Jesus Christus (als Glaubensinhalt)

Der Name „Jesus Christus“ verbindet den historischen Menschen Jesus von Nazareth mit der religiösen Erwartung des von Gott gesandten Messias und steht im Zentrum christlicher Glaubensüberzeugung. Die Suche nach dem „wirklichen“ oder „historischen“ Jesus hat seit der Aufklärung zu vielfältigen, oft widersprüchlichen Rekonstruktionen geführt, da historische Quellen nur Wahrscheinlichkeiten, aber keine Gewissheiten liefern. Theologisch entscheidend ist jedoch nicht die historische Faktizität, sondern das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem lebendigen, in der Geschichte wirkenden Gottessohn, wie es das Neue Testament bezeugt. Die Evangelien erzählen von der Menschlichkeit Jesu im Licht des Osterglaubens, wobei die wahre Bedeutung Jesu für den Glauben in seiner Gegenwart und Wirksamkeit als Christus liegt, nicht in historischer Rekonstruktion.

Inhaltsverzeichnis

    1. Ein besonderer Name

    Auf den ersten Blick könnte es sich bei Jesus Christus um einen gewöhnlichen Namen handeln, der ebenso wie die meisten Namen aus einem Vor- und einem Nachnamen besteht. Der Rufname „Jesus“ (hebr. Jehoschua) hat die Bedeutung „Gott hilft“ (Jeho = JHWH + j(a)sch(a) = helfen, retten), und der latinisierte Nachname lehnt sich an die griechische Übersetzung des hebräischen Wortes für Messias an und bezeichnet einen „Gesalbten“. Zwar ist heute kaum noch jemand, der den Familiennamen Müller trägt, tatsächlich ein solcher, aber es liegt auf der Hand, dass der Name ursprünglich mit Personen verbunden war, die den Beruf des Müllers ausgeübt haben. „Gesalbter“ als Nachname bezeichnet zwar keinen bestimmten Beruf, aber im alten Israel gab es bestimmte Ämter, die durch eine Salbung hervorgehoben wurden: zunächst die Könige, dann aber auch die Hohepriester und teilweise die Propheten (vgl. Art. Prophetie). Mit der im Auftrag Gottes vollzogenen Salbung war die Verleihung einer besonderen Gottesnähe und Heiligkeit (vgl. Art. Heilige, das) verbunden. Das Volk Israel erwartete zudem den von Gott mit besonderer Macht befähigten Messias, der es aus seinem von den Heiden dominierten Prekariat befreien werde, und diese häufig endzeitlich geprägte Erwartung konnte sehr unterschiedliche Gestalt annehmen. Der Jesus zugefügte Name Christus hat in diesem vielschichtigen Horizont seinen Ursprung, ohne dass damit schon unmittelbar erkennbar ist, was er genau besagen soll.

    Jesus war für seine Zeitgenossen Jesus von Nazareth, der Sohn der Maria. Auch wenn damit zu rechnen ist, dass er durch seine Botschaft vom nahe gekommenen Reich Gottes durchaus Aufsehen erregt hat, ist weder eindeutig, als wer er von seinen Zeitgenossen verehrt und eben auch abgelehnt wurde, noch für wen er sich selbst gehalten hat. Nach der Erzählung von dem berühmten Petrusbekenntnis in der Fassung des Matthäus-Evangeliums wird Jesus von den Leuten für Johannes den Täufer, für Elija oder für Jeremia bzw. einen anderen der Propheten gehalten. Wenn der Evangelist diesen Vermutungen das Bekenntnis des Petrus gegenübergestellt, dass Jesus „der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16,16Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist der Christus, des lebendigen Gottes Sohn!Zur Bibelstelle) sei, lässt Jesus dies nicht als eine besonders hellsichtige Einsicht des Petrus gelten, sondern attestiert ihm eine seine Möglichkeiten grundsätzlich überschreitende Offenbarung Gottes und gebietet allen Jüngern nachdrücklich, dies Christus-Bekenntnis nicht weiterzusagen (Mt 16,20Da gebot er den Jüngern, niemandem zu sagen, dass er der Christus sei.Zur Bibelstelle parr.), wohl weil noch nicht erfüllt war, worin es in seiner Tiefe schließlich verstanden werden soll. Mit diesem Nachnamen Jesu hat es offenkundig nach dem Zeugnis des NT ganz Besonderes auf sich. Er bezeichnet diesen einen Jesus, der im Zentrum der christlichen Tradition steht, und zugleich steht er für ein Bekenntnis, das weder aus den zeitgeschichtlichen Umständen resultiert noch überhaupt als eine Einsicht unserer natürlichen Vernunft zu verstehen ist. Am Schluss werden wir darauf zurückkommen.

