1. Einleitung
Leiblichkeit ist im Kontext biblischer Theologie von zentraler anthropologischer Bedeutung. Sie ist fundamentaler Modus geschöpflichen Lebens und zugleich Erfahrungsmodus von Individualität und Endlichkeit. Sie betrifft aber auch die Rede von Gott (vgl. Art. Gotteslehre) und insbesondere die Menschwerdung Christi (vgl. Art. Christologie). Dass der göttliche Logos selbst Fleisch wurde und eine verletzliche und vergängliche Körpergestalt annahm (Joh 1,14Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.Zur Bibelstelle), verleiht der christlichen Wertschätzung des Leibes bzw. des Körpers eine christologische Begründung.
Die in der Geschichte der Theologie und der Kirche anzutreffende Körper- und Leibvergessenheit, vollends die z. T. ausgesprochene Leibfeindlichkeit stehen in eigentümlichem Kontrast zur Vielfalt und zur Fülle positiver biblischer Thematisierungen. Dieser Befund hat unterschiedliche kontextuell erklärbare Gründe. Philosophisch und religionsphilosophisch einflussreich nicht nur für die Begriffsbestimmung des Leibes bzw. des Körpers, sondern auch für die Begriffsbestimmung von „Seele“ war es, dass sich diese Begriffsbestimmungen innerhalb eines Horizonts vollzogen, der vom sog. „Leib-Seele-Problem“ geprägt war. Die dualistische Abwertung des Leibes bzw. des Körpers vollzog sich so im Gegenüber zur Hochschätzung einer leiblosen, intellektivmentalen Seele. Die Mentalisierung der Seele wiederum zementierte eine Instrumentalisierung des Körpers: Die Seele wurde im Geist des Menschen gesucht, welcher dem Körper des Menschen nicht nur gegenübersteht, sondern v. a. für dessen Beherrschung und Leitung zuständig sein soll. Die Verbindung mit der spätestens seit R. Descartes wirkmächtig gewordenen anatomischen Vorstellung des Körpers als Maschine und die Anschlussmöglichkeiten an das moderne Computermodell des Geistes führten diese Entwicklung fort. Aus dem Blick geriet dabei, dass anders als das Wort „Körper“ (lat. corpus, engl. body) das Wort „Leib“ sich entsprechend seiner etymologischen Verwandtschaft mit „Leben“ von vorneherein auf einen individuell-lebendigen und insofern beseelten Körper bezieht.
In neuerer Zeit hat die philosophische Richtung der Leibphänomenologie, die von einer entsprechenden Differenzierung von Leib und Körper ausgeht, in der Theologie vielfach Aufnahme gefunden (2.5). Auch der Anschluss an die interdisziplinär breitgefächerte Bewegung der Verkörperung (engl. embodiment) wird gesucht. Solche Anschlussmöglichkeiten verleihen auch der theologischen Reflexion neuen Schwung; sie können aber das Erfordernis einer eigenen theologischen Wiedergewinnung von Leiblichkeit und Körperlichkeit nicht zum Verschwinden bringen. Angesichts der Körperbezogenheit der spätmodernen Gesellschaften und dem ebenso körperbezogenen Selbstverwirklichungsverlangen der spätmodernen Subjekte (Stichwort: Körperkult) sowie angesichts dem ‚corporeal turn‘ in vielen Wissenschaftsbereichen ist es höchst bemerkenswert, dass der Körper bzw. der Leib und dessen Transformation für den christlichen Glauben von zentraler Bedeutung sind: Nicht anders als am und durch den Körper bzw. den Leib sollen die Erneuerung und die Erlösung Gestalt gewinnen (3.3). Unter dieser Voraussetzung lässt sich eine christliche Ethik des Leibseins als „Gottesdienst der Leiblichkeit“ verstehbar machen und ihr kritisches Potential sowohl gegenüber moderner Körperfixiertheit als auch gegenüber religiöser Körperabwertung verdeutlichen.
