Identität

Nach einer lebensweltlichen Hinführung (1) erläutert der Artikel die beiden wichtigsten Quellen des Identitätsbegriffs: die neuzeitliche Philosophie (2) sowie die moderne Sozialpsychologie (3). Die religiöse Dimension der Identität (4) wird exemplarisch anhand der Symbole „Schöpfung“, „innerer Mensch“ und „Erlösung“ ausgewiesen (5).

Table of Contents

    1. Identitätsfrage und Identitätsbegriff

    Die Frage nach der eigenen Identität gehört zu den Grundfragen menschlichen Lebens. Sie kann sich in unterschiedlichen sozialen und biographischen Zusammenhängen stellen. Nach Erik H. Erikson oes-gnd-iconwaiting... ist es vorrangig die Entwicklungsphase der Adoleszenz, in der die Identitätsfrage zeitweilig eine dominierende Bedeutung erlangt. Aber nicht nur Jugendliche stellen sich Identitätsfragen. Angesichts der Fragmentierung des spätmodernen Lebens in eine Vielzahl von Rollen und Bezügen wird die Arbeit an der eigenen Identität vielmehr zu einem potentiellen Dauerthema. Soziale Medien, Techniken der Selbstvermessung und -optimierung sowie die Institutionalisierung von Angeboten professioneller Selbstthematisierung (Psychoanalyse, Beratung, Coaching) tragen ihr Übriges zu dieser Dynamik bei. Nicht immer und überall wird die Identitätsfrage dabei explizit thematisch. Wohl aber pluralisieren sich in der spätmodernen Gesellschaft die Anlässe und Situationen, in denen sich Horizonte der Reflexion und Repräsentation des individuellen Selbstseins auftun.

    Dass die Identitätsfrage zu den existenziellen Grundfragen des menschlichen Lebens gehört, bedeutet nicht, dass sie damit immer schon als eine religiöse Frage im engeren Sinne qualifiziert wäre. Wohl aber eröffnet die Arbeit am Identitätsbegriff zahlreiche Bezüge zu Themen der Philosophie und Religion. Von daher ist die Identitätsthematik auch ein beliebter Ankerpunkt in Curricula des Religionsunterrichts. Die Bedeutsamkeit biblisch-religiöser Themenbestände wird hier dadurch verdeutlicht, dass sie als Bearbeitungs- und Reflexionshorizonte identitätsbezogener Fragestellungen ins Spiel gebracht werden.

    In analytischer Hinsicht legt es sich vor diesem Hintergrund nahe, zwischen der lebens- und alltagsweltlichen Identitätsfrage und der Logik und Geschichte des Identitätsbegriffs zu unterscheiden. Eine vertiefte Arbeit am Identitätsbegriff bringt nun allerdings Herausforderungen eigener Art mit sich. Denn dieser ist im 20. Jahrhundert zu einer inter- und transdisziplinären Kategorie avanciert, in der sich Ausdifferenzierungsprozesse der Sozial- und Humanwissenschaften wie in einem Panoramaspiegel reflektieren. Theorien der Identität wurden u. a. aus psychologischer, soziologischer, kulturwissenschaftlicher und gendertheoretischer Perspektive formuliert, oft mit einem emanzipatorischen Gestus, der die Identität des Individuums emphatisch gegen die gesellschaftlichen Systemzwänge in Stellung brachte. Auf die sozialwissenschaftliche Konjunktur des Identitätsbegriffs seit den 1960er Jahren reagierten unterschiedliche Programme der Identitätskritik, etwa mit der Behauptung, Identität sei die „Urform der Ideologie“ (Theodor W. Adorno oes-gnd-iconwaiting...). Aktuelle Bedeutung erhält diese Kritik angesichts der Vereinnahmung des Identitätsbegriffs durch die der neuen Rechten zuzuordnende „identitäre Bewegung“.

