturphilosophische Fragestellungen als interdisziplinär anschlussfähig.

Inhaltsverzeichnis

    1. Begriffsgeschichte

    Der Begriff des Anthropozäns wurde Anfang der 2000er-Jahre von dem Meteorologen und Nobelpreisträger Paul Crutzen oes-gnd-iconwaiting... (1933–2021) geprägt.1Vgl. Crutzen, Paul J./Stoermer, Eugene F., The „Anthropocene“, in: IGBP Global Change Newsletter 41 (2000), 17–18; Crutzen, Paul J., Geology of Mankind, in: Nature 415 (2002), 23. Crutzen führt das Anthropozän als eine neue (kainós), wesentlich vom Menschen (ánthropos) geprägte geochronologische Epoche ein („Geology of Mankind“), die das jüngste Erdzeitalter des Holozäns abgelöst hat. Er lässt das Anthropozän Ende des 18. Jahrhunderts einsetzen und macht es an Funden in Eisbohrkernen fest, deren Inhalt Aufschluss über die sich seitdem verändernde Zusammensetzung der Atmosphäre geben.2Vgl. Crutzen, Geology, 23. Crutzen datiert das Anthropozän genauer auf das Jahr 1784, in welchem durch James Watts Erfindungen die Technologie der Dampfmaschine einen gewaltigen Schub erlangte und somit Wegbereiterin für die industrielle Revolution wurde, die seitdem unentwegt anhält und die ganze Welt erfasst hat. Bereits vor Crutzens Begriffsprägung wurde durch den italienischen Geologen Antonio Stoppani oes-gnd-iconwaiting... der Begriff der „anthropozoischen Ära“ und durch den französischen Paläontologen Pierre Teilhard de Chardin oes-gnd-iconwaiting... der Begriff der „Noosphäre“ eingeführt.3Vgl. Crutzen, Geology, 23.

    Ob der Begriff des Anthropozäns ein adäquater Begriff für die Diagnose und Kritik anthropogener Umwelt- und Klimaprobleme ist, hat gewichtige Auswirkungen auf die Frage, inwiefern er sich als Grundlage für eine Naturethik eignet. Der normative Gehalt des Begriffs des Anthropozäns lässt sich in etwa folgendermaßen beschreiben: Der Mensch sollte verantwortungsbewusst leben, nicht nur gegenüber seinen Mitmenschen und künftigen Generationen, sondern auch gegenüber der Natur, die er immer tiefgreifender transformiert. Aus theologisch-verantwortungsethischer Perspektive steht hier der Herrschaftsauftrag im Zentrum, wie er in Gen 1,28Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.Zur Bibelstelle formuliert ist. Hier stellt sich die Frage, wie das hebräische Wort kabasch (כָּבַשׁ), was oft mit „unterwerfen“ übersetzt wird, genau zu verstehen ist.4Vgl. für eine multiperspektivisch-theologische Analyse des Anthropozäns den Sammelband von Hastings, Thomas John/Sæther, Knut-Willy (Hrsg.), Views of Nature and Dualism. Rethinking Philosophical, Theological, and Religious Assumptions in the Anthropocene, Cham 2023.

    Weiterführende Infos WiBiLex

    Weiterführende Informationen zum Herrschaftsauftrag in Gen 1,28Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.Zur Bibelstelle finden sich hier: Riede, Peter, Art. Natur (AT). 4. Mensch und Natur, in: WiBiLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/28887/), abgerufen am 28.04.2025.

    Ferner scheint der Begriff des Anthropozäns eine Form von Anthropozentrismus zu transportieren, der nur auf den Menschen eingeschränkt ist und deswegen in der gegenwärtigen Natur- und Umweltethik mit normativ extensional erweiterten Positionen wie Bio-, Physio- und Pathozentrismus kontrastiert wird.5Vgl. für eine Übersicht Krebs, Angelika, Naturethik im Überblick, in: Dies. (Hrsg.), Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion, Frankfurt a. M. 1997, 337–379.

