1. Geistesgeschichtliche Grundlagen
Im Jahr 44 v. Chr. verfasste der römische Philosoph Marcus Tullius Cicero seine Schrift „De officiis“ („Über die Pflichten“). Dabei grenzte er vollkommene und mittlere Pflichten (officia perfecta; officia media) voneinander ab. Dies fand später in der christlichen Theologie Anklang. Der Mailänder Bischof Ambrosius
legte im Jahr 386 n. Chr. dar, dass alle Menschen die mittleren Pflichten zu erfüllen haben. Demzufolge sollten sie all das unterlassen, was die biblischen Zehn Gebote verboten haben, z. B. die Lüge oder den Ehebruch. Zu den vollkommenen Pflichten, die über die mittleren Pflichten hinausgehen, zählte Ambrosius die Barmherzigkeit oder die Hilfsbereitschaft. Sofern ein Mensch solche vollkommenen Pflichten erfülle, erwerbe er sich Gnade und Verdienst vor Gott, was für die ewige Seligkeit nützlich sei.
Der Protestantismus hat diese abgestufte Pflichtenlehre abgelehnt. Denn die evangelische Reformation widersprach der Vorstellung, der Mensch könne sich durch gute Werke Verdienste vor Gott erwerben (vgl. Art. Rechtfertigung).
In der Aufklärungsphilosophie erlangte die Pflichtenlehre in der Ethik eine Schlüsselstellung, nicht zuletzt bei Immanuel Kant . Ihm zufolge hat jeder Mensch dem Guten, nämlich den Pflichten zu folgen, die ihm seine eigene sittliche Vernunft aufzeigt. Zugleich unterstrich er, dass jeder Mensch autonom, aus eigener freier Einsicht die sittlichen Gesetze respektieren soll, die für alle Menschen vernünftigerweise verbindlich sind. Das von Kant proklamierte Leitmotiv der Aufklärung – „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“1Kant, Immanuel, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Kant, Immanuel, Werke in sechs Bänden (Bd. VI), hg. v. Weischedel, Wilhelm, Wiesbaden 1956, 51–61, 53. – galt auch für die von ihm vertretene Pflichtethik. Aufgrund des Autonomieprinzips warnte er vor jeder Heteronomie, die z. B. dann bestünde, wenn Menschen sich durch Vorgaben von Religion und Kirche moralisch fremdbestimmen lassen. Aus der Fähigkeit der Menschen, mithilfe ihrer eigenen Vernunft zur Einsicht in sittliche Pflichten zu gelangen, leitete Kant die Menschenwürde ab.
Im Einzelnen entfaltete er Pflichten des Menschen gegen sich selbst – v. a. die Kultivierung des eigenen Gewissens – sowie Pflichten gegen andere, etwa Wohltätigkeit oder Dankbarkeit. Indessen widersprach er der Auffassung, der Mensch habe besondere Pflichten gegen Gott zu erfüllen. Vielmehr identifizierte er die Gebote Gottes mit den weltlichen Pflichten, die jeder Mensch mithilfe seiner Vernunft autonom erschließen kann.
2. Ausstrahlung auf den modernen Protestantismus
Kants Pflichtethik ist im 19. Jahrhundert von Vertretern des Protestantismus übernommen worden. Zu ihnen gehörte Wilhelm Herrmann , der seit 1879 in der Universität Marburg Systematische Theologie lehrte. Er hielt nicht mehr die Dogmatik, sondern die Ethik für die Grundlage der Theologie, wandte sich gegen jede Form einer kirchlich vorgegebenen, autoritativen Gebots- oder Verbotsmoral und betonte das Vermögen des Menschen, durch vernünftige Werturteile zu einer sittlichen Gesinnung und insofern zur Einsicht in seine Pflichten zu gelangen. Dabei ging er so weit, den Gottesgedanken selbst als ein sittliches Werturteil zu bezeichnen. Den inhaltlichen Kern der protestantischen Pflichtenethik sah er in der Pflicht zur Arbeit.
In der späteren evangelischen Theologie wurde diesem Denkmodell, das das Christentum als eine auf Vernunft und auf das Pflichtethos gestützte ethische Religion interpretierte, widersprochen. Anknüpfend an den Genfer Reformator Johannes Calvin wies der Dogmatiker Karl Barth
den Gedanken ab, dass Menschen aufgrund ihrer sittlichen Autonomie und ihrer eigenen Vernunft zur Einsicht in ethische Pflichten bzw. in das sittlich Gute gelangen könnten. Stattdessen rückte er den Gehorsam gegenüber dem Gebot Gottes ins Zentrum.
An dem Gegensatz zwischen dem liberalen Protestanten Wilhelm Herrmann einerseits, dem evangelisch-reformierten Dogmatiker Karl Barth andererseits wird ablesbar, wie sehr sich an der vernunftbasierten Pflichtethik, die der Aufklärung entstammte, in der neueren evangelischen Theologie die Geister geschieden haben.
Von dieser theologischen Spezialdiskussion abgesehen hat die neuzeitliche Reflexion über Pflichten Weichenstellungen erbracht, die für die Ethik und die Kultur der Moderne insgesamt richtungsweisend wurden.
3. Weichenstellungen der neuzeitlichen Pflichtenethik
3.1. Orientierung des Handelns an den Handlungsadressaten
Die Idee der Pflicht leitet dazu an, Handlungsnormen sachverhaltsspezifisch und zielgenau mit Blick auf potenzielle Handlungsadressaten zu durchdenken.
Dies zeigt sich beispielhaft an der Arztethik. Sie war im Abendland jahrhundertelang vom hippokratischen Eid geprägt gewesen, der sich auf die Tugenden des Arztes konzentriert hatte. Die Aufklärungsepoche setzte einen neuen Akzent. Im Jahr 1803 erschien das Buch „Medizinische Ethik“ (orig. engl.: „Medical Ethics“), das der englische Arzt Thomas Percival geschrieben hatte. Es griff die Pflichtethik der Aufklärung auf. Auf ihrer Basis beschäftigte es sich mit den Pflichten („duties“) des Arztes und arbeitete heraus, in welcher Hinsicht und in welcher Weise ärztliches Handeln den Patient*innen nutzen sollte. Konkret befasste sich Percival z. B. mit der Zuwendung des Arztes zu Patient*innen in der Sterbebegleitung.
D. h.: Die normative Logik der Pflichtenlehre eröffnet die Möglichkeit, rational begründet Handlungsgebote zu entfalten, die ganz bestimmte Sachverhalte und Problemfelder betreffen und einzelnen Menschen oder Kollektiven, der Gesellschaft als Ganzer oder dem Staat zugutekommen sollen. In aktuellen Diskursen wird z. B. die Pflicht der Menschen betont, mit Ressourcen der Natur und der Umwelt schonend umzugehen, um die Lebensgrundlagen für nachfolgende Generationen zu erhalten. Der Sache nach hat diese Pflicht sogar in das Grundgesetz Eingang gefunden (Art. 20a GG).
3.2. Unterscheidung von Recht und Ethik
In der Naturrechtsphilosophie der Neuzeit und in der Aufklärung entstand die Einsicht, dass zwei Pflichtarten grundsätzlich voneinander abzugrenzen sind. Bei Immanuel Kant heißt es: „Alle Pflichten sind entweder Rechtspflichten (…), d. i. solche, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, oder Tugendpflichten (…), für welche eine solche nicht möglich ist.“2Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, in: Kant, Immanuel, Werke in sechs Bänden (Bd. IV), hg. v. Weischedel, Wilhelm, Wiesbaden 1956, 303–634, 347. Indem Kant Rechtspflichten einerseits, Tugendpflichten bzw. ethische Pflichten andererseits auseinanderhielt, knüpfte er an Debatten an, die mit dieser Zuspitzung seit dem 17. Jahrhundert geführt worden waren. Samuel Pufendorf
und andere Philosophen oder Juristen hatten im 17. und 18. Jahrhundert begrifflich zunächst von „vollkommenen“ und von „unvollkommenen“ Pflichten gesprochen. Der Sache nach meinten sie mit den vollkommenen Pflichten die Rechtspflichten, die der Staat den Menschen verbindlich auferlegt und deren Einhaltung er erzwingen kann. Als unvollkommene Pflichten bezeichneten sie die Pflichten der persönlichen Moral, die Menschen freiwillig aufgrund eigener Motivation und ihres eigenen Entschlusses erfüllen, nämlich Liebes- oder Humanitätspflichten.
Mit dieser Unterscheidung nahm die neuzeitliche Pflichtenlehre eine epochale Weichenstellung vor. In der Antike und im Mittelalter hatten die Ethik und das Recht eine Einheit gebildet. Daher waren z. B. die Zehn Gebote der hebräischen Bibel sowohl für das in Israel geltende Recht als auch für das persönliche Ethos, für die Moral der Israeliten maßgebend gewesen. In der Neuzeit erkannte man, dass rechtlich gebotene Pflichten und ethische Pflichten kategorial voneinander abzuheben sind. Für die Innenseite ihrer Handlungen, d. h. für ihre Gesinnung, ihre Pflichten, ihre sittlichen Grundsätze und subjektiven Zwecksetzungen sind die einzelnen Menschen selbst verantwortlich. Staatliche Rechtsnormen haben sich darauf zu beschränken, das äußere Verhalten der Menschen zu regulieren und äußerlich die öffentliche Ordnung sowie den Frieden zu sichern.
Indem die Pflichtenlehre Rechtspflichten und ethische Pflichten als Handlungsarten voneinander abhob, legte sie das Fundament für die umfassenden Diskussionen über das Verhältnis von Recht und Moral, die rechtswissenschaftlich, politisch, philosophisch und ethisch seitdem geführt werden.
3.3. Begründung der Gewissens- und Religionsfreiheit
Konkret führte die Unterscheidung zwischen rechtlichen und ethischen Pflichten in der Aufklärung dazu, die Gewissens- und Religionsfreiheit jedes einzelnen Menschen ins Licht zu rücken. In Deutschland waren in dieser Hinsicht die Schriften des jüdischen Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn bahnbrechend. Der Staat dürfe sich nur für die Rechtspflichten interessieren, mit denen er das äußere Zusammenleben von Menschen ordne. In ihre persönlichen Überzeugungen dürfe er sich nicht einmischen: „Grundsätze sind frey. Gesinnungen leiden ihrer Natur nach keinen Zwang.“3Mendelssohn, Moses, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: Mendelssohn, Moses, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe (Bd. VIII), Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, 99–204, 137. Daraus folgte für Mendelssohn der Anspruch jedes Menschen auf persönliche Gewissens- und Religionsfreiheit. Rechtspolitisch lag ihm daran, dass die „christlichen“ Staaten des damaligen Europa die Gewissens- und Religionsfreiheit auch der Juden anerkennen sollten.
Mit solchen Gedankengängen hat die Pflichtenlehre der Aufklärung das Verständnis des menschlichen Handelns, die Kultur und die Gesellschaftsordnung bis heute tief geprägt. Andererseits sind Grenzen der Pflichtentheorie zu sehen.
4. Grenzen der Pflichtethik: Die Frage der Handlungsfolgen
In der Ethik des 20. Jahrhunderts nimmt der Pflichtbegriff nicht mehr die Schlüsselrolle ein, die ihm vom 17. bis zum 19. Jahrhundert zugefallen war. Stattdessen ist die Idee der Verantwortung zur Leitvorstellung der Ethik aufgestiegen. Im Jahr 1919 kritisierte der Sozialwissenschaftler Max Weber in seinem berühmt gewordenen Vortrag „Politik als Beruf“ das Denkmodell einer reinen Pflicht- bzw. Gesinnungsethik. Es greife zu kurz, sich für menschliches, speziell auch für politisches Handeln nur darauf zu berufen, was man persönlich als Pflicht ansehe. Stattdessen habe man nach den faktischen Folgen seines Handelns zu fragen, die angestrebten Handlungsresultate präzis zu definieren und sich damit auseinanderzusetzen, ob unbeabsichtigte negative Handlungsfolgen zu erwarten seien. Weber bündelte seine Kritik an der herkömmlichen Gesinnungs- und Pflichtethik in dem Satz: „Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim.“4Weber, Max, Der Beruf zur Politik, in: Weber, Max, Soziologie – Weltgeschichtliche Analysen – Politik, hg. v. Winckelmann, Johannes, Stuttgart 31964, 167–185, 175.
Hiermit hat Weber einen methodischen Schwachpunkt der Pflichtethik erfasst. Die von ihm entwickelte Konzeption ethischer Verantwortung, die er als Handlungsfolgenverantwortung verstand, ist im 20. und 21. Jahrhundert unhintergehbar geworden.
Dennoch kann auch in der Gegenwart auf den Pflichtbegriff nicht verzichtet werden.
5. Heutiger Stellenwert des Pflichtbegriffs
Für die Bewertung menschlichen Handelns sind bis heute die Klarstellungen unverzichtbar, die der überlieferten Pflichtenlehre entstammen. Sie leitet dazu an zu durchdenken, ob eine Handlung ethisch als „vertretbar“ und „erlaubt“ oder als „verboten“ oder als „geboten“ anzusehen ist. Darüber hinaus hat die Pflichtenlehre Regeln zur Bewältigung von Handlungskonflikten erstellt. Solche Handlungskonflikte bzw. Pflichtenkollisionen brechen auf, wenn ein Mensch in einer Entscheidungssituation zwei oder mehr Sollensnormen/Pflichten zu berücksichtigen hat, ohne sie gleichzeitig erfüllen zu können. Ferner lässt sich im Licht der Pflichtenlehre klären, ob es ethisch tatsächlich geboten ist, sich für eine bestimmte Tat zu entscheiden, oder ob eine solche Tat „mehr als die Pflicht“ ist (supererogatorisch / „überpflichtmäßig“). Als eine supererogatorische Handlung gilt es heutzutage z. B., wenn sich ein gesunder Mensch zugunsten einer erkrankten Person ein Organ oder ein Organteil – am häufigsten: eine Niere oder eine Teilleber – entnehmen lässt (Lebendorganspende).
Die Differenzierungen der Pflichtenlehre dienen mithin der Analyse und Bewertung menschlichen Handelns und tragen dazu bei, Konfliktsituationen zu bewältigen. Zudem enthält der Begriff der Pflicht einen Appell an jeden einzelnen Menschen, im Sinn der Menschenrechte Verantwortung zu übernehmen und in dieser Hinsicht seinen „Menschenpflichten“ gerecht zu werden. Den Gedanken, Menschenpflichten als Korrelat der Menschenrechte zu verstehen, hat in einschlägigen Publikationen der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt entfaltet. Im Jahr 1997 legte er gemeinsam mit dem InterAction Council, einem Zusammenschluss früherer Staats- und Regierungschefs, eine „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“ vor, die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948 ergänzen sollte. Den Verfassern schwebte vor, dass die Vereinten Nationen 50 Jahre nach der Menschenrechtsdeklaration des Jahres 1948 zusätzlich die „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“ verabschieden sollten. Der von ihnen entworfene Text verpflichtete die Menschen sowie die Gesellschaft als Ganze auf die Prinzipien der Humanität, der Achtung vor dem Leben, der Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Toleranz und der verantwortlichen Gestaltung von Partnerschaft und Familie.
Einen Vorentwurf hatte der Theologe Hans Küng verfasst, von dem gedanklich die Initiative für die 1995 gegründete „Stiftung Weltethos“ ausgegangen war.
Zwar haben sich die Vereinten Nationen den Text nicht formal zu eigen gemacht. Dennoch hat er intensive Debatten ausgelöst. Dabei wurde u. a. der Einwand erhoben, dass Menschenpflichten nicht den gleichen Stellenwert und den gleichen normativen Status wie Menschenrechte besitzen. Dieser Einwand hat einen berechtigten Kern. Zur Klarstellung ist an die oben erwähnte Unterscheidung zwischen rechtlichen und ethischen Pflichten zu erinnern, die in der Aufklärung entwickelt worden ist. Bei den Menschenrechten – z. B. dem individuellen Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit – handelt es sich um Rechtspflichten. Die Menschenrechte dienen dem Schutz jeder einzelnen Person und sind für den Staat und für die Gesellschaft rechtsverbindlich. Die vom InterAction Council thematisierten Menschenpflichten – z. B. die Aufforderungen, wahrhaftig zu reden, sich aktiv für religiöse Toleranz zu engagieren oder sich für eine nachhaltige Entwicklung der Welt einzusetzen – sind als ethische Pflichten einzustufen. Sie können rechtlich nicht erzwungen werden, sondern sollen von den einzelnen Menschen aus eigener freier Einsicht bejaht und verwirklicht werden.
Der Sache nach ist mit der Idee der Menschenpflichten ein Anliegen von großer kultureller Tragweite zur Sprache gebracht worden. In einer modernen demokratischen pluralistischen Gesellschaft hängt das gelingende Zusammenleben der Menschen davon ab, dass im Bewusstsein der Bevölkerung grundlegende ethische Pflichten wach bleiben und dass bei den Menschen ein Ethos vorhanden ist, das den vom InterAction Council umrissenen Menschenpflichten inhaltlich entspricht. Letztlich bleibt es allerdings stets die Entscheidung der einzelnen Menschen selbst, auf welche ethischen Werte sie sich persönlich verpflichten.