    Entsprechend vielfältig wie die wissenschaftlichen Konzepte und politischen Programme, die sich mit dem Identitätsbegriff verbinden lassen, zeigen sich auch die Möglichkeiten, ihn theologisch zu rezipieren. Der Identitätsbegriff wird hier u. a. als Rahmentheorie zur Beschreibung und Analyse religiöser Entwicklungs- und Bildungsprozesse (James W. Fowler oes-gnd-iconwaiting..., Hans-Jürgen Fraas oes-gnd-iconwaiting...), als interdisziplinäre Schnittstelle für den Dialog von Theologie und Sozialwissenschaften (Wolfhart Pannenberg oes-gnd-iconwaiting...) sowie als hermeneutischer Schlüssel zur Interpretation dogmatischer Topoi wie etwa dem Sündenbegriff (Gunda Schneider-Flume oes-gnd-iconwaiting...) in Anspruch genommen.

    2. Personale Identität als Thema der neuzeitlichen Philosophie

    Dem Ausdruck „Identität“, wie er heute alltagssprachlich Verwendung findet, liegt eine weitverzweigte Begriffsgeschichte zugrunde. Eine Zäsur in dieser Geschichte stellt das Werk des englischen Aufklärungsphilosophen John Locke oes-gnd-iconwaiting... (1632–1704) dar. Mit seinen Ausführungen über Identity and Diversity in seiner erkenntnistheoretischen Hauptschrift, dem „Versuch über den menschlichen Verstand“ (An Essay Concerning Human Understanding), brachte Locke eine Debatte in Gang, die bis heute kontrovers geführt wird.1Vgl. Locke, John, An Essay Concerning Human Understanding, hrsg. von Peter H. Nidditch, Oxford 1975 (deutsch: Versuch über den menschlichen Verstand, hrsg. u. übers. von Carl Winckler, Hamburg 52000). Die Bedeutung von Lockes Ausführungen für die Identitätstheorie liegt in vier Punkten. Erstens: Locke knüpft die Frage nach der Identität an bestimmte Merkmale oder Kriterien, die den Begriff der infragestehenden Entität konstituieren. Die Identität, die eine Sache ausmacht, lässt sich nicht unabhängig von dem Begriff bestimmen, auf den diese gebracht wird. Auf dieser Basis wirft Locke zweitens die Frage nach der personalen Identität auf. Um definieren zu können, worin die Identität einer Person besteht, ist folglich zunächst der Begriff der Person selbst zu analysieren. Was nun diese Begriffsanalyse angeht, definiert Locke drittens Personen über ihre Fähigkeit, sich selbstreflexiv auf das, was sie tun und denken, beziehen zu können. Eine Person weiß sich (potentiell) als Akteurin ihrer eigenen Handlungen und Gedanken. Entsprechend besteht die Identität einer Person viertens in dem mentalen Raum, in dem sie sich ihre Bewusstseins- und Handlungsvollzüge als ihre zu Bewusstsein bringen kann. Personale Identität ist eine Identität im Bewusstsein, die sich bevorzugt im Medium der Erinnerung realisiert.

    Lockes oes-gnd-iconwaiting... Argumentation wurde vielfach positiv rezipiert (etwa von Immanuel Kant  oes-gnd-iconwaiting...), hat aber auch Kritik auf sich gezogen. Schon Joseph Butler oes-gnd-iconwaiting... (1692–1752) formulierte den Einwand, dass der Versuch, personale Identität auf den Begriff der Erinnerung zu gründen, zirkulär sei, da im Phänomen der Erinnerung die Identität der erinnernden Instanz mit dem Subjekt ihrer erinnerten Zustände bereits vorausgesetzt sei. Andere halten an Lockes ersten beiden Grundeinsichten fest, definieren den Begriff der Person aber nicht mentalistisch, sondern biologistisch, und kommen folglich auch zu anderen Kriterien der personalen Identität.2Vgl. Quante, Michael, Personales Leben und menschlicher Tod. Personale Identität als Prinzip der biomedizinischen Ethik, Frankfurt a. M. 2002. Alternativ zu Lockes „Erinnerungskriterium“ wird so ein „Körper-“ oder auch ein „Hirnkriterium“ diskutiert. Den Reduktionismen, die mit diesen Positionen in ihrer Einseitigkeit verbunden sind, wird man nur dadurch entgehen können, dass personale Identität phänomenologisch gestuft gedacht wird – angefangen bei der Persistenz des biologischen Organismus über eine Kontinuität des psychischen Erlebens bis hin zu höherstufigen Formen des reflexiven Selbst- und Ichbewusstseins.