2. Zur Problemgeschichte
2.1. Leib-Seele-Problem
Philosophische und auch theologische Bestimmungen des Leibes bzw. des Körpers vollzogen sich seit der Antike im Kontext des sog. Leib-Seele-Problems. Prägend waren hierfür mehrere Modelle, die allesamt versuchten, die Verhältnisbestimmung von Körper (Physischem) und Geist (Mentalem) zu leisten.1Zum Überblick vgl. Beckermann, Ansgar, Das Leib-Seele-Problem. Eine Einführung in die Philosophie des Geistes, Stuttgart 22011. Sie bewegen sich im Grunde genommen zwischen einem Dualismus, wie er klassisch v. a. von Plato , dann von R. Descartes vertreten wurde, und verschiedenen Spielarten des Monismus, die nicht zuletzt im Horizont moderner Neurowissenschaften sich großer Beliebtheit erfreuen. Der Substanzdualismus begreift Physisches (Körper) und Mentales (Geist) als zwei eigenständige Substanzen, muss dann aber die Wechselwirkung zwischen beiden erklären. Denn wie sollte Geistiges auf Physisches wirken können? Der Monismus, der Mentales und Physisches auf eine Art Substanz zurückführt, hat dieses Problem nicht, tendiert aber dazu, der Lebensvielfalt des Mentalen eine eigene Existenz abzusprechen (reduktiver oder eliminativer Naturalismus). Es gibt aber auch nichtreduktive Modelle des Monismus, in welchen von der einen Dimension eines physischen Körpers ausgehend ein Dualismus der Eigenschaften oder eine Doppelaspekthaftigkeit vertreten wird. Bereits der aristotelische Hylemorphismus begriff das Verhältnis von Leib und Seele in Analogie zum Verhältnis von Stoff (griech. Hyle, lat. materia) und Form (griech. morphe, lat. forma). Mit seiner Fassung der Seele als Form des Lebewesens ist er von vornherein auf die zentrale Frage fokussiert, was einen Körper zu einem lebendigen und individuellen Leib macht.
Im Dialog mit den Neurowissenschaften wird versucht, das hylemorphistische Modell plausibel zu machen und dementsprechend das Mentale (Seele / Geist) als gestaltbildendes und organisierendes Vermögen des ganzen Organismus zu begreifen.2Vgl. Gasser, Georg/Quitterer, Josef (Hrsg.), Die Aktualität des Seelenbegriffs. Interdisziplinäre Zugänge, Paderborn 2010. Diese Versuche können sich in der Nähe von Emergenz-Modellen bewegen.3Zur differenzierten Betrachtung vgl. Fuchs, Thomas, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart 52017, 229–255. Dass „Seele“ die Lebendigkeit bzw. das lebendige Individuum als Ganzes bezeichnet und keine für sich bestehende (Teil-) Größe, betonte in Aufnahme der Schöpfungserzählung Gen 2[1] So wurden vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer. [2] Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. [3] Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte.[4] Dies ist die Geschichte von Himmel und Erde, da sie geschaffen wurden. Es war zu der Zeit, da Gott der Herr Erde und Himmel machte. [5] Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen. Denn Gott der Herr hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; [6] aber ein Strom stieg aus der Erde empor und tränkte alles Land. [7] Da machte Gott der Herr den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.[8] Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. [9] Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.[10] Und es geht aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilt sich von da in vier Hauptarme. [11] Der erste heißt Pischon, der fließt um das ganze Land Hawila und dort findet man Gold; [12] und das Gold des Landes ist kostbar. Auch findet man da Bedolachharz und den Edelstein Schoham. [13] Der zweite Strom heißt Gihon, der fließt um das ganze Land Kusch. [14] Der dritte Strom heißt Tigris, der fließt östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der Euphrat.[15] Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. [16] Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, [17] aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben.[18] Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. [19] Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. [20] Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen wurde keine Hilfe gefunden, die ihm entsprach.[21] Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. [22] Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. [23] Da sprach der Mensch: Die ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist. [24] Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch. [25] Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht.Zur Bibelstelle auch K. Barth . Der von ihm vertretene „konkrete Monismus“ besteht darin, die Seele als das Belebende und den Leib als das Belebte der einen menschlichen Natur zu verstehen.4Vgl. Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik Bd. III/2. Die Lehre von der Schöpfung. Das Geschöpf, Zollikon-Zürich 1948, 471. Der Leib unterscheidet sich vom Körper dadurch, dass er beseelt und also belebt ist; damit aber könne er als freies und seiner selbst bewusstes Subjekt seinen organischen Funktionen gegenübertreten.