    Auf die begriffliche Dynamik des Anthropozäns wurde bereits aus geologischer Perspektive hingewiesen. So wurde vorgeschlagen, das Anthropozän als Übergang „von der Umwelt zur Unswelt“6Leinfelder, Reinold, Das Anthropozän – von der Umwelt zur Unswelt, 21.11.2011 (https://scilogs.spektrum.de/der-anthropozaeniker/umwelt-unswelt-anthropozaen), abgerufen am 28.04.2025. zu verstehen. So zutreffend die Beschreibung der Bewegung der Begriffe im Anthropozän auch ist, so wenig analytisch ist dabei der Begriff der Natur. Vollziehen wir die begriffliche Bewegung im Anthropozän anhand der traditionellen Unterscheidung von erster, vorgefundener Natur und zweiter, hergestellter Natur bzw. Kultur weiter nach, so erkennen wir, dass ein Hybrid entsteht, welches weder auf die erste noch auf die zweite Natur reduziert werden kann. Demnach sind die Phänomene des Anthropozäns weder unabhängig von der menschlichen Kultur zu verstehen noch gehen sie vollständig und unmittelbar darin auf. Der Mensch überformt im Anthropozän die erste Natur nicht derart, dass er sie vollständig durchdringt, transhumanistisch ersetzt oder beherrscht. Es geht im Anthropozän vielmehr um ökologische Strukturen und Verhältnisse, die durch den Menschen überformt werden, und die mittelbar wieder auf ihn zurückwirken.

    Die Natur-Kultur-Überformungen im Anthropozän sind nicht ohne weiteres zu erkennen. Sie erfolgen nicht so sehr material als vielmehr strukturell, indem erstnatürliche Phänomene, Zustände und Prozesse modifiziert, Dynamiken umgelenkt oder radikalisiert werden. Die anthropozänische Transformation nimmt zunehmend globale Ausmaße an, da die menschlichen Handlungen technologisch immer weiterreichende Folgen haben, die nicht mehr überblickt werden können. Gerade deswegen aber wird eine naturethische Klassifikation des Anthropozäns problematisch. Das Phänomen des Anthropozäns lässt sich mit herkömmlichen naturethischen Begriffen wie Anthropozentrismus, Biozentrismus, Pathozentrismus oder Physiozentrismus nicht eindeutig fassen.7Vgl. zur Kategorisierung Krebs, Naturethik, 342.

    Aufgrund seiner Nähe zum Anthropozentrismus sieht sich der Begriff des Anthropozäns zahlreichen Kritiken ausgesetzt. Die Idee des Anthropozäns sei in den Naturwissenschaften zu einer „Erlösungsreligion“8Manemann, Jürgen. Kritik des Anthropzäns. Plädoyer für eine neue Humanökologie, Bielefeld 2014, 22. geworden, insofern daran trans- und posthumanistische Hoffnungen geknüpft würden.9Vgl. Manemann, Kritik, 90. Diese Kritikpunkte sind berechtigt, jedoch betreffen sie nicht den Begriff des Anthropozäns als solchen, sondern nur eine besondere, normativ aufgeladene radikal techno-optimistische Variante, welche die erste auf die zweite Natur reduziert und damit die menschliche Naturmacht überschätzt, insofern sie dessen leiblich-natürlich gebundene Existenz ausblendet.

    Im März 2024 wurde der Begriff des Anthropozäns als neue offizielle geochronologische Epochenbezeichnung von der International Commission on Stratigraphy (ICS) abgelehnt.10Vgl. International Commission on Stratigraphy, Joint Statement by the IUGS and ICS on the Vote by the ICS Subcommission on Quaternary Stratigraphy, 21.03.2024 (https://stratigraphy.org/news/152), abgerufen am 28.04.2025. Trotz dieser Ablehnung wurde von der ICS die interdisziplinäre Bedeutung und Adäquatheit des Begriffs betont, insofern dieser als ein „invaluable descriptor of human impact on the Earth system“11ICS, Statement. anerkannt wird.

    Anthropozän Zeitalter des Menschen Wissenschaftsjahr 2023 LMU/BMBF | Harald Lesch (Urknall, Weltall und das Leben – Wissenschaftler erklären Wissenschaft), 26.12.2023.