    3. Soziologische Dimensionen der Identität

    Relativ unabhängig von der durch Locke oes-gnd-iconwaiting... angestoßenen philosophischen Debattenlage entwickelte sich im 20. Jahrhundert ein eigener, sozialwissenschaftlicher Identitätsdiskurs.3Vgl. Henrich, Dieter, Identität. Begriffe, Probleme, Grenzen, in: Marquard, Odo/Stierle, Karlheinz (Hrsg.), Identität, Poetik und Hermeneutik VIII, München 1979, 133–186. Seine beiden Hauptquellen waren die Freudianische Psychoanalyse und Ich-Psychologie (Erik H. Erikson oes-gnd-iconwaiting...) auf der eine Seite, die auf Georg Herbert Mead oes-gnd-iconwaiting... zurückgehende Interaktions- und Rollentheorie (Erving Goffman oes-gnd-iconwaiting..., Lothar Krappmann oes-gnd-iconwaiting...) auf der anderen Seite. Dabei wurde der Identitätsbegriff entlang unterschiedlicher Leitdifferenzen erörtert.

    Biographie und Lebenslauf: Die erste Differenz verweist auf die biographische oder „persönliche“ Identität. Sie kann in erster Annäherung als Summe der personenbezogenen Daten gefasst werden, die über ein Individuum gesammelt werden können. Nun steht diese Datenmenge aber niemandem, auch der betreffenden Person selbst nicht, jemals vollständig zur Verfügung. Je nach Anlass und Situation werden vielmehr bestimmte Elemente der eigenen Lebensgeschichte ausgewählt. Vor Gericht oder während einer medizinischen Anamnese werden andere Teile der Lebensgeschichte erzählt als bei einem ersten Date. Daher bietet es sich an, terminologisch zwischen „Biographie“ und „Lebenslauf“ zu unterscheiden,4Vgl. Hahn, Alois, Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt am Main 2000, 97–115. wobei Biographien als anlassbezogene Präsentationen individueller Lebensgeschichten definiert werden können. Die Pointe liegt hier ganz darauf, dass das Individuum keine feststehende und objektive Biographie besitzt, sondern sie je Situation immer neu konstruiert bzw. narrativ modifiziert.

    Identität und soziale Rolle: Soziologisch kann eine „Rolle“ als Bündel an Erwartungen definiert werden, die mit einer bestimmten gesellschaftlichen Position verknüpft sind. So gibt es bestimmte Berufsrollen oder auch Rollen innerhalb des Familiensystems. Rollen sind immer Stereotype. Die in ihnen gebündelten Erwartungen speisen sich aus einem Reservoir soziokulturell geronnener Schemata und normativer Deutungsmuster.

    Aus Sicht kritischer sozialwissenschaftlicher Theorien wurde der homo sociologicus, der als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft bestimmte „ideale“ Rollenerwartungen erfüllen muss, als ein entfremdetes Geschöpf angesehen. Rollen würden den Menschen von der Gesellschaft oktroyiert und sie daran hindern, ihr wahres, freies Selbst auszuleben. Andere Soziolog*innen argumentieren, dass es ein solches „wahres“, völlig ungebundenes Selbst jenseits aller gesellschaftlichen Erwartungshorizonte gar nicht gibt (Friedrich Tenbruck oes-gnd-iconwaiting...). Das individuelle Selbst existiert nicht jenseits der Rollen, die ein Individuum spielt, sondern zeigt sich ausschließlich in der Art und Weise, wie es dies tut und dabei zwischen seinen unterschiedlichen Rollen balanciert.

    Zusammenfassend kann Identität aus soziologischer bzw. sozialpsychologischer Perspektive definiert werden nicht als Besitz, über den es ein für alle Mal verfügt, sondern als soziale Leistung, die es kommunikativ zu erbringen hat und die ein ganzes Spektrum an sozialen Kompetenzen beinhaltet bzw. fordert – wie bspw. die Fähigkeiten zur Rollendistanz, Selbstdarstellung und Ambiguitätstoleranz.5Vgl. Krappmann, Lothar, Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen (1969), Stuttgart 1993.