Weiterführende Infos
Der Theologe und Neurospychologe Christian Hoppe erklärt in seinem letzten Beitrag, warum naturwissenschaftliche und theologische Forschung doch nicht in den Dialog gehen können – nachdem er über zehn Jahre lang versucht hat, diesen bei sciLogs von spektrum.de zu befördern.
2.2. Leib-Sein als Aufgabe: Luther
Für Luther gehört Leiblichkeit zur geschöpflichen Gegebenheit des (äußeren) Menschen, für die Sorge zu tragen ist. Neben der Aufgabe durch den Leib (leibliche Verantwortungsübernahme für andere) sieht er eine Aufgabe am Leib (Verantwortung für die eigene leibliche Existenz). Paradigmatisch bearbeitet er den Konflikt zwischen beiden Verantwortungsbereichen in seiner Pestschrift: „Ob man vom Sterben fliehen möge“ (1527).5WA 23, 338–372. Er skizziert drei Verantwortungsrelationen, die hierarchisch aufeinander bezogen werden: Verantwortung gegenüber Gott, Verantwortung gegenüber den Nächsten, Verantwortung für den eigenen Leib. Während der Teufel zu einer lediglich ichbezogenen Erhaltung des eigenen Leibes verführen wolle, gelte es die Leibverantwortung an die Verantwortung gegenüber Gott und gegenüber dem Nächsten zurückzubinden. Das könnte konkret bedeuten, in einer Stadt, in der die Pest wütet, auch auszuharren. Die übergeordnete Verantwortung gegenüber Gott steht ihrerseits nicht isoliert für sich: Wer meint, für seine leibliche Gesundheit keine Verantwortung übernehmen zu müssen, begeht letztlich eine Versuchung Gottes.
2.3. Neuzeitliche Leibvergessenheit
Die neuzeitliche Form protestantischer Leibvergessenheit steht unter dem Einfluss eines nachkantianischen Wissenschaftsideals und einer mit der Ausdifferenzierung der Wissenschaften einhergehenden Zuständigkeitsbegrenzung der Theologie. Um Religion zur Konstitutionsbedingung von menschlicher Subjektivität zu erklären, rekurrierte F. Schleiermacher auf ein Gefühl im Sinne eines unmittelbaren Selbstbewusstseins und grenzte dieses von der leiblichen Sinnlichkeit ab. Die Wende zur Subjektivität gestaltete sich zum großen Teil als Wende zu einer Religion der Innerlichkeit. Im Kulturprotestantismus A. v. Harnacks
konnte das christliche Wesen in der Formel „Gott und die Seele“ gesucht werden.6Harnack, Adolf von, Das Wesen des Christentums (1900), hg. und kommentiert von T. Rendtorff, Gütersloh 1999, 87.102f. Für die Leiblichkeit bzw. Körperlichkeit war bereits eine Medizin zuständig geworden, die sich seit dem 17. Jahrhundert einer mechanistisch-kausalen Betrachtung verschrieben hatte. Der Berliner Mediziner R. Virchow
verteidigte die naturwissenschaftlich-objektivierende Auffassung des Menschen im 19. Jahrhundert mit dem Hinweis, sie vertrage sich gut mit der in Gen 2 [1] So wurden vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer. [2] Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. [3] Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte.[4] Dies ist die Geschichte von Himmel und Erde, da sie geschaffen wurden. Es war zu der Zeit, da Gott der Herr Erde und Himmel machte. [5] Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen. Denn Gott der Herr hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; [6] aber ein Strom stieg aus der Erde empor und tränkte alles Land. [7] Da machte Gott der Herr den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.[8] Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. [9] Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.[10] Und es geht aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilt sich von da in vier Hauptarme. [11] Der erste heißt Pischon, der fließt um das ganze Land Hawila und dort findet man Gold; [12] und das Gold des Landes ist kostbar. Auch findet man da Bedolachharz und den Edelstein Schoham. [13] Der zweite Strom heißt Gihon, der fließt um das ganze Land Kusch. [14] Der dritte Strom heißt Tigris, der fließt östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der Euphrat.[15] Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. [16] Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, [17] aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben.[18] Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. [19] Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. [20] Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen wurde keine Hilfe gefunden, die ihm entsprach.[21] Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. [22] Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. [23] Da sprach der Mensch: Die ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist. [24] Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch. [25] Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht.Zur Bibelstellegeschilderten Schöpfung.
