1. Technologie als Umfeld des Theologisierens
Die Bedeutung der Technologie für die Theologie lässt sich anhand der Tatsache verdeutlichen, dass seit der Aufklärung ein Großteil der systematischen Theologie als Reaktion auf die Technowissenschaft und ihre vermeintlich säkularisierenden Auswirkungen betrachtet werden kann. Die digitale Technologie kann sowohl als kontinuierlich als auch als diskontinuierlich zur modernen Technologie betrachtet werden. Die Tech-Industrie wird immer noch von Effizienz, Produktivität und Reproduzierbarkeit angetrieben – Logiken, die ein Erbe der Aufklärung und der industriellen Revolution sind. Dennoch können unterschiedliche gesellschaftliche Narrative nebeneinander existieren. Daher kann man die digitale Revolution auch eher mit der Postmoderne als mit der Moderne korrelieren. Graham Ward argumentiert, dass der Cyberspace durch die Schaffung einer Art paralleler Realität den säkularisierenden „cycle of imminence“ durchbricht, der im Rahmen einer modernen wissenschaftlichen Weltsicht konstruiert wurde. Das Internet macht das Transzendente vorstellbarer und trägt zu einem offeneren Milieu bei, in dem sich Theolog*innen engagieren können.1Vgl. Ward, Graham, Introduction, or, a Guide to Theological Thinking in Cyberspace, in: Ward, Graham (Hrsg.), The Postmodern God. A Theological Reader, Oxford 1997, XV–XLVII. Dies würde darauf hindeuten, dass sich die Bedingungen, unter denen wir Theologie betreiben, durch die Digitalisierung verändern.
Eine weitere Möglichkeit, über die Beziehung zwischen Theologie und digitaler Technologie nachzudenken, ist die Perspektive der Medienwissenschaft. Hier ist der Einfluss von Walter Ong und Marshall McLuhan
deutlich zu spüren. Dennis Ford
erforscht den Einfluss der Kultur der sozialen Medien auf die populäre Theologie. Er sinniert darüber, dass der „digital God“ in vielen verschiedenen Formen auftritt, immer verfügbar, immer präsent und „customizable“ ist.2Ford, Dennis, A Theology for a Mediated God. How New Media Shapes Our Notions About Divinity, New York 2016, 94f. Anpassbar deshalb, weil der Einzelne online jede Theologie finden kann, die mit seiner Einstellung übereinstimmt. Ein weiteres Beispiel ist Paul Soukup
, dem zufolge eine digitale Medienökologie der Theologie „a new freedom of expression“3Soukup, Paul A., A Media Ecology of Theology, Waco 2022, 196. bietet, da theologische Diskurse globalisiert und aus dem Griff der akademischen und religiösen Institutionen befreit werden. Peter Horsfield
argumentiert, dass akademische Theolog*innen in einem solchen Kontext lernen müssen, durch kreative und humorvolle Kommunikation zu konkurrieren, oder sie riskieren, irrelevant zu werden.4Vgl. Horsfield, Peter, A Moderate Diversity of Books? The Challenge of New Media to the Practice of Christian Theology, in: Cheong, Pauline Hope/Fischer-Nielsen, Peter/Gelfgren, Stefan (Hrsg.), Digital Religion, Social Media and Culture. Perspectives, Practices and Futures, New York 2012, 243–258.
Ein weiterer Anknüpfungspunkt ist die Linguistik und damit die Sprache in der digitalen Kultur. Wenn die Sprache selbst als Technologie aufgefasst werden kann (d. h. als ein Werkzeug, das die menschlichen Fähigkeiten erweitert), dann folgt daraus, dass die systematische Theologie unvermeidlich technologisch ist. Daher besteht eine der Aufgaben der digitalen Theologie darin, die digitale Kultur auf Sprache und Metaphern zu untersuchen, die das Verständnis von Gott verbessern. Einige Beispiele dafür werden wir in der folgenden Diskussion sehen. Interessant ist die Beobachtung, dass die digitale Kultur bereits von theologischer Sprache durchdrungen ist und dem Internet oft göttliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Dies geht so weit, dass Eric Steinhart den Begriff „digitale Theologie“ verwendet, um die religiöse Dimension des technologischen Diskurses zu bezeichnen.5Vgl. Steinhart, Eric, Digital Theology. Is the Resurrection Virtual?, in: Luck, Morgan (Hrsg.), Philosophical Explorations of New and Alternative Religious Movements, London 2012, 133–152. Dies verdeutlicht, dass die theologische Sprache zu einem Reservoir für die Deutung der digitalen Kultur wird.