    Was macht die Identität einer Person aus? Was heißt es, trotz Veränderungen dieselbe zu bleiben? Welche Aspekte prägen Identitäten, welche davon haben wir selbst in der Hand und welche nicht? Und schließlich: Wie können wir soziale Aspekte der Identität verstehen, zum Beispiel die Gruppenzugehörigkeit als Frau? Diesen Fragen widmet sich die Podcastfolge zu Identität des Podcasts mitgedacht: Identität (mitgedacht, Der denXte-Podcast zu Euren philosophischen Fragen), 31.10.2024.

    4. Identität und Religion

    Identität ist eine empirisch vermittelte Größe – und geht dennoch nicht in ihren empirischen Vermittlungszusammenhängen auf. Das individuelle Selbstsein erschöpft sich nicht in den Rollen, in denen es für die anderen greifbar wird. Zwar sind alle materialen Bestimmungen des Selbstseins, alle konkreten Rollenzuschreibungen und Selbstcharakterisierungen durch den Sozialzusammenhang vermittelt sowie alle Inhalte des konkreten Identitätsbewusstseins vom Zusammenleben mit den anderen geprägt. Aber zugleich ist das soziale Selbst das Selbst eines (empirischen) Subjekts, das in seinem Mitsein mit den anderen auf eine unableitbare Weise für sich ist. In diesem präzisen Sinn haftet der Identität ein Moment der Unveräußerlichkeit an.

    Aber selbst in seinem reflexiven Für-sich-Sein bleibt sich das Selbst im Letzten entzogen. Denn allen Versuchen seiner reflexiven Selbsterfassung liegt ein reflektierendes bzw. „bestimmendes Selbst“ (Kant oes-gnd-iconwaiting...) bereits zugrunde, das sich der reflexiven Selbsteinholung eben darum entzieht, weil es in jedem Versuch seiner Einholung bereits als einholende Instanz in Anspruch genommen ist. Die Identität von bestimmendem („subjektivem“) und bestimmtem („objektivem“) Selbst, die im Akt der Selbstreflexion immer schon vorausgesetzt ist, ist für das Subjekt folglich selbst nicht noch einmal einsehbar. Seine Identität, aus der es gleichsam in unhinterfragter „Selbstvertrautheit“ (Dieter Henrich oes-gnd-iconwaiting...) lebt, bleibt ihm in dem Ursprung ihres Wesens undurchsichtig und verborgen.

    Die Spannung von Selbstvertrautheit und Selbstentzogenheit konstituiert die Identität des Subjekts in ihrer abstrakten, allen empirischen Selbstbezügen bereits zugrundeliegenden und insofern transzendentalen Grundstruktur. Hier liegt dann aber auch die religionsphilosophische Bedeutung des Themas begründet. Denn die skizzierte Grundstruktur bringt es mit sich, dass das Bewusstsein, das das Subjekt von sich selbst und seiner Identität hat, nicht in der Sphäre des empirisch Vorfindlichen aufgeht. Es weiß sich vielmehr potentiell als „mehr“ und „anderes“, als jemals empirisch über es ausgemacht werden könnte. Sein konkretes Identitätsbewusstsein weist über sich selbst hinaus; anders: es schließt einen Aspekt der Selbsttranszendenz in sich ein. Die identitätstheoretische Funktion von Religion kann vor diesem Hintergrund darin erblickt werden, die transzendentale, allen empirischen Selbstmanifestationen bereits zugrundeliegende Grundstruktur der Identität im Medium symbolischer Kommunikation zum Ausdruck zu bringen und auf solche Weise den beteiligten Subjekten mittelbar zugänglich zu machen. Wie das im Einzelnen aussehen kann, soll im Folgenden anhand von Beispielen aus der materialen Dogmatik exemplarisch verdeutlicht werden.

    Weiterführende Infos WiReLex

    Eine religionspädagogische Vertiefung des Themas „Religiöse Identität“ findet sich hier: Altmeyer, Stefan, Art. Identität, religiöse, in: WiReLex (https://www.die-bibel.de/ressourcen/wirelex/8-lernende-lehrende/identitaet-religioese), abgerufen am 07.07.2025.