2.4. Wiedergewinnungsversuche
Im 20. Jahrhundert überzeugte eine solche Trennung der Zuständigkeiten nicht mehr. Es kam zu unterschiedlichen Versuchen der Wiedergewinnung der Leiblichkeit von theologischer und philosophischer Seite. Von Seiten der Medizin mahnte der Mitbegründer der sog. Heidelberger Schule, der Internist und Medizinphilosoph V. von Weizsäcker die Theologie, sie solle sich dem Thema der Verwandlung der Leiblichkeit stellen und im Übrigen beachten, dass der Gottesglaube den Bedingungen der Leiblichkeit und ihrer psychophysischen Verletzbarkeit nicht entnommen ist. Er selbst widmete sich im Gegenzug einer „Einführung des Subjekts in die Medizin“.7Weizsäcker, Viktor von, Der Arzt und der Kranke (1926). Gesammelte Schriften 5, Frankfurt a. M. 1987, 9–26; ders., Grundfragen medizinischer Anthropologie (1948). Gesammelte Schriften 7, Frankfurt a. M. 1987, 255–282.
Schon 1930 trat der lutherische Theologie W. Stählin in einer weitgehend vergessenen Schrift mit dem bezeichnenden Titel „Vom Sinn des Leibes“ dafür ein, dass der Sinn des Lebens nirgends anders Gestalt gewinne als am und durch den Leib. Zentrales Anliegen war ihm das Wiedergewinnen eines leiblichen Sinns angesichts einer „Sinnverirrung“, die er schon damals in einer Instrumentalisierung des Körpers vorliegen sah.
Im Nationalsozialismus nahm D. Bonhoeffer die zeitgeschichtliche Brisanz einer seiner Meinung nach offenen Flanke der protestantischen Theologie gegenüber anderen gesellschaftlichen Bestimmungsgrößen wahr, wenn diese auf ihre Weise dazu antraten, die menschliche Natur zu bestimmen und sich so einen Zugriff auf die menschliche Leiblichkeit zu verschaffen. Seine eigene Betonung der Leiblichkeit galt zunächst ihrem Charakter als Gabe und Signatur der Gottesebenbildlichkeit. Unter diesen theologischen Vorzeichen trat er für die Selbstzweckhaftigkeit des Leiblichen ein. Diese kulminiert in einem „Recht auf leibliche Freuden“, welches z. B. auch auf die Sexualität von Menschen mit Behinderung zu beziehen ist. Konkret hat Bonhoeffer die Einschränkung der Partnerwahl und die gesetzmäßige Verordnung der Sterilisierung vor Augen. Es handelt sich bei Bonhoeffer um eine dezidiert theologische Begriffsbestimmung der Leiblichkeit, welche den Leib zwar als Gegenstand der Ethik, aber noch nicht als Medium und Form menschlichen In-der-Welt-Seins umfänglich in den Blick nahm.