    2. Der wirkliche Jesus

    Es war der Vorwurf der Aufklärung gegen die Theologie, dass sie einen abstrakten dogmatisch in den Himmel erhobenen Christus verordne und diesen den biblischen Narrativen etwa in den Evangelien überstülpe und damit einen unmittelbaren Zugang zur Menschlichkeit Jesu verstelle. Um den wirklichen Jesus wahrnehmen zu können, sei das NT ohne die erst im Laufe der Kirchengeschichte installierten trinitarischen und christologischen Dogmen zu lesen. Der kritische Einspruch erfolgte zunächst im Rekurs auf das biblische Zeugnis und richtete sich gegen den autoritativen lebensfernen Lehr- und Machtanspruch der Kirche. Aber schon bald wurde dieser Einspruch weiter radikalisiert, indem dann auch der Umgang mit den biblischen Texten bestimmten Ansprüchen und Erwartungen unterstellt wurde. Die aus der Bibel gewonnenen Einsichten können nur dann allgemeine Anerkennung beanspruchen, wenn sie den Verstehensbedingungen der aufgeklärten Vernunft und der von ihr orientierten Rationalität Genüge tun. Dieser zweite Schritt der Aufklärung gibt sich ausdrücklich nicht mehr damit zufrieden, das NT als das zu lesen, was es ist, nämlich das Glaubens- und Verkündigungszeugnis der urgemeindlichen Christusbekenner, das aus der Perspektive der Auferweckung und lebendigen Gegenwart Christi ergeht, sondern der wirkliche Jesus könne erst dann angetroffen werden, wenn über die Glaubensdokumente hinaus nach dem hinter ihnen stehenden historischen Jesus gefragt werde. Erst wenn sich Jesus konsequent von dem her verstehen lässt, was sich mit Hilfe von Analogien vollständig plausibilisieren lässt, könne er überzeugend der gegen ihn gerichteten Skepsis entzogen werden.

    2.1. Der historische Jesus

    Es war Hermann Samuel Reimarus oes-gnd-iconwaiting... (1694–1768), der mit seiner Unterscheidung des eigenwillig verzerrten Jesusbildes der Apostel von der eigenen Lehre Jesu der Lektüre des NT eine prinzipielle Skepsis auferlegte, die es erforderlich machte, das Kriterium für das rechte Verstehen des biblischen Zeugnisses nicht mehr aus ihm selbst zu erheben, sondern von außerhalb an dieses anlegen zu müssen. Für Reimarus war dies die Vorstellung einer vernünftigen praktischen Religion, wie sie auch ursprünglich von Jesus vertreten worden sei.1Vgl. Reimarus, Hermann Samuel, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes (Bd. I u. II), hrsg. v. Gerhard Alexander, Frankfurt a. M. 1972. Mit Hilfe dieses Kriteriums seien die Übertünchungen und absichtsvollen Stilisierungen, mit denen sich die Jünger die Verehrung ihres Meisters zu sichern versuchten, zu durchschauen und auf diese Weise der historische Jesus in den Blick zu nehmen, um schließlich so die Religionsausübung an dem wirklichen Jesus ausrichten zu können.

    Einerseits haben sich bald auch Andere eine ähnlich kritische Perspektive auf die biblischen Quellen zu eigen gemacht, was aber nicht zu einer Konsolidierung eines bestimmten Bildes vom historischen Jesus geführt hat, weil die Vorstellungen, mit denen dieses Bild rekonstruiert wurde, ebenso unterschiedlich waren, wie seine Rekonstrukteure. Gilt erst einmal das biblische Zeugnis nicht mehr als zuverlässige Referenz für eine angemessene Auskunft über Jesus, so wird es zwangsläufig ein außerbiblischer Standpunkt sein, von dem aus der biblische Text in den Blick genommen wird und dann entsprechend die Wahrnehmungen prägt. Die Erwartungen, die an einen möglichst beeindruckenden Jesus gestellt werden, folgen dann dem Gutdünken der Rekonstrukteure, die sie für ihre jeweiligen religiösen Optionen aus den vermuteten Herausforderungen ihrer jeweiligen Gegenwartserfahrungen extrapolieren. Und so wurden und werden seit Reimarus oes-gnd-iconwaiting... unentwegt den Gemeinden sehr unterschiedliche Persönlichkeiten als der wirkliche Jesus präsentiert, die vor allem die Gesichter ihrer jeweiligen Rekonstrukteure zu erkennen geben. Dazu bemerkt Dieter Schellong oes-gnd-iconwaiting... kritisch: „Der ‚historische Jesus‘ kommt mir vor wie ein Chamäleon: Auf welche Farbe man ihn setzt, die nimmt er an.“2Schellong, Dieter, „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ Rückfragen zur Suche nach dem „historischen Jesus“, in: Marquardt, Friedrich-Wilhelm et al. (Hrsg.), Die Bibel gehört nicht uns (Einwürfe 6), München 1990, 2–47, 29.