    5. Identität und die Symbolwelt des christlichen Glaubens

    Religion wird als bedeutsam erfahren, wo sie Identitätsfragen aufgreift, vertieft und mithilfe einer existenziellen Symbolsprache artikuliert. Insbesondere unter den oben namhaft gemachten spätmodernen Bedingungen erscheinen viele Inhalte und Themen des Christentums in dem Maß als lebensweltlich relevant, in dem sie als potentielle Antworten auf Identitätsfragen erkennbar werden.

    Dabei ist wichtig zu betonen, dass es nicht die eine Identitätsfrage gibt, sondern eine ganze Vielzahl von Fragen, die um das menschliche Selbstsein kreisen. Identität wird thematisch relevant in Konfliktsituationen und Differenzerfahrungen wie biographischen Kontingenzerfahrungen und Krisen, in Erfahrungen von sozialer Devianz und Anderssein, aber auch in inneren Erschütterungen und Gewissenskrisen, in denen das eigene Selbstbild fraglich wird. Je nachdem, wie bzw. als was Identität zum Thema wird, ist dann aber auch jeweils ein anderes religiöses Motiv berührt. Das soll exemplarisch anhand von drei dogmatischen Themenfeldern gezeigt werden.6Zu weiteren dogmatischen Korrelationen zwischen Identität und Religion und ihrer religionsphilosophischen Fundierung vgl. Zarnow, Christopher, Identität und Religion. Philosophische, soziologische, religionspsychologische und theologische Dimensionen des Identitätsbegriffs, Tübingen 2010, 303–356.

    Schöpfung: Das Bewusstsein personaler Identität enthält Elemente von Faktizität und Freiheit in einer Spannungseinheit zusammen. Auf der einen Seite findet sich das menschliche Individuum unter Voraussetzungen vor, die es sich selbst nicht ausgesucht hat. Die eigene Identität erscheint in dieser Hinsicht immer schon bestimmt von physiologischen, psychologischen und sozio-kulturellen Gegebenheiten, die definieren, „wer ich bin“. Auf der anderen Seite ist diese Identität doch nur insofern und insoweit als eine gegebene bestimmt, als sie dem Subjekt als seine gegeben und darin als zu verwirklichende Aufgabe übergeben ist. In Anlehnung an die Existenzphilosophie Martin Heideggers oes-gnd-iconwaiting... formuliert: Das Individuum hat nur ein Selbst, insofern und insoweit es dieses Selbst zu sein hat.

    Als Ort, an dem sich diese spannungsvolle Grundstruktur der Identität innerhalb des christlichen Glaubens symbolisch-religiös vertieft, kann der Schöpfungsglaube bestimmt werden. Als Teil der kreatürlichen Welt erfährt sich das Individuum als „von anderwärts her“ (Friedrich Schleiermacher oes-gnd-iconwaiting...) bestimmte Größe. Es verdankt sein eigenes Leben einem transzendenten Ursprung. Dieser erscheint nun als dasjenige „woher“, von dem es sich gegeben ist. Zugleich ist neben dem Moment der Faktizität auch dasjenige der Freiheit im Schöpfungsglauben aufgehoben: Als „wenig niedriger als Gott“ (Psalm 8,6Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott,mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.Zur Bibelstelle) gemachtes Wesen ist es mit einem Auftrag zur Gestaltung und Bildung der Welt, damit aber auch des eigenen Selbstseins bestimmt. Die Aufgabe der Selbstverwirklichung ist so gesehen nicht als Ausdruck sündhafter Verkehrtheit zu werten (so etwa bei Wolfhart Pannenberg oes-gnd-iconwaiting...), sondern bereits in der geschöpflichen Natur des Menschen angelegt. In besonderer Weise kommt das im Symbol der Gottebenbildlichkeit des Menschen zum Ausdruck.

    Innerer Mensch: Die Frage, „wer man ist“, stellt sich immer schon im Horizont konkreter Gruppenzugehörigkeiten und daran geknüpfter Rollenschemata. Identität erweist sich somit einerseits vermittelt und inhaltlich bestimmt durch die soziale Sphäre, in der sich das Individuum bewegt. Es „hat“ seine Identität ausschließlich als Teil der Gruppen, denen es angehört und durch die es sich definiert – das gilt selbst noch im Modus der Auflehnung und Rebellion. Andererseits kann sich das Individuum als personales Subjekt von allen gesellschaftlichen Objektivationen seiner Identität grundsätzlich unterscheiden. Das Ich erschöpft sich nicht in der Summe der sozialen Selbstdarstellungen, in denen es in Erscheinung tritt. Mit dem Thema der Identität ist folglich zugleich das der Differenz des Ichs zu den empirischen Manifestationen seines sozialen Selbstseins gesetzt.

    Auch diese Spannung findet ihren Ausdruck in der religiösen Symbolwelt. Etwa lässt sich an das Motiv des „inneren Menschen“ denken, das sich in Variationen bei Platon oes-gnd-iconwaiting..., Paulus oes-gnd-iconwaiting... oder Luther oes-gnd-iconwaiting... findet.  Während der „äußere Mensch“ dadurch definiert ist, wie man vor den anderen dasteht, entspringt der menschlichen Seele der Wunsch nach einem Gegenüber, das sie so erkennt, wie sie davon unabhängig, gleichsam „wirklich“ ist. Nun kann dieses Gegenüber aber kein Anderes nach der Art sein, wie es die anderen Menschen sind. Das gesuchte Gegenüber soll als „Herzenskünder*in“ dem eigenen Selbst nicht „äußerlich“ bleiben, sondern – als ein Spiegel des wahren Ichs – inwendig nahe sein. Coram Deo (vor Gott) gewinnt der Mensch folglich keine neue soziale Identität, aber ein neues Verständnis seiner selbst. Das Gottesverhältnis erscheint als religiös vertiefte Form des Selbstverhältnisses. Das Sprachbild des inneren Menschen steht so für einen unverrechenbaren, sich nicht in den empirischen Anerkennungsverhältnissen erschöpfenden Teil der Ich-Identität.

    Erlösung: Ins Spektrum der Erfahrungshorizonte, in denen das Ich und seine Identität thematisch werden, gehören Erfahrungen der Selbsttranszendenz. In der Bewegung einer „Transzendenz des Ego“ (Jean-Paul Sartre oes-gnd-iconwaiting...) erfährt das Individuum eine Entgrenzung seiner selbst und erlebt ein universales Gefühl von Verbundenheit. Analoge Erfahrungen sind aus der Geschichte der christlichen Mystik bekannt. Schon Paulus oes-gnd-iconwaiting... beschreibt Erlösung als eine Art mystische Relativierung des eigenen Egos: „Darum lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir!“ (Gal 2,20Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.Zur Bibelstelle). Das religiöse Bewusstsein versteht sich gleichsam von einem Standpunkt außerhalb seiner selbst her; es bezieht die Position einer – in diesem Fall christologisch vermittelten – „exzentrischen Positionalität“ (Helmuth Plessner oes-gnd-iconwaiting...). Dieser Standpunktwechsel hat aber insofern eine „erlösende“ Qualität, als er den Menschen punktuell aus seiner ängstlichen Ich-Befangenheit und Selbstfixierung befreit. Die Identitätsfrage findet damit eine ganz eigene religiöse Antwort: Auch vor Gott bleibt sich der Mensch selbst ein Rätsel. Aber er kann es nun dabei bewenden lassen, weil er sich, wenn er sich auch selbst nicht erkennt, von Gott erkannt weiß.7Vgl. die Schlusszeilen von Dietrich Bonhoeffers oes-gnd-iconwaiting... Gedicht „Wer bin ich?“: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, oh Gott!“ (Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Gütersloh 222016, 188). Eine religiöse Antwort findet die Identitätsfrage somit zuletzt als ihre Aufhebung in einem Vertrauen, das sie von sich selbst in ihrer existenziellen Dringlichkeit entlastet.

    Further Literature

    Personale Identität als Thema der analytischen Philosophie

    Henrich, Dieter, Identität. Begriffe, Probleme, Grenzen, in: Marquard, Odo/Stierle, Karlheinz (Hrsg.), Identität, Poetik und Hermeneutik VIII, München 1979, 133–186.