Die Digitalität als Kontext unseres Lebens kann daher im Theologisieren heute nicht ausgeblendet werden. Eine primäre Aufgabe der digitalen Theologie (DT) liegt daher in der „reflexive theologically-resourced engagement with digitality“.6Phillips, Peter M./Schiefelbein-Guerrero, Kyle/Kurlberg, Jonas, Defining Digital Theology. Digital Humanities, Digital Religion and the Particular Work of the Codec Research Centre and Network, in: Open Theology 5/1 (2019), 29–43, 39. Von dieser Prämisse aus können wir beginnen, das Verhältnis von DT und Systematischer Theologie zu reflektieren und aufzuzeigen, wie christliche Lehren innerhalb der digitalen Kultur reinterpretiert werden.
2. Christliche Dogmen in der digitalen Kultur
Aus der Literatur geht hervor, dass die Digitalität zur Reinterpretation einiger Lehren mehr genutzt wird als für andere Dogmen. Der Lehre von Gott wurde in der digitalen Kultur bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Dies ist überraschend angesichts der göttlichen Attribute, die dem Internet häufig zugeschrieben werden. Eine interessante Ausnahme ist Hanna Reichels Reflexion von Allmacht und Allgegenwart als heuristische Linsen zur Untersuchung des Digitalen. Reichel demonstriert dessen Bedeutung, indem sie vollkommenes göttliches Wissen mit datengestütztem Wissen kontrastiert, welches im Vergleich reduktionistisch und vorurteilsgeladen ist.7Vgl. Reichel, Hanna, Worldmaking Knowledge. What the Doctrine of Omniscience Can Help Us Understand About Digitization, in: Cursor_ Zeitschrift Für Explorative Theologie 3 (2019), URL: https://cursor.pubpub.org/pub/reichel-omniscience-i/release/6; abgerufen am 08.03.2025.
Philip Hefners Anthropologie der „geschaffenen Mitschöpfer“ (created co-creators) bezieht sich ebenfalls auf die Gotteslehre.8Vgl. Hefner, Philip, The Human Factor. Evolution, Culture, and Religion, Minneapolis 1993. Die Konzeptualisierung des Menschen als Mitschöpfer (vgl. Art. Schöpfung) wirft Fragen nach dem Verhältnis zwischen der menschlichen Kreativität und derjenigen Gottes auf, ebenso wie nach der Lehre der creatio ex nihilo und dem Wesen Gottes. Die Rede von den „geschaffenen Mitschöpfern“ ist in der DT im Zusammenhang mit menschlicher Kreativität und Anthropologie viel rezipiert. In einer kürzlich erschienenen Monographie vertritt Ximian Xu
beispielsweise die Ansicht, dass die Künstliche Intelligenz (KI) als Schöpfung von Geschöpfen verstanden werden kann. Diese bilden somit Gott ab und spiegeln in gewisser Weise das Göttliche wider, was die Grundlage für den ethischen Umgang mit dieser Technologie bildet.9Vgl. Xu, Ximian, The Digitalised Image of God. Artificial Intelligence, Liturgy, and Ethics, Abingdon 2024.
Die theologische Anthropologie ist aus guten Gründen ein besonders fruchtbarer Bereich der Auseinandersetzung und eine wichtige Quelle für ethische Debatten. Als Ergebnis der menschlichen Vorstellungskraft, Kultur und Kreativität sind Technologien eng mit der menschlichen Identität und dem Selbstverständnis verbunden. Diese Verflechtung wird durch die Entwicklung von KI-Technologien, die die menschlichen Fähigkeiten widerspiegeln und erweitern sollen, noch verstärkt. Die Theologie der Gottebenbildlichkeit wurde oft als Polemik eingesetzt, um die Einzigartigkeit und Würde des Menschen angesichts der als entmenschlichend empfundenen Bedrohung durch trans- und posthumanistische Diskurse und KI zu verteidigen.10Vgl. Waters, Brent, From Human to Posthuman. Christian Theology and Technology in a Postmodern World, Aldershot 2006. Noreen Herzfeld bevorzugt demgegenüber einen relationalen Ansatz für die imago Dei und kritisiert die Betonung der menschlichen Kognition, die bei KI-Entwicklungen üblicherweise angenommen wird, als anthropologisch reduktionistisch.11Vgl. Herzfeld, Noreen, In Our Image. Artificial Intelligence and the Human Spirit, Minneapolis 2002. Andere haben vorgeschlagen, theologische Anthropologien im Lichte der technologischen Entwicklungen zu überarbeiten. Da KI-Anwendungen einige menschliche kognitive Fähigkeiten ersetzen, argumentiert Marius Dorobantu
, dass eine theologische Anthropologie der menschlichen Einzigartigkeit fokussiert auf menschliche Rationalität nicht länger aufrechterhalten werden kann. Stattdessen verortet Dorobantu die Einzigartigkeit des Menschen gegenüber der Maschine in der „kognitiven Vulnerabilität“, durch die Liebe und Schönheit möglich werden.12Vgl. Dorobantu, Marius, Cognitive Vulnerability, Artificial Intelligence, and the Image of God in Humans, in: Journal of Disability & Religion 25 (2021), 27–40. Scott Midson
wiederum lehnt Theologien der menschlichen Einzigartigkeit als inhärent unterdrückerisch ab. Angesichts der ausgrenzenden funktionalistischen und substanziellen Vorstellungen von der imago Dei fokussiert Midson die Cyborg-Figur als Metapher und verortet sie in „kritischer Relationalität“ zur Beschreibung der Interdependenz zwischen Menschen, Schöpfung, Geschaffenem und Technologie.13Vgl. Midson, Scott A., Cyborg Theology. Humans, Technology and God, London 2018.
Theologien der menschlichen Natur sind historisch nicht nur in der Schöpfungslehre, sondern auch in der Christologie und der Inkarnation verwurzelt. Hier finden sich Auseinandersetzungen mit der Figur des Cyborg, um die menschliche und göttliche Natur Christi neu zu reflektieren. Indem Anne Kull Christus als cyborgisches „Mischwesen“ umgestaltet, versucht sie, essentialisierende Kategorisierungen des Menschen zu destabilisieren. Der Cyborg-Christus ist nach Kull eine emanzipatorische Figur, die die menschliche Wahlfreiheit fördert.14Vgl. Kull, Anne, Cyborg Embodiment and the Incarnation, in: Currents in Theology and Mission 28 3/4 (2001), 279–284. Die Hybridität des Cyborgs eröffnet den Streit des chalkedonischen Glaubensbekenntnisses um die zwei Naturen Christi neu, indem sie deren hypostatische Vereinigung in Frage stellt. Für Jeanine Thweatt-Bates durchbricht der Cyborg auf positive Weise die Sackgasse von Chalkedon, zwischen zwei ontologischen Naturen und zwischen Alexandria und Antiochia. Der Cyborg bewegt sich über diese antiken Streitigkeiten hin zu einer „Hyperrelationalität“ (hyper-relationality), in der die Beziehung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen und nicht ihre Substanz in den Vordergrund tritt.15Vgl. Thweatt-Bates, Jeanine, Cyborg Selves. A Theological Anthropology of the Posthuman, Abingdon 2016, 186f.
Gespräche über die Inkarnation oder Inkarnationstheologien eignen sich für einen anderen wichtigen lehrmäßigen Schwerpunkt der DT, die Ekklesiologie. Dieser Schwerpunkt ergibt sich aus der Notwendigkeit, Erfahrungen mit gegenwärtigen digitalen ekklesialen Praktiken theologisch zu reflektieren. Gemeinschaft, Partizipation, Sakramentalität, oder auch Verkörperung im Gottesdienst, sowie das Verhältnis der lokalen zur universalen Kirche treten in den Vordergrund. Die Art und Weise, wie solche Fragen beantwortet werden, steht in der Regel im Einklang mit bestehenden kirchlichen Verbindungen16Vgl. Chow, Alexander/Kurlberg, Jonas, Two or Three Gathered Online. Asian and European Responses to Covid-19 and the Digital Church, in: Studies in World Christianity 26/3 (2020), 298–318. und diese haben wiederum Einfluss darauf, wie die Technologie genutzt und umgesetzt wird. So finden sich wenige Beispiele für ekklesiologische Innovationen. Zu den Ausnahmen gehört die Verwendung digitaler Begriffe wie „Netz(werk)“17Vgl. Campbell, Heidi/Garner, Stephen, Networked Theology. Negotiating Faith in Digital Culture, Grand Rapids 2016. und „Hybridität“18Vgl. Phillips, Peter, Hybrid Church. Blending Online and Offline Community, Cambridge 2020., um die Struktur und das Wesen der Kirche in digitalen Gesellschaften zu untersuchen.
Schließlich sind gesellschaftliche Diskurse über Technologie oft zukunftsorientiert, und technologische Innovationen sind mit Hoffnungen verbunden. Dies erklärt die umfangreichen Überlegungen zur Eschatologie in der DT. Die heilsbringende Hoffnung auf technologischen Fortschritt wird hier der christlichen Hoffnung auf eine neue Schöpfung gegenübergestellt. Ron Cole-Turner beispielsweise kontrastiert die posthumanistische Vision einer körperlosen virtuellen Unsterblichkeit mit der christlichen Hoffnung auf die leibliche Auferstehung.19Vgl. Cole-Turner, Ronald, Introduction. The Transhumanist Challenge, in: ders. (Hrsg.), Transhumanism and Transcendence. Christian Hope in an Age of Technological Enhancement, Washington 2011, 1–18. In Michael Paulus’ Abhandlungen über apokalyptische Vorstellungen in KI-Erzählungen vertritt er die Auffassung, dass ein „babylonisches“ KI-Imperium durch eine Imagination von Liebe, symbolisiert durch das neue Jerusalem, untergraben werden kann.20Vgl. Paulus, Michael J. Jr., Articifical Intelligence and the Apocalyptic Imagination, Eugene 2023, 138–141. Insgesamt besteht kein Konsens in der Theologie über das Eschaton und welche Rolle die Technologie dabei spielt. Als Ausblick: In Teilhard de Chardins
eschatologischer Vision der „Noosphäre“, einem Zustand universellen Bewusstseins, bilden Computernetzwerke einen Ausreißer und fördern die evolutionären Prozesse auf dem Weg zu diesem Eschaton.21Vgl. Teilhard de Chardin, Pierre, The Future of Man, New York 1964, 162. Debatten wie diese scheinen abstrakt zu sein, aber wie wir uns die Zukunft vorstellen und was wir erhoffen, prägt unser Handeln in der Gegenwart, individuell und kollektiv.
3. Fazit
Dieser kurze Überblick hat einige der wichtigsten Überlegungen, Themen und dogmatischen Debatten im Bereich der digitalen Kommunikation aufgezeigt. Diese Beispiele verdeutlichen nicht nur die Notwendigkeit einer eingehenden Reflexion über die Auswirkungen der Digitalität, sondern auch das theologische Potenzial einer solchen Reflexion. Hinzuweisen ist darauf, dass die systematische theologische Auseinandersetzung mit der Digitalität nicht systematisch ist. Es ist vielmehr unvollständig und von bemerkenswerten Lücken in der Literatur geprägt. So fehlen zum Beispiel die Pneumatologie22Vgl. Cartledge, Mark A., Virtual Mediation of the Spirit. Prospects for Digital Pentecostalism, in: PentecoStudies 21 (2022), 30–50. und die Schöpfungslehre23Vgl. Chow, Alexander, Creation, in: ders./Kurlberg, Jonas (Hrsg.), Oxford Handbook of Digital Theology, Oxford 2024. zwar nicht völlig, aber es fehlt an einer nachhaltigen Reflexion. Auch methodische Entwicklungen sind zu berücksichtigen. Bislang war die Anwendung von Methoden der Digital Humanities meist auf die Bibelwissenschaften beschränkt.24Für eine Übersicht vgl. Dörpinghaus, Jens, Digital Theology. New Perspectives on Interdisciplinary Research between the Humanities and Theology, in: Interdisciplinary Journal of Research on Religion 18/2 (2022), 1–17. Mit dem Aufkommen der künstlichen Intelligenz bietet sich erneut die Gelegenheit, aus dem tiefen Brunnen der systematischen Theologie zu schöpfen, um Weisheit für digitale Gesellschaften anzubieten. Es gibt also reichlich Arbeit für (digitale) Theolog*innen.