    2. Anthropozän zwischen Natur und Kultur

    Auch wenn sich Natürlichkeit und Künstlichkeit immer schon als „Pole eines Spektrums“12Birnbacher, Dieter, Art. Natürlichkeit, in: Online Encyclopedia Philosophy of Nature / Online Lexikon Naturphilosophie, 15.08.2019 (https://www.doi.org/10.11588/oepn.2019.0.65541), abgerufen am 28.04.2025, 1–6, 1. verstehen lassen, da Künstliches immer auf Natürliches angewiesen und verwiesen ist, so legt der Begriff des Anthropozäns doch eine Neubestimmung beider Begriffe jenseits von polarer Spektralität nahe. Der Begriff des Anthropozäns unterläuft die Unterscheidung von Natur und Kultur, insofern er einen globalen Bereich bezeichnet, in welchem Natürlichkeit und Künstlichkeit unauflöslich miteinander verwoben sind.

    Bruno Latour oes-gnd-iconwaiting... versteht in diesem Sinne das Anthropozän als Anthropogeologie bzw. Geoanthropologie. Er bestimmt den Begriff des Anthropozäns als „Oxymoron aus Geologie und Menschheit“.13Latour, Bruno, Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das Neue Klimaregime. Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs, Berlin 2017, 2023. Der Begriff des Anthropozäns ist nach Latour in vielerlei Hinsicht ein kritischer Begriff. Zum einen ist seine Herkunft nicht geisteswissenschaftlich, sondern naturwissenschaftlich-empirisch oder gar „naturalistisch“. Als ein solcher hybrider Begriff übertrifft er selbst die anthropozentrischsten Thesen der Geisteswissenschaften: „Kein postmoderner Philosoph, Anthropologe, liberaler Theologe oder politischer Denker hätte es gewagt, den Einfluß des Menschen auf dieselbe Stufenleiter zu stellen wie den der Flüsse, Vulkane, der Erosion oder der Biochemie.“14Latour, Gaia, 203. Der Begriff des Anthropozäns lässt sich also auf ganz verschiedene Nicht-Naturwissenschaften bzw. Geistes- und Sozialwissenschaften übertragen. Er durchkreuzt postmoderne Thesen vom „Ende des Menschen“, indem er dessen Omnipräsenz in der Natur, dem vermeintlichen Gegenstück zur Kultur, aufzeigt. Der Begriff des Anthropozäns markiert insofern nach Latour „den radikalsten Schlußpunkt hinter den Anthropozentrismus“15Latour, Gaia, 203. und eigne sich dazu, „zum relevantesten philosophischen, religiösen, anthropologischen und […] politischen Konzept bei der Abkehr von Begriffen wie ‚MODERNE‘ und ‚Modernität‘ zu werden“.16Latour, Gaia, 203.

    3. Ethik des Anthropozäns

    Unter den Bedingungen des Anthropozäns wird unser Verständnis von Handlung und (moralischer) Zurechenbarkeit problematisch, denn der Begriff suggeriert mit der Menschheit ein Kollektivsubjekt, hinter dem die Einzelhandlungen an Gewicht verlieren, obwohl sie dieses in ihrer Summe gerade konstituieren. Durch die veränderte, globale Handlungskausalität menschlicher Ursachen wird aus naturethischer Perspektive die Unterscheidung zwischen raumzeitlich lokalisierbaren Umweltschäden und globalen asynchronen Klimaschäden relevant: Während Umweltschäden unsere unmittelbare Umgebung betreffen und insofern mehr oder weniger direkt verursacht und erfahren bzw. erlitten werden können, sind Klimaschäden raumzeitlich vermittelt, und werden dadurch epistemisch problematisch.17Vgl. zu dieser Unterscheidung Birnbacher, Dieter, Klimaethik. Eine Einführung, Ditzingen 2022, 9ff. Eine unmittelbare epistemische Zugänglichkeit zu anthropogenen Naturschäden ist jedoch eine wichtige Voraussetzung, um alternative Handlungsweisen identifizieren und fordern zu können.

    Insbesondere naturethische Fragen rücken im Anthropozän-Begriff ins Zentrum. Weder besitzt die Natur einen Wert an sich (dies würde in einen naturalistischen Fehlschluss führen), noch besitzt sie diesen Wert nur durch den Menschen (dies wäre ein unkritischer Anthropozentrismus). Eine Ethik des Anthropozäns muss vielmehr zeigen, dass und wie natürliche Normativität durch das Natur- und zugleich das Selbstverhältnis des Menschen gedacht und begründet werden kann.18Vgl. Noller, Jörg, Ethik des Anthropozäns. Überlegungen zur dritten Natur, Basel 2023.

    Das Naturverhältnis im Selbstverhältnis zeigt sich in nuce bereits am Verhältnis des Menschen zu seiner eigenen leiblichen Natur, die er medial transformiert, ohne sie je vollständig technologisch ersetzen zu können. Der Leib, verstanden als erstes natürliches Medium des Menschen besitzt jene Zwischenstellung zwischen erster und zweiter Natur, wie wir sie im Anthropozän vorfinden. Er ist uns unmittelbar gegeben, während uns das Anthropozän vielfach vermittelt ist. Insofern erweist sich das leibliche Selbstverhältnis und Selbstverständnis des Menschen der Schlüssel zum komplexeren anthropozänischen Naturverhältnis. Denn in jedem individuellen Menschen ist bereits ein rudimentäres anthropozänisches Verhältnis realisiert, das im Anthropozän nur global und allgemein ausgedehnt und vermittelt ist. Dies zeigt, dass die Problematik des Anthropozäns im Grunde nicht nur die neuere technologische Entwicklung begrifft, sondern eine anthropologische Grunddimension von Medialität darstellt, die angesichts der neueren Diskussion um die Klimaethik erst voll zur Bedeutung kommt und uns existenziell betrifft.

    Einzelnachweise

    • 1
      Vgl. Crutzen, Paul J./Stoermer, Eugene F., The „Anthropocene“, in: IGBP Global Change Newsletter 41 (2000), 17–18; Crutzen, Paul J., Geology of Mankind, in: Nature 415 (2002), 23.
    • 2
      Vgl. Crutzen, Geology, 23.
    • 3
      Vgl. Crutzen, Geology, 23.
    • 4
      Vgl. für eine multiperspektivisch-theologische Analyse des Anthropozäns den Sammelband von Hastings, Thomas John/Sæther, Knut-Willy (Hrsg.), Views of Nature and Dualism. Rethinking Philosophical, Theological, and Religious Assumptions in the Anthropocene, Cham 2023.
    • 5
      Vgl. für eine Übersicht Krebs, Angelika, Naturethik im Überblick, in: Dies. (Hrsg.), Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion, Frankfurt a. M. 1997, 337–379.
    • 6
      Leinfelder, Reinold, Das Anthropozän – von der Umwelt zur Unswelt, 21.11.2011 (https://scilogs.spektrum.de/der-anthropozaeniker/umwelt-unswelt-anthropozaen), abgerufen am 28.04.2025.
    • 7
      Vgl. zur Kategorisierung Krebs, Naturethik, 342.
    • 8
      Manemann, Jürgen. Kritik des Anthropzäns. Plädoyer für eine neue Humanökologie, Bielefeld 2014, 22.
    • 9
      Vgl. Manemann, Kritik, 90.
    • 10
      Vgl. International Commission on Stratigraphy, Joint Statement by the IUGS and ICS on the Vote by the ICS Subcommission on Quaternary Stratigraphy, 21.03.2024 (https://stratigraphy.org/news/152), abgerufen am 28.04.2025.
    • 11
      ICS, Statement.
    • 12
      Birnbacher, Dieter, Art. Natürlichkeit, in: Online Encyclopedia Philosophy of Nature / Online Lexikon Naturphilosophie, 15.08.2019 (https://www.doi.org/10.11588/oepn.2019.0.65541), abgerufen am 28.04.2025, 1–6, 1.
    • 13
      Latour, Bruno, Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das Neue Klimaregime. Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs, Berlin 2017, 2023.
    • 14
      Latour, Gaia, 203.
    • 15
      Latour, Gaia, 203.
    • 16
      Latour, Gaia, 203.
    • 17
      Vgl. zu dieser Unterscheidung Birnbacher, Dieter, Klimaethik. Eine Einführung, Ditzingen 2022, 9ff.
    • 18
      Vgl. Noller, Jörg, Ethik des Anthropozäns. Überlegungen zur dritten Natur, Basel 2023.

    Zitierweise

    Noller, Jörg: „Anthropozän“, Version 1.0, in: Onlinelexikon Systematische Theologie, 1. Mai 2025. DOI: https://doi.org/10.15496/publikation-106119

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