2.5. Anschlussversuche: Leibphänomenologie und Verkörperung
Solches bot nun besonders die Leibphänomenologie, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg breit rezipiert wurde. Als aufschlussreich erwies sich die von M. Merleau-Ponty und H. Plessner
im Anschluss an M. Scheler
und E. Husserl
vollzogene Differenzierung von Leib und Körper: Gegenüber dem Körper, wie er sich äußerer Wahrnehmung darstellt und wie er auch naturwissenschaftlicher Objektivierung zugänglich ist, ist der gelebte und erlebte Leib das mehr oder weniger latente Medium unseres Zugangs zu Welt und Körper überhaupt. Im Unterschied zum Körper könne dieser nur im teilnehmenden Mitvollzug verstanden werden. Er sei unverfügbarer pathischer Untergrund des Daseins, unhintergehbarer Ausgangspunkt („Nullpunkt“) aller Wahrnehmung – und zwar unbeschadet aller Kultivierung, die sich selbst als Einverleibung sozialer Praktiken verstehen ließe (P. Bourdieu
). So gesehen ist darum Leiblichkeit nicht nur Gegebenes, sondern auch Gewordenes und damit offen für Zeitlichkeit und kulturelle Prägung.
Die neuere Bewegung der Verkörperung ist in der Abgrenzung von der Computerauffassung des menschlichen Bewusstseins entworfen und sieht unseren Weltzugang bzw. unsere Wahrnehmung abhängig von unserer leiblich-körperlichen Konstitution und der Interaktionsfähigkeit unseres Organismus mit seiner Umwelt.8Zum Überblick vgl. Fingerhut, Joerg et al. (Hrsg.), Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Frankfurt a. M. 2013. In der Gegenwart wird diese Auffassung in den Human- und Kognitionswissenschaften zur Kritik an der neurobiologischen Reduktion des Menschen auf sein Gehirn vielfach rezipiert, auch von theologischer Seite.9Vgl. Etzelmüller, Gregor/Weissenrieder, Annette (Hrsg.), Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie, Berlin/Boston 2016.
2.6. … und die Körperlichkeit des Leibes? Einsprüche
Die leibphänomenologische Bevorzugung der erstpersonalen Teilnehmerperspektive gegenüber der drittpersonalen Beobachterperspektive, wie sie auch einer naturwissenschaftlichen Objektivierung zugrunde liegt, kam der geisteswissenschaftlichen Thematisierung von Leiblichkeit bzw. Körperlichkeit entgegen. Zwar ist es richtig, dass lebendige Leiblichkeit in der objektivierenden Beobachterperspektive per se nicht vollständig erfasst werden kann, eine einseitige Betonung der erstpersonalen Teilnehmerperspektive ist aber als unangemessen zu kritisieren.10Vgl. Irrgang, Bernhard, Der Leib des Menschen. Grundriss einer phänomenologisch-hermeneutischen Anthropologie, Stuttgart 2009. Zugänge, die es erlauben, Perspektiven bzw. Aspekte zu kombinieren, erweisen sich für die Schmerzmedizin oder die psychologische Medizin, aber auch für die Theologie als weiterführend. Gerade der vergegen-ständlichende und verfügenwollende Umgang mit dem Leib als Körper, auch sein Leiden an ihm bedürfen der theologischen Reflexion.
Von feministischer Seite wurde der theologische Anschluss an die leibphänomenologische Leib-Körper-Differenz mit dem Vorbehalt versehen, die Zuwendung zur vermeintlich ganzheitlichen Leiblichkeit könne zu einer Vernachlässigung der naturalen Dimension des Körpers, seiner Materialität, Geschlechtlichkeit, auch seiner Vulnerabilität, führen. Der Körper droht zum Uneigentlichen zu werden, das man dem objektivierenden Zugang der Naturwissenschaften überlassen könnte.11Vgl. Ammicht Quinn, Regina, Körper, Religion, Sexualität. Theologische Reflexionen zur Ethik der Geschlechter, Mainz 32004.
Auch in anderen Bereichen der Theologie hat sich der ‚corporeal turn‘ bemerkbar gemacht, so etwa in der Gotteslehre und der Christologie: Im Anschluss an prozesstheologische Konzeptionen wird der ganze Kosmos als Körper Gottes oder als universale Inkarnation im Sinne eines kosmischen Christus gedeutet.12Vgl. McFague, Sallie, The Body of God. An Ecological Theology, London 1993; Gregerson, Niels, Incarnation. On the Scope and Depth of Christology, Philadelphia 2015. Eine solche panentheistische Weitung steht nicht nur in Gefahr, Begrifflichkeiten und Metaphern zu ontologisieren, sondern die singuläre Inkarnation des Gottessohns zu entmaterialisieren und zu entkörperlichen.
Weiterführende Infos
Eine spannende Verarbeitung findet im podcast „Holy embodied“ aus dem reflab statt. In der Folge „Geführte Meditation: eine Expedition ins Sein“ soll Gott als nicht vom Körper abgekoppelt erfahrbar gemacht werden:
https://www.reflab.ch/sitzen-mit-leela-eine-expedition-ins-sein/), abgerufen am 09.04.2025.
3. Theologische Wiedergewinnung der Leiblichkeit
3.1. Hermeneutische und interdisziplinäre Klärungen
Körperlichkeit ist gemeinsamer Bezugspunkt einer Pluralität von Zugängen und Perspektiven in den Humanwissenschaften und zugleich von zentraler Bedeutung für die theologische Anthropologie. Um den Wissensanspruch, auch möglichen Anschluss und möglichen Widerspruch im interdisziplinären Diskurs explizieren zu können, ist die Übersetzbarkeit ihres begrifflichen Gehalts erforderlich. So sind auch kritische Rückkopplungen möglich.13Vgl. Körtner, Ulrich H. J., Leib und Leben. Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen, Göttingen 2010, 17–43.
Die Differenz der Thematisierungshorizonte will dabei beachtet sein: Die Leibwahrnehmung biblischer Quellen bietet weniger eine Reflexion auf Potentialitäten der Leiblichkeit bzw. Körperlichkeit, sie bleibt häufig eingebunden in Akte und Kontexte leiblicher Existenz, wie sie als vorfindliche Wirklichkeiten engagiert und affektiv erlebt werden. Das spricht für eine gewisse Bevorzugung des Begriffs der Leiblichkeit; diese darf aber keinesfalls in eine Vernachlässigung der Körperlichkeit überführt werden. Denn diese ist die materiale Gegebenheitsweise, die den Menschen befähigt, begrenzt und auch herausfordert, in angemessener Weise mit ihr umzugehen. Gegen-über der Rede vom Leib als „Nullpunkt“ der Wahrnehmung (E. Husserl ) zeigt sich eine Dezentralisierung darin, dass Leiblichkeit als Bezugsmitte des Orientierungshorizonts nicht negiert, aber im Horizont der Betrachtung als Schöpfung Gottes relativiert wird. Wird der Leib zugleich als Partizipations- und Beziehungsmedium zu externen und internen Bestimmungsgrößen aufgefasst, kann der Konflikthaftigkeit im menschlichen Dasein Rechnung getragen werden (vgl. „Fleisch“ und „Geist“ bei Paulus
).
3.2. Thematisierung der Tiefendimension im AT
Das AT gebraucht prinzipiell mehrdeutige Begriffe, um bestimmte Aspekte des ganzen leiblichen Daseins anzusprechen. Konzentriert im Begriff „Seele“ erscheint die Geschöpflichkeit als pathische Dimension des leiblichen In-der-Welt-Seins und des Sich-zur-Welt-Verhaltens, als Angewiesenheit auf Leben im Allgemeinen und auf Beziehungen im Besonderen. Der Begriff der Seele steht so nicht für die Verleugnung der Leiblichkeit, sondern für eine Thematisierung ihrer Tiefendimension: für den Bedürfnis- und Angewiesenheitscharakter des leiblichen Individuums, für seine Erlebens- und Strebensgestalt, damit aber auch seiner Verletzlichkeit, die mit seiner der Welt ausgesetzten Körperlichkeit gegeben ist.