    Locke, John, An Essay Concerning Human Understanding, hg. von Peter H. Niddich, Oxford 1975 (deutsch: Versuch über den menschlichen Verstand, hg. u. übers. von Carl Winckler, Hamburg 52000).

    Quante, Michael (Hrsg.), Personale Identität, Paderborn 1999.

    Quante, Michael, Personales Leben und menschlicher Tod. Personale Identität als Prinzip der biomedizinischen Ethik, Frankfurt a. M. 2002.

    Shoemaker, Sydney, Self-Reference and Self-Awareness, in: The Journal of Philosophy 65 (1968), 555–567.

    Der sozialwissenschaftliche Identitätsdiskurs

    Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966.

    De Levita, David J., Der Begriff der Identität, Frankfurt a. M. 1971.

    Eickelpasch, Rolf/Rademacher, Claudia, Identität, Bielefeld 2004.

    Erikson, Erik H., Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. 1966.

    Goffman, Erving, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a. M. 1967.

    Goffman, Erving, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1969.

    Hahn, Alois, Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt a. M. 2000.

    Keupp, Heiner/Höfer, Renate (Hrsg.), Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung, Frankfurt a. M. 1997.

    Krappmann, Lothar, Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, Stuttgart 81993.

    Mead, Georg Herbert, Die soziale Identität, in: Joas, Hans (Hrsg.), Georg Herbert Mead. Gesammelte Aufsätze 1, Frankfurt a. M. 1980, 241–249.

    Mead, Georg Herbert, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1968.

    Religionspädagogische und praktisch-theologische Perspektiven auf Identität

    Fowler, James W., Stufen des Glaubens. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn, Gütersloh 1991.

    Fraas, Hans-Jürgen, Glaube und Identität. Grundlegung einer Didaktik religiöser Lernprozesse, Göttingen 1983.

    Klessmann, Michael, Identität und Glaube. Zum Verhältnis von psychischer Struktur und Glaube, München 1980.

    Luther, Henning, Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: ders. (Hrsg.), Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 160–182.

    Wippermann, Carsten, Religion, Identität und Lebensführung. Typische Konfigurationen in der fortgeschrittenen Moderne. Mit einer empirischen Analyse zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Opladen 1998.

    Identität als Gegenstand von Religionsphilosophie und Systematischer Theologie

    Henrich, Dieter, Bewusstes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999.

    Pannenberg, Wolfhart, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983.

    Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975.

    Schneider-Flume, Gunda, Die Identität des Sünders. Eine Auseinandersetzung theologischer Anthropologie mit dem Konzept der psychosozialen Identität Erik H. Eriksons, Göttingen 1985.

    Zarnow, Christopher, Identität und Religion. Philosophische, soziologische, religionspsychologische und theologische Dimensionen des Identitätsbegriffs, Tübingen 2010.

    Notes

    • 1
      Vgl. Locke, John, An Essay Concerning Human Understanding, hrsg. von Peter H. Nidditch, Oxford 1975 (deutsch: Versuch über den menschlichen Verstand, hrsg. u. übers. von Carl Winckler, Hamburg 52000).
    • 2
      Vgl. Quante, Michael, Personales Leben und menschlicher Tod. Personale Identität als Prinzip der biomedizinischen Ethik, Frankfurt a. M. 2002.
    • 3
      Vgl. Henrich, Dieter, Identität. Begriffe, Probleme, Grenzen, in: Marquard, Odo/Stierle, Karlheinz (Hrsg.), Identität, Poetik und Hermeneutik VIII, München 1979, 133–186.
    • 4
      Vgl. Hahn, Alois, Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt am Main 2000, 97–115.
    • 5
      Vgl. Krappmann, Lothar, Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen (1969), Stuttgart 1993.
    • 6
      Zu weiteren dogmatischen Korrelationen zwischen Identität und Religion und ihrer religionsphilosophischen Fundierung vgl. Zarnow, Christopher, Identität und Religion. Philosophische, soziologische, religionspsychologische und theologische Dimensionen des Identitätsbegriffs, Tübingen 2010, 303–356.
    • 7
      Vgl. die Schlusszeilen von Dietrich Bonhoeffers oes-gnd-iconwaiting... Gedicht „Wer bin ich?“: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, oh Gott!“ (Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Gütersloh 222016, 188).
    Cite as

    Print