1. „Gabe“: Worum es geht
„Gabe“ ist ein Begriff der Alltagssprache. So meinen wir intuitiv zu wissen, was damit gemeint ist. In Wirklichkeit werden damit jedoch sehr unterschiedliche Praktiken bezeichnet, die sich auch zwischen verschiedenen Kulturen unterscheiden können. So ist es nicht verwunderlich, dass es auch eine ganze Reihe von zum Teil konkurrierenden Theorien gibt, was eine Gabe sei.
In der Theologie ist die Rede von der Gabe zum einen in der Ethik wichtig (vgl. Art. Gabe, ethisch). Zum anderen wird sie als Metapher zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen verwendet.
Dabei sind sich alle einig, dass sich von Gott als Geber und den Menschen als Empfangenden sprechen lässt. Alles Weitere ist jedoch umstritten: Was genau gibt Gott den Menschen? Ist diese Gabe ganz und gar einseitig, oder geben auch wir? Und wenn ja, geben wir Gottes Gaben an die Nächsten weiter, oder geben wir – auch – unsererseits eine Gabe an Gott? Solche Fragen werden vor allem im Blick auf die Rechtfertigung bzw. Gnade, das Opfer und das Herrenmahl gestellt. Dabei begegnen einerseits klassische kontroverstheologische Problemstellungen wieder. Andererseits hat sich das Modell der Gabe als hilfreich erwiesen, um trotz verschiedener konfessioneller Akzente eine gemeinsame Sprache zu finden.
Ebenso lassen sich mit Hilfe der Gabe wesentliche Überzeugungen des Christentums in einer Weise formulieren, die näher an heutigen Verstehenshorizonten liegen als manche klassischen Konzepte wie z. B. „Rechtfertigung“ oder „Opfer“.
2. Zentrale Fragen in der Forschung zur Gabe
Forschungen zur Gabe finden sich vor allem seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts, zunächst vorwiegend in den Sozialwissenschaften und in der Philosophie. Intensivere theologische Reflexionen setzen erst später ein und knüpfen in aller Regel an die Forschungen in den anderen Disziplinen an.
Ein zentraler Referenzpunkt für das gesamte Forschungsfeld ist der Text „Die Gabe“ (orig. Essai sur le don) von Marcel Mauss .1Vgl. Mauss, Marcel, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 21994 (orig. 1924/25). Die Interpretationen dieses Textes gehen freilich weit auseinander.2Vgl. Moebius, Stephan/Papilloud, Christian (Hrsg.), Gift – Marcel Mauss’ Kulturtheorie der Gabe, Wiesbaden 2006; Hénaff, Marcel, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a. M. 2009; Hoffmann, Veronika, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg i. Br. 2013.
Einige auch für die Theologie wichtige Fragen, die in diesem Zusammenhang gestellt werden, lauten:
- Ist die Gabe (zumindest idealerweise) einseitig: der eine gibt, der andere empfängt, ohne Erwartung oder sogar Verpflichtung zu einer Gegengabe?3Vgl. Derrida, Jacques, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993; Wohlmuth, Josef, Die theologische Bedeutung des Gabendiskurses bei Emmanuel Lévinas, Jacques Derrida und Jean-Luc Marion, in: Rosenberger, Michael, et al. (Hrsg.), Geschenkt – umsonst gegeben? Gabe und Tausch in Ethik, Gesellschaft und Religion (Linzer philosophisch-theologische Beiträge 14), Frankfurt a. M. et al. 2006, 91–120. Manche betrachten dies als die Idealform der Gabe: eine Gabe, die von der Geberin ganz und gar uneigennützig gegeben wird, ohne jede Erwartung für sich selbst. Diese Gabe wird als ein reines Geschenk gedacht, das möglicherweise sogar gegeben wird, ohne dass die Geberin sich als solche zu erkennen gibt. Damit soll die Freiheit der Empfängerin gewahrt werden. Andere fragen hingegen, ob Gaben nicht wesentlich mit Beziehungen (vgl. Art. Relation) zu tun haben.4Vgl. Hénaff, Preis; Ricœur, Paul, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt a. M. 2006; theologisch: Saarinen, Risto, God and the Gift. An Ecumenical Theology of Giving, Collegeville/Minnesota 2005; Hoffmann, Skizzen. Wenn der Geber eine Beziehung mit dem Empfänger aufnehmen oder erhalten will, dann muss die Gabe notwendig ein Element der Gegenseitigkeit enthalten – angefangen bei der Anerkenntnis des Empfängers, eine Gabe erhalten zu haben, über seinen Dank bis hin zu einer möglichen Gegengabe. Außerdem wird gegenüber dem Ideal der strikt einseitigen Gabe angemerkt, dass solche Gaben auch in der Gefahr sein können, eine Asymmetrie zwischen Geberin und Empfängerin herzustellen. Der „großzügige“ Geber könnte zugleich ein „großer Geber“ sein, der Empfänger hingegen klein, passiv, abhängig, ohne Handlungsfähigkeit. Die doppeldeutige Aussage, dass jemand von einem anderen „nichts erwartet“, verdeutlicht diese Gefahr.