Der biblische Gedanke des Herzens als eines leiblichen Resonanz- und Beziehungsorgans lässt sich mithilfe moderner Emotionstheorien im Sinne eines evaluativ-bedeutungsresonanten Wahrnehmungsvermögens aufschließen und explizieren.14Vgl. Rieger, Hans-Martin, Die bedeutungsresonante Wahrnehmung des Herzens. Eine ethische Perspektive, in: Ferrari, Francesco et al. (Hrsg.), Versöhnung. Theologische Perspektiven (FS M. Leiner), Göttingen 2023, 207–235. In philosophiegeschichtlichen und spezifisch modernen Horizonten ist auf einer theoretischen Metaebene dabei danach zu fragen, wie sich die Erschließungen und Orientierungen des Herzens zu den Verständigungsdiskursen der Vernunft verhalten, welche sich selbst an rationalen Gründen orientieren. Dabei kann es nicht ausbleiben, dass die Leiblichkeit der Vernunft selbst in den Blick kommt.15Beispielhaft bei Blaise Pascal, daran anschließend etwa Pothast, Ulrich, Lebendige Vernünftigkeit. Zur Vorbereitung eines menschenangemessenen Konzepts, Frankfurt a. M. 1998. Praktisch-vernünftiges Handeln ist nicht selten, wie das Beispiel des barmherzigen Samariters demonstriert, emotional bestimmt und hat seine eigenen „Gründe des Herzens“ (Blaise Pascal ).
3.3. Erneuerung und Erlösung am und durch den Leib im NT
Paulus versucht die Erlösung durch Christus am Ort der Leiblichkeit zu demonstrieren. Die Transformation von der beherrschten und selbstzentrierten zur erlösten und befreiten Leiblichkeit schließt spannungsvolle Dialektiken nicht aus, sie zielt aber darauf, dass im Modus der Teilhabe und im Resonanzraum des Geistes der Leib aus seiner Fremdbestimmung von der destruktiven Macht des „Fleisches“ befreit und als Gegenstand der Verantwortung zurückgegeben wird.16Vgl. Theißen, Gerd, Das transformative Menschenbild der Bibel. Die Erfindung des „inneren Menschen“ und seine Erneuerung im Urchristentum, in: Janowski, Bernd (Hrsg.), Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte, Berlin 2011, 269–287.
3.4. Ethik der Leiblichkeit
Eine daran anschließende biblisch orientierte Ethik des Leibseins setzt darum mit einer Thematisierung der Befreiung zum Leibsein-Dürfen ein und begreift unter diesem Vorzeichen Leibsein als Gabe und Aufgabe. Sie stellt sich der Kernfrage, in welcher Hinsicht es geboten ist, Leibliches sein zu lassen und anzuerkennen, und in welcher Hinsicht es geboten ist, Leibliches zu gestalten und zu kultivieren. Eine Ethik des Leibseins kann sich im Weiteren an den drei Strukturmomenten dessen orientieren, was man „leiblichen Gottesdienst“ nennen könnte: erstens das Annehmen und das Feiern der Gabe des leiblichen Lebens, zweitens die Aufgabe und den Umgang mit der Gabe des leiblichen Lebens, drittens das Zurückgeben der Gabe des Lebens.17Vgl. Rieger, Hans-Martin, Leiblichkeit in theologischer Perspektive, Stuttgart 2019, 183–192. Die darin sich vollziehende Maxime der Gottesverehrung ist dabei so zu explizieren, dass der Entlastungs- und Freiheitsgewinn deutlich werden kann: Das Unbedingte entlastet das Bedingte, es gibt das verletzliche und angewiesene Leben frei, verletzlich und angewiesen sein zu dürfen. Wenn Gott Gott ist, dann kann der Mensch Mensch bleiben.
Die Explikation in Bereiche der Medizinethik, der Gesundheitsethik, der Altersethik, der Pflegeethik und der Demenzethik wird von dieser für die theologische Anthropologie letzten Bestimmung her die Zuordnung zu anderen Lebensausrichtungen und -gütern reflektieren. So zielt etwa ein menschenangemessenes Gesundheitshandeln, das Gesundheit nicht als Letztziel, sondern als fundamentales Ermöglichungsgut weiterer Ziele auffasst, darauf, dass Menschen sich ihrem pathisch-leidenschaftlichem Begehren stellen können und sie befähigt werden, Wege zum eigenen gelingenden Menschsein und zu eigenen, angemessenen Lebenszielen zu finden. Das ist auch mit Krankheiten möglich. Interdisziplinär explizieren lässt sich der Erlösungsgedanke dahingehend, dass eine Gesundheitstranszendenz das Gesundheitshandeln entlastet und zugleich Gesundheit mehr fördert als die übertriebene Sorge um sie.
4. Herausforderungen der Leiblichkeit / Körperlichkeit – Beispiele
Nicht nur im Bereich der Gesundheitsethik, sondern auch in der Medizinethik und nicht zuletzt in zentralen Bereichen theologischer Reflexion des christlichen Glaubens stellt die Beachtung der Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit eine Herausforderung dar.
Medizinethisch ist es bedeutsam, dass ohne die Beachtung der leiblich verankerten Struktur dessen, was ein individueller Mensch als das für sich Gute wünscht und erstrebt, und ohne Beachtung seiner körperlichen Konstitution überhaupt der Leitbegriff der Autonomie eine leere Hülse bleibt. Medizinisches und pflegerisches Handeln ist Ermöglichungs- und Befähigungshandeln, das sich der Spannung von (universalem) normativem Autonomieanspruch und (auf das Individuum bezogener) empirischer Autonomiefähigkeit gewahr ist.18Vgl. Rehbock, Theda, Autonomie – Fürsorge – Paternalismus. Zur Kritik (medizin-)ethischer Grundbegriffe, in: Ethik in der Medizin 14 (2002), 131–150. Auch für den Begriff der Menschenwürde ist es förderlich, wenn der Personbegriff, welcher den Trägerkreis der Würde definiert, an die Leibhaftigkeit zurückgebunden wird: Zur Grundstruktur personalen Seins gehört nicht nur ein rationales Selbstverhältnis, sondern eine diesem zugrundeliegende individuelle Leiblichkeit, welche Verletzlichkeit und Begrenztheit, Werden und Vergehen mit sich bringt. Für eine Demenzethik bedeutet die Achtung der Leiblichkeit einer Person, sie als lebensgeschichtliche Inkarnation des Ich in seinen verkörperten Formen ernst zu nehmen. Zugleich ist sie nicht auf diesen Körper zu reduzieren, sie ist vielmehr als „Du“ anzusprechen, damit sie sich wieder als „Ich“ erfahren kann.19Vgl. Aus der Au, Christina, Leiblichkeit: die rezeptive Dimension des Selbst. Von der Alzheimer-Krankheit zur conditio humana, in: Klie, Thomas et al. (Hrsg.), Praktische Theologie des Alterns, Berlin 2009, 133–153.
Zentrale theologische Herausforderung ist schließlich, den christlichen Glauben selbst als ein leibliches Transformationsgeschehen und ein neues In-die-Welt-gestellt-Sein zur Darstellung zu bringen, das beides einschließt: neue Wahrnehmungs- und Verstehensweisen und eine diese zugrundeliegende Lebenspraxis, in die sich eine affektiv-evaluative Weltbeziehung gleichsam inkorporiert hat.