    Obwohl die Probleme, die wohl unausweichlich mit diesen Rekonstruktionen verbunden sind, schon bald offenkundig wurden,3Spätestens mit dem Buch von Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung [1906], Nachdruck d. 2. Aufl. 1913, Tübingen 41926. wird bis heute immer wieder die Vergewisserung über die Wirklichkeit des Menschseins Jesu von belastbaren historischen Verifikationen abhängig gemacht, so als sei Historizität im Sinne einer greifbaren Faktizität der entscheidende Garant für einen verlässlichen Zugang zur Wirklichkeit. 1953 wurde der aufgekommenen Skepsis entgegen von Ernst Käsemann oes-gnd-iconwaiting... die „neue Frage nach dem historischen Jesus“ aufgeworfen,4Vgl. Käsemann, Ernst, Das Problem des historischen Jesus [1953], in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen (Bd. I u. II), Göttingen 1964, I, 187–214. Käsemann vermutet „[e]inigermaßen sicheren Boden“ dort, wo die Jesustradition „weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urchristenheit zugeschrieben werden kann“ (Käsemann, Problem, 205).  und es war der Judaist Géza Vermes oes-gnd-iconwaiting..., von dem dann die Anregung  zur gegenwärtig noch diskutierten „dritten Frage“ ausging.5Vgl. Vermes, Géza, Jesus the Jew [1973]; deutsch: Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, übers. v. Alexander Samely, bearb. v. Volker Hampel, Neukirchen-Vluyn 1993. Vermes versteht nun Jesus ganz und gar von seinem Judesein her und beschreibt ihn als einen galiläischen Chassid (vgl. Vermes, Jesus, V). Die jeweiligen Blickrichtungen produzieren je eigene Varianten für eine historisch einzuschätzende Jesustradition, können aber über konstruierte Vermutungen nicht hinauskommen,6Vgl. dazu Schweitzer, Geschichte; Theißen, Gerd/Merz, Annette, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 21997; Zager, Werner (Hrsg.), Jesusforschung in vier Jahrhunderten, Berlin/Boston 2014. was insofern nicht überrascht, als sich die Quellenlage, die dem entgegensteht, nicht geändert hat. Die Resultate historischer Recherchen führen grundsätzlich nur zu Wahrscheinlichkeiten, auch wenn diese sehr hoch sein können, was in diesem Fall aber kaum zu erwarten ist.7Vgl. u. a. dazu den prägnanten Beitrag von Ernst Troeltsch, Historische und dogmatische Methode in der Theologie [1898], in: Ders., Gesammelte Schriften II, Tübingen 1913, 729–753 (https://archive.org/details/gesammelteschrif02troe), abgerufen am 23.09.2025.

    Dennoch hat sich der positivistische historische Optimismus davon nicht irritieren lassen. Bereits 1835 und somit etwa drei Generationen nach Reimarus oes-gnd-iconwaiting... publizierte der junge Theologe und Philosoph David Friedrich Strauß oes-gnd-iconwaiting... (1808–1874) sein heftig umstrittenes „Leben Jesu“, das sowohl „der veralteten supranaturalen“ als auch insbesondere der „natürlichen Betrachtungsweise der Geschichte Jesu“ entgegentrat.8Strauß, David Friedrich, Das Leben Jesu, kritisch betrachtet (Bd. I u. II), Tübingen 1835/36, III. Obwohl hier fundamentale Einsichten vorgetragen wurden, welche die Ergiebigkeit der Frage nach dem historischen Jesus grundsätzlich in Frage stellen, hat es die Zunft der Theolog:innen weithin vorgezogen, seinen Autor zu ächten, anstatt seine Entdeckungen zu diskutieren. Strauß sah den probaten Schlüssel zum Verstehen der neutestamentlichen Jesusdarstellungen in der Anerkennung ihres irreduziblen „mythischen“ Charakters. Die Texte haben kein Interesse an einer authentischen Biographie Jesu, sondern präsentieren in der Gestalt dichtender Sagen „geschichtsartige Einkleidungen urchristlicher Ideen“.9Vgl. Strauß, Leben Jesu I, 75. Die Texte umgeben die nicht mehr identifizierbaren Lebensdaten dieses Mannes aus Nazareth mit einer Fülle vor allem von der alttestamentlichen Tradition angeregter „frommer Reflexionen und Phantasien […], indem alle Ideen, welche die erste Christenheit über ihren entrissenen Meister hatte, in Thatsachen verwandelt, seinem Lebenslauf eingewoben wurden.“10Strauß, Leben Jesu I, 72. Im Übrigen bleibe hinsichtlich der hochgesteckten Erwartungen an den historischen Jesus doch festzustellen, dass er in keinem Falle mehr als möglicherweise eine „sehr ausgezeichnete, aber darum doch der Beschränktheit alles Endlichen unterworfene Persönlichkeit“ gewesen sein kann.11Strauß, Leben Jesu II, 721. Mit Dieter Schellong oes-gnd-iconwaiting... gesprochen heißt das im Klartext, dass es im Blick auf die historische Persönlichkeit niemals um mehr als eben um Personenkult gehen könne, was in theologischer Perspektive wohl nur als Götzendienst anzusehen wäre.12Vgl. dazu Schellong, Rückfragen, 14.

    Auch wenn wir heute mit der sich auf Hegel oes-gnd-iconwaiting... berufenden Interpretation der ewigen Wahrheit Jesu von Strauß oes-gnd-iconwaiting...13Vgl. dazu Strauß, Leben Jesu II, 729ff. unsere Schwierigkeiten haben mögen, bleibt doch auch uns das von ihm gesetzte fundamentale Fragezeichen gesetzt, welchen Aufschluss historische Fakten uns überhaupt über unsere Wirklichkeit zu geben vermögen. Wie gesagt lassen sich bestenfalls Wahrscheinlichkeiten auf ihnen begründen. Gewissheiten können nicht von ihnen ausgehen. Insofern kann der offenkundig nicht einzudämmenden Fülle an Hypothesen über den historischen Jesus prinzipiell keine theologisch prägende Bedeutung zukommen, was ja keineswegs heißt, dass der Untersuchung der historischen Umstände zur Zeit Jesu und der Entstehung der neutestamentlichen Schriften keine Relevanz zukäme.14Vgl. dazu Wengst, Klaus, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem „historischen“ Jesus, Stuttgart 2013.

    2.2. Der irdische Jesus

    Ebenso wie die Einsichten von Strauß oes-gnd-iconwaiting... blieben auch die fundametaltheologischen Einwendungen von Martin Kähler oes-gnd-iconwaiting... wirkungsgeschichtlich weithin bedeutungslos, auch wenn sein Vortrag „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus“ aus dem Jahr 1892 und seine erweiterte Fassung durchaus bekannt zu sein scheinen. „Der historische Jesus der modernen Schriftsteller verdeckt uns den lebendigen Christus.“15Kähler, Martin, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, hrsg. v. Ernst Wolf (ThB 2), München 41969, 16. Der lebendige Christus ist das Thema der neutestamentlichen Texte, in denen sich die Apostel zu dem auferstandenen Christus als dem in der Geschichte wirkenden Christus bekennen. Martin Kähler unterscheidet den historischen Jesus von dem biblisch bezeugten und die Geschichte der Kirche orientierenden geschichtlichen Christus, der als der gepredigte Christus eben auch der wirkliche Christus sei.16Vgl. Kähler, Jesus, 42–44. „Wir besitzen keine Quellen für ein Leben Jesu, welche ein Geschichtsforscher als zuverlässige und ausreichende gelten lassen kann.“17Kähler, Jesus, 21. „Es gibt hier keine Mitteilung aufmerksam gewordener unbefangener Beobachter, sondern durchweg Zeugnisse und Bekenntnisse von Christusgläubigen.“18Kähler, Jesus, 75. Zudem bleibt grundsätzlich zu beherzigen, dass „geschichtliche Tatsachen, welche die Wissenschaft erst klar zu stellen hat, […] als solche keine Glaubenserlebnisse“19Kähler, Jesus, 51. im Sinne von Glaubensvergewisserung sein können.

    Der Glaube bezieht seine Evidenz nicht aus der Anerkennung eines historischen Faktums, sondern aus der Wahrnehmung der Gegenwart Gottes. Sie bestimmt das Messiasbekenntnis der Apostel, von dem Jesus in der Perspektive des AT und der Verheißungsgeschichte Israels erkannt wurde, so dass sie unter Berufung auf seine Auferweckung in ihm das auch gegenwärtig wirkmächtige Handeln Gottes vor Augen rückten. Doch diese besondere Prädikation macht entschieden keinerlei Abstriche an der konkreten Menschlichkeit Jesu, in der dies Handeln Gottes in Erscheinung tritt. Zum klaren und anschaulichen Ausweis dieser konkreten und gleichwohl unvergleichlichen Menschlichkeit erzählen die Evangelien in je eigener Weise besondere Geschichten von dem irdischen Jesus, die sich vom literarischen Genus wohl am ehesten mit Legenden vergleichen lassen.20Vgl. Schellong, Rückfragen, 17–20. Die Wirklichkeit der von ihnen exponierten Menschlichkeit ist nicht ihre Historizität, die uns infolge der zwischen den Evangelien bestehenden Differenzen nur eine grundsätzlich umstritten bleibende Hypothese anbieten könnte, sondern sie entspricht der im Osterglauben vollzogenen Vergegenwärtigung des irdischen Wirkens Jesu als seine wahre Geschichte, die es je heute zu vernehmen gilt.21Ich greife hier den Vorstellungshorizont auf, der von Wengst oes-gnd-iconwaiting... im Blick auf das Wirklichkeitsverständnis der Auferweckung Jesu in Auge gefasst wird: Wengst, Klaus, Ostern. Ein wirkliches Gleichnis, eine wahre Geschichte, München 1991. Die Präsenz Gottes in dieser Geschichte reduziert in keiner Weise die Menschlichkeit des irdischen Jesus. Vielmehr unterstreicht sie die Radikalität des Inkarnationsmotivs, mit dem sich Gott in die ebenso wenig eingefangene wie begriffene Geschichte des realen Menschen begibt. Das ist das Wirklichkeitsmaß, in dem sich die neutestamentlichen Narrative von Jesus von Nazareth adäquat erschließen. Es ist entschieden von vornherein ein theologisches Maß, das nicht von der Besonderheit des zu bezeugenden Geschehens absehen kann und sich deshalb nicht den historistischen Profanitätsbedürfnissen der sich selbstreferenziell gebenden Vernunft unterordnet.

    3. Jesus Christus im Neuen Testament

    Alle Texte des NT setzen die Auferweckung Jesu voraus und argumentieren im Horizont des Bekenntnisses zur lebendigen Gegenwart des Auferstandenen als der sich in ihm erschließenden Wirklichkeit des Handelns Gottes. In Leben und Geschick Jesu bestätigt sich die Treue Gottes darin, dass er, wenn auch in überraschender Weise, seine Verheißungen aktualisiert und die Perspektive der Geschichte seiner Erwählung in ein lebendiges Licht rückt. Konzentriert zeigt sich dieser Umstand im Namen „Jesus Christus“, der sowohl besagt, dass Jesus von Nazareth der Christus Gottes ist, als auch, dass der Christus Gottes dieser konkrete Mensch und nicht etwa ein halb göttliches und halb menschliches Wesen oder ein göttlich begabter Übermensch ist.22Vgl. Schweizer, Eduard, Art. Jesus Christus I, in: TRE 16 (1987), 671–726, 671. Alle Spekulationen über das Selbstverständnis Jesu bleiben vage. Entscheidend bleibt, als wer er dem Glauben thematisch wird, und genau darum geht es dem NT mit seinem differenzierten Konsens in dem Bekenntnis zu Jesus Christus.23Zum Folgenden vgl. mit je eigenen Akzenten Schweizer, Jesus Christus I 678–726; Roloff, Jürgen, Jesus, München 32004; Schröter, Jens, Jesus von Nazaret, Leipzig 62017.

    Nicht die Erzählungen der Evangelien stehen am Anfang, sondern es sind charakteristische Redewendungen und teilweise als Hymnen formulierte Glaubensformeln, die den kommenden Herrn, den Gekreuzigten und den Auferweckten annoncieren, der als solcher der Präexistente ist. Die paulinische Theologie stellt Jesus Christus ganz in die Gegenwart und die durch seinen Tod für uns in ihm gerechtfertigte Gemeinde in seine Nachfolge, wobei auch das Christus nicht bekennende Israel in die den Glauben tragende heilsgeschichtliche Perspektive bedingungslos einbezogen bleibt.24Vgl. Weinrich, Michael, Die eigentliche ökumenische Frage, in: Ders., Ökumenische Existenz heute (FRTh 17), Göttingen 2025, 197–243, bes. 209–216. Die Evangelien erinnern und vergegenwärtigen das Leben Jesu im Horizont des Handelns Gottes, in dem die ganze bisherige Geschichte erfüllt und auf ihre Vollendung ausgerichtet wird. Dabei bleibt durchgängig die Nachfolge und Sendung der Jünger (der Gemeinde) im Blick, die infolge ihrer unüberwindlichen Unzulänglichkeit auf die Gegenwart ihres auferstandenen Herrn angewiesen bleiben. Wie in keinem anderen Evangelium wird bei Johannes der irdische Jesus durchgängig so ausdrücklich mit der Göttlichkeit seiner Herkunft, seiner repräsentativen Verbundenheit mit Gott und seiner Rückkehr zum Vater in prägender Verbindung gehalten. So unterschiedlich die jeweiligen Bedingungen und somit die Perspektiven der verschiedenen Autoren des NT auf Jesus Christus auch sind, so zeigen sie sich zugleich darin einig, dass sie der rettenden gnädigen Präsenz Gottes in dem Menschen Jesus und seinem Geschick evidenten Ausdruck zu verschaffen versuchen. Indem in Jesus Christus Gott Wirklichkeit wird, bezeichnet ihn Eduard Schweizer oes-gnd-iconwaiting... „in Einzigkeit das Gleichnis Gottes“,25Schweizer, Jesus Christus I, 724. in dem das Kommen Gottes (vgl. Art. Reich Gottes) für seine Hörerinnen und Hörer Wirklichkeit werden will.

    Weiterführende Infos WiBilex und WiReLex

    Für bibelkundliche und religionspädagogische Vertiefungen sei auf folgende Artikel verwiesen:
    Dormeyer, Detlev, Art. Jesus Christus, in: WiBiLex, 2012 (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/51866/), abgerufen am 07.10.2025.
    Pemsel-Maier, Sabine, Art. Christus/Christologie, in: WiReLex, 2015 (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/100057/), abgerufen am 07.10.2025.

    4. Jesus Christus und das Wort Gottes

    Das von dem Namen „Jesus Christus“ umfasste Bekenntnis verweist nicht auf eine identifizierte Tatsache oder einen definierbaren Zustand. Immer wenn es um Gott geht, verbieten sich alle Vergegenständlichungen, um nicht gar von Besitzergreifungen zu sprechen. Es gibt im Christentum eine Jesusfrömmigkeit, in der Jesus mit Umarmungen fixiert und von nützlichen Verheißungen für den eigenen Vorteil attraktiv gemacht wird. Jesus wird zu einer Art Selbstbedienungsressource für die individuellen Bedürfnisse religiöser Selbstverwirklichung. Die zu ihm gesuchte Intimität folgt der Regie von selbststabilisierenden Frömmigkeitsoptionen, die zur entschiedenen Nutzung des von ihm bereitgehaltenen Angebots empfohlen werden. Sie steht damit der zu wahrenden grundlegenden Bedingung christlicher Theologie entgegen, dass Gott nicht das beglückende Resultat unserer Suche nach ihm ist, sondern er erschließt sich im Geschehen seiner Selbstvergegenwärtigung durch seinen Glauben weckenden Geist. Und so kann es in der Substanz eben nicht um unseren Zugriff auf Jesus und die mit ihm zu vollziehenden Inszenierungen gehen, sondern um seinen Zugriff auf uns und die sich darin vollziehende grundlegende Veränderung unserer Wirklichkeitswahrnehmung im Lichte seiner Auferstehung. Der Name Jesus Christus erschließt sich in diesem Geschehen und steht zugleich für dieses Bekenntnis.

    Die unendliche Fülle der von Jesus angefertigten bildlichen und filmischen Veranschaulichungen kann den Umstand nicht verdrängen, dass er sich unseren Bildern entzieht, auch den theologischen Bildern, die wir uns von ihm gemacht haben und machen. Die sich in ihm vollziehende Vergegenwärtigung Gottes lässt sich nicht demonstrieren, weil sich Gott nicht einfach irgendwo antreffen oder gar als Ergebnis eines Beweises als existent statuieren lässt. Gott lässt dadurch von sich reden, dass er vernommen wird. Er wird gehört, weil er in seinem besonderen Geschehen spricht. Deshalb gilt dem Wort Gottes unsere besondere Aufmerksamkeit, eben weil es tut, was es sagt, und gehört wird, indem etwas geschieht. Wenn das Johannes Evangelium Jesus Christus als die Inkarnation des Wortes Gottes bezeugt, macht es explizit, was, wenn auch in unterschiedlichem Verständnis, für alle Zeugnisse des NT implizit fundamental ist, nämlich dass in Jesus Christus der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs (Israels) sein Wort an den von Ewigkeit her erwählten Menschen vernehmen und geschehen lässt. Deshalb steht Jesus Christus im Zentrum des christlichen Glaubens, der nur aus seiner genuinen Verwandtschaft zum Glauben Israels (des Judentums) recht verstanden werden kann.

    Weiterführende Infos SAET

    Weitere Informationen zu Präexistenz und Inkarnation in englischer Sprache finden sich hier:
    Moser, David, Art. Jesus’ Preexistence and Incarnation, in: St Andrews Encyclopaedia of Theology, 20.06.2024 (https://www.saet.ac.uk/Christianity/JesusPreexistenceandIncarnation), abgerufen am 07.10.2025.

    Diese sachliche Konzentration war im Blick, als in einer Situation, in der die Kirche unter dem Druck nationalsozialistischer Ideologeme ihre Orientierung an ihrem Fundament zu verlieren drohte. Die erste These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 bekennt: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“26Heimbucher, Martin/Weth, Rudolf (Hrsg.), Die Barmer Theologische Erklärung, Neukirchen-Vluyn 72009, 37. Wenn Jesus Christus hier für die ganze Reichweite des christlichen Glaubens steht, geht es weder allein um Jesus als Vorbild für die Praxis unserer Frömmigkeit noch um eine problematische Vergottung eines Juden aus der Antike, sondern um das volle Gewicht dessen, was mit der Vorstellung des Wortes Gottes als der tätigen Selbsterschließung Gottes zu verbinden ist. Dabei ist die Menschwerdung des Wortes Gottes (der irdische Jesus) ebenso konkret im Bewusstsein zu halten wie auch umgekehrt Jesus von Nazareth konsequent als Wort Gottes zu verstehen bleibt.

    Wir haben mit dem Namen begonnen. Wenn es um Jesus Christus geht, wird auch die Heiligkeit (vgl. Art. Heilige, das) des Namens Gottes in die Aufmerksamkeit gerückt. Um das Bilderverbot zu wahren und Gottes Heiligkeit nicht anzutasten, sprechen Juden den Namen Gottes nicht aus; um aber von Gott zu reden, wird er u. a. mit dem Platzhalter „der Name“ (HaSchem) benannt in der Hoffnung, dass Gott diesen je neu mit seiner Lebendigkeit ausfüllt. Zwar sprechen die Christen den Namen „Jesus Christus“ aus, aber dabei bleiben sie dazu angehalten, ihrerseits auch den von uns aus unermesslichen Überschuss der Heiligkeit des Namens Gottes zu wahren, um nicht in theologischem Übermut mit eigenen Festlegungen der Lebendigkeit Gottes zu enge Grenzen zu setzen. Gewiss wird sich die Theologie immer wieder neu über ein angemessenes Verständnis Jesu Christi zu verständigen haben. Dabei ist es aber konsequent nicht ihre Aufgabe, einem Menschen aus der Vergangenheit und seiner Lehre zu einer lebendigen Vergegenwärtigung zu verhelfen, sondern sie hat die Aufmerksamkeit immer wieder neu hin zu seiner Selbstvergegenwärtigung und die mit ihr verbundene Wirklichkeitserhellung zu öffnen.27Für Karl Barth oes-gnd-iconwaiting... ist dies Offenhalten der zentrale Hinweis auf die der Theologie auferlegten Methodik; vgl. u. a. KD I/2, 970. Vgl. dazu Weinrich, Michael, Karl Barth, Göttingen 22024, 170–188.

    Sachlich kann es tatsächlich nicht überraschend sein, dass bei der Erläuterung des Namens Jesus Christus fundamentale theologische Probleme angesprochen werden. Um mehr als Prolegomena zu diesen verschiedenen Fragestellungen kann es in diesem Rahmen nicht gehen.

    Worthaus 9.2.3: Der Sohn – Wer ist und wer war Jesus Christus? (Worthaus Podcast), 30.11.2019.

    Weiterführende Literatur

    Hofheinz, Marco/Neumann, Niels (Hrsg.), Fragen nach Jesus, Leipzig 2022.

    Roloff Jürgen, Jesus, München 32004.

    Schröter, Jens, Jesus von Nazaret, Leipzig 62017.

    Theißen, Gerd/Merz, Annette, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 21997.

    Einzelnachweise

    • 1
      Vgl. Reimarus, Hermann Samuel, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes (Bd. I u. II), hrsg. v. Gerhard Alexander, Frankfurt a. M. 1972.
    • 2
      Schellong, Dieter, „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ Rückfragen zur Suche nach dem „historischen Jesus“, in: Marquardt, Friedrich-Wilhelm et al. (Hrsg.), Die Bibel gehört nicht uns (Einwürfe 6), München 1990, 2–47, 29.
    • 3
      Spätestens mit dem Buch von Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung [1906], Nachdruck d. 2. Aufl. 1913, Tübingen 41926.
    • 4
      Vgl. Käsemann, Ernst, Das Problem des historischen Jesus [1953], in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen (Bd. I u. II), Göttingen 1964, I, 187–214. Käsemann vermutet „[e]inigermaßen sicheren Boden“ dort, wo die Jesustradition „weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urchristenheit zugeschrieben werden kann“ (Käsemann, Problem, 205).
    • 5
      Vgl. Vermes, Géza, Jesus the Jew [1973]; deutsch: Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, übers. v. Alexander Samely, bearb. v. Volker Hampel, Neukirchen-Vluyn 1993. Vermes versteht nun Jesus ganz und gar von seinem Judesein her und beschreibt ihn als einen galiläischen Chassid (vgl. Vermes, Jesus, V).
    • 6
      Vgl. dazu Schweitzer, Geschichte; Theißen, Gerd/Merz, Annette, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 21997; Zager, Werner (Hrsg.), Jesusforschung in vier Jahrhunderten, Berlin/Boston 2014.
    • 7
      Vgl. u. a. dazu den prägnanten Beitrag von Ernst Troeltsch, Historische und dogmatische Methode in der Theologie [1898], in: Ders., Gesammelte Schriften II, Tübingen 1913, 729–753 (https://archive.org/details/gesammelteschrif02troe), abgerufen am 23.09.2025.
    • 8
      Strauß, David Friedrich, Das Leben Jesu, kritisch betrachtet (Bd. I u. II), Tübingen 1835/36, III.
    • 9
      Vgl. Strauß, Leben Jesu I, 75.
    • 10
      Strauß, Leben Jesu I, 72.
    • 11
      Strauß, Leben Jesu II, 721.
    • 12
      Vgl. dazu Schellong, Rückfragen, 14.
    • 13
      Vgl. dazu Strauß, Leben Jesu II, 729ff.
    • 14
      Vgl. dazu Wengst, Klaus, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem „historischen“ Jesus, Stuttgart 2013.
    • 15
      Kähler, Martin, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, hrsg. v. Ernst Wolf (ThB 2), München 41969, 16.
    • 16
      Vgl. Kähler, Jesus, 42–44.
    • 17
      Kähler, Jesus, 21.
    • 18
      Kähler, Jesus, 75.
    • 19
      Kähler, Jesus, 51.
    • 20
      Vgl. Schellong, Rückfragen, 17–20.
    • 21
      Ich greife hier den Vorstellungshorizont auf, der von Wengst oes-gnd-iconwaiting... im Blick auf das Wirklichkeitsverständnis der Auferweckung Jesu in Auge gefasst wird: Wengst, Klaus, Ostern. Ein wirkliches Gleichnis, eine wahre Geschichte, München 1991.
    • 22
      Vgl. Schweizer, Eduard, Art. Jesus Christus I, in: TRE 16 (1987), 671–726, 671.
    • 23
      Zum Folgenden vgl. mit je eigenen Akzenten Schweizer, Jesus Christus I 678–726; Roloff, Jürgen, Jesus, München 32004; Schröter, Jens, Jesus von Nazaret, Leipzig 62017.
    • 24
      Vgl. Weinrich, Michael, Die eigentliche ökumenische Frage, in: Ders., Ökumenische Existenz heute (FRTh 17), Göttingen 2025, 197–243, bes. 209–216.
    • 25
      Schweizer, Jesus Christus I, 724.
    • 26
      Heimbucher, Martin/Weth, Rudolf (Hrsg.), Die Barmer Theologische Erklärung, Neukirchen-Vluyn 72009, 37.
    • 27
      Für Karl Barth oes-gnd-iconwaiting... ist dies Offenhalten der zentrale Hinweis auf die der Theologie auferlegten Methodik; vgl. u. a. KD I/2, 970. Vgl. dazu Weinrich, Michael, Karl Barth, Göttingen 22024, 170–188.
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