- Was ist die Funktion der Gabe? Der oben genannte Streit scheint kaum lösbar, wenn man nach „der“ („eigentlichen“) Gabe fragt und alle anderen Figuren des Gebens als problematisch betrachtet oder gar nicht unter den Begriff „Gabe“ rechnen will. Vielmehr ist es wichtig, die unterschiedlichen Funktionen verschiedener Gaben zu unterscheiden. Geht es z. B. um humanitäre Hilfeleistung, wird die Gabe oft tatsächlich einseitig sein. Ihr wesentlicher Zweck liegt hier in der Übertragung eines Gutes, das eine Not auf Seiten des Empfängers lindert. Freilich ist es auch hier wichtig, aufmerksam zu sein auf die mögliche Gefahr, dass der Empfänger sich gedemütigt fühlen oder abhängig gemacht werden kann. Geschenke funktionieren dagegen häufiger nach einer Beziehungslogik: Nicht der Nutzwert steht im Vordergrund. Man verschenkt keine Pralinen, damit der Empfänger satt wird. Solche Gaben stehen vielmehr im Dienst der Anbahnung oder Fortsetzung von Sozialbeziehungen. Das kann im Einzelnen sehr verschieden aussehen. Eltern werden z. B. ihren Kindern häufig Dinge schenken, die durchaus auch einen Nutzwert haben, während die Geschenke von Kindern an ihre Eltern – z. B. ein selbst gemaltes Bild – in der Regel wenig bis keinen ökonomischen Wert besitzen. Dennoch werden auch diese sehr unterschiedlichen Gaben als gegenseitige Gaben wahrgenommen, die eine spezifische Beziehung ausdrücken. Eine Gegenseitigkeit des Gebens schließt folglich nicht ein, dass die Gaben gleichwertig sein müssen, wie das beim Tausch der Fall ist.
- Worin besteht im Letzten die jeweilige Gabe? Diese Frage hängt eng mit der Funktion der Gabe zusammen: Steht das gegebene Objekt im Zentrum? Oder gibt die Geberin der Empfängerin wesentlich ihre Anerkennung, und die Gabe ist das sinnenfällige Symbol dafür? Als solche Gaben lassen sich beispielsweise Formen der Höflichkeit betrachten: Ich grüße jemanden und signalisiere ihm damit, dass ich ihn wahrnehme und ihm nicht böse bin. Gibt sich unter Umständen der Geber – symbolisch und in mehr oder weniger intensiver Form – selbst? Dass „etwas vom Geber“ gewissermaßen an einer Gabe „hängt“, wird in besonderer Deutlichkeit für Gabepraktiken in vorstaatlichen Gesellschaften beschrieben. Aber wir kennen es auch heute noch, dass ein Gegenstand einen besonderen Wert hat, weil er „das Geschenk von …“ ist und etwas von der Geberin sich bleibend mit diesem Geschenk verbindet.
Diese wenigen Beispiel zeigen freilich idealtypische Unterscheidungen. In der Praxis sind die Übergänge zwischen verschiedenen Formen des Gebens zum Teil fließend.5Vgl. Davis, Natalie Zemon, Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance, München 2002.
3. „Gabe“ als Metapher für das Verhältnis von Gott und Mensch
In der Theologie wird etwa seit der Jahrtausendwende verstärkt über die Gabe nachgedacht.6Eine diesbezügliche Pionierarbeit ist Saarinen, God. Vgl. auch Hoffmann, Veronika (Hrsg.), Die Gabe – ein „Urwort“ der Theologie? Frankfurt a. M. 2009; Holm, Bo Kristian/Widmann, Peter (Hrsg.), Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology (Religion in Philosophy and Theology 37), Tübingen 2009; Bruckmann, Florian (Hrsg.), Phänomenologie der Gabe. Neue Zugänge zum Mysterium der Eucharistie (QD 270), Basel 2015; Hoffmann, Veronika et al. (Hrsg.), Die Gabe. Zum Stand der interdisziplinären Diskussion, Freiburg i. Br. 2016. Die Bedeutung für die Ethik kam bereits zur Sprache (s. auch Gabe, ethisch). Ein Verständnis von Schöpfung als Gabe drückt die Überzeugung aus, dass „von Anfang an“ und auch in der nichtmenschlichen Schöpfung die Welt unter dem Zeichen der unbedingten Zuwendung Gottes steht. Gottes bedingungsloses Geben gibt Leben und lässt leben. Die gesamte Wirklichkeit und Gottes Wirken in ihr lassen sich nicht nur als Gabe, sondern noch genauer als ein „Überfließen“ desjenigen wechselseitigen Sich-Gebens und Sich-Empfangens verstehen, das der trinitarische Gott selbst ist.7Vgl. Büchner, Christine, Wie kann Gott in der Welt wirken? Überlegungen zu einer theologischen Hermeneutik des Sich-Gebens, Freiburg i. Br. 2010; Büchner, Christine, Gottes Wirken in der Welt. Anregung zu einer theologischen Hermeneutik des Sich-Gebens, in: Nitsche, Bernhard (Hrsg.), Von der Communio zur Kommunikativen Theologie. Bernd-Jochen Hilberath zum 60. Geburtstag (Kommunikative Theologie – interdisziplinär 10), Münster 2008, 49–60; Bayer, Oswald, Art. Gabe. II. Systematisch-theologisch, in: RGG4 3 (2000), 445f. Damit deutet sich bereits an, dass die zunächst radikal einseitige Initiative Gottes im Schöpfungsakt darauf zielt, diejenigen, die sich darin empfangen, an dieser göttlichen Bewegung des Sich-Gebens und Sich-Empfangens teilhaben zu lassen.
Weitere Reflexionen in der Theologie betreffen beispielsweise die Frage, welche Rolle dem Dank und der Dankbarkeit im Rahmen solcher Praktiken des Gebens zukommt.8Vgl. Saarinen, God; Frettlöh, Magdalene L., „Und … höchst anmutig sei das Danken“. Gabetheologische und -ethische Perspektiven auf den Dank als Ereignis, in: NZSTh 47 (2005), 198–225. Ebenso fragen Theolog*innen, ob sich Vergebung als eine Form der Gabe verstehen lässt,9Vgl. Volf, Miroslav, Free of Charge. Giving and Forgiving in a Culture Stripped of Grace, Grand Rapids 2005. und denken über den Heiligen Geist als Gabe nach.10Vgl. Hoffmann, Skizzen. Zwei besonders häufig bearbeitete Themen: Rechtfertigung und Herrenmahl, werden im Folgenden exemplarisch dargestellt.
3.1. Rechtfertigung / Gnade als Gabe
Die traditionell z. B. mit „Rechtfertigung“, „Gnade“ oder „(Zueignung der) Erlösung“ beschriebene Zuwendung Gottes zum erlösungsbedürftigen Menschen lässt sich mit Hilfe des Modells der Gabe in weniger juristischen oder ontologischen Kategorien und klarer in solchen der Beziehung und der Anerkennung beschreiben. Gott gibt in seiner Gnade nicht „etwas“, sondern er gibt „sich“ in Jesus Christus – analog zur im 20. Jahrhundert zentral gewordenen Rede davon, dass Gott „sich offenbart“ bzw. „sich mitteilt“, und nicht „etwas“.
Diese Gabe Gottes ist seine freie Initiative, die durch nichts bedingt ist und die er nicht zurücknimmt. Aber wie „geht“ es nach dieser Initiative „weiter“? Hier finden sich einerseits klassische kontroverstheologische Fronstellungen wieder: In der protestantischen Theologie wird zum Teil die strikte Einseitigkeit der Gabe Gottes hervorgehoben, weil jede menschliche Antwort eine Form von „Werk“ wäre, das den Geschenkcharakter der göttlichen Gabe zunichte machte.11Vgl. Jüngel, Eberhard, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, Tübingen 1998; Dalferth, Ingolf U., Umsonst. Vom Schenken, Geben und Bekommen, in: Studia Theologica 59 (2005), 83–103; Dalferth, Ingolf U., Mere Passive. Die Passivität der Gabe bei Luther, in: Holm, Bo Kristian/Widmann, Peter (Hrsg.), Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology (Religion in Philosophy and Theology 37), Tübingen 2009, 43–71. Auf katholischer Seite wird demgegenüber stärker der Beziehungsaspekt betont, so dass eine menschliche Antwort auf Gottes Geben gerade in der Intention dieser Gabe läge.12Vgl. Werbick, Jürgen, Gnade (Grundwissen Theologie), Paderborn 2013; Hoffmann, Veronika, Christus – die Gabe. Zugänge zur Eucharistie, Freiburg i. Br. 2016. Der Gabediskurs hat aber an vielen Stellen auch über diese konfessionellen Alternativen hinaus- und zu neuen Darstellungsformen geführt. Beispielsweise treffen sich manche katholische und lutherische Theolog*innen in der Idee von Rechtfertigung als einer „Befreiung zur Gegenseitigkeit“.13Vgl. Holm, Bo Kristian, Gabe und Geben bei Luther. Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre (TBT 134), Berlin 2006; Hoffmann, Christus. Insbesondere gibt die Rede von der Gabe die Gelegenheit, eine Gegenseitigkeit der Beziehung deutlicher von einer Wechselseitigkeit des ökonomischen Tauschens zu unterscheiden. Die Unterscheidung zwischen der Gabe eines Objekts und der Gabe seiner selbst ist hier zentral.
3.2 Die Gabe des Herrenmahls
Die Gebeworte des Herrenmahls „Nehmt und esst … nehmt und trinkt“ legen bereits nahe, ihre Bedeutung zu erschließen, indem man von „Gaben“ spricht.
Mehr noch als bei Gnade und Rechtfertigung sind sich die Konfessionen hier einig, dass das Herrenmahl in eminenter Weise eine Gabe Gottes an uns ist: Christus selbst ist es, der sich uns gibt. Nicht zuletzt auf dem Hintergrund von früheren Missverständnissen und Missbräuchen ist auch im Raum des Katholischen die Rede von einem „Messopfer“ weitgehend außer Gebrauch geraten. In der Tat treten wir nicht vor Gott, um ihm etwas aus unserem Eigenen darzubringen – zu „opfern“. Aber zugleich hilft die Kategorie der Gabe, Christus hier noch deutlicher als Mittler zu denken – was theologisch wesentlich über die Denkkategorie seiner vollen Gottheit und vollen Menschheit ausgedrückt wird: Christus wird im Herrenmahl Gabe an uns. Zugleich vollziehen wir, indem wir diese Gabe empfangen, die Hingabe Christi an den Vater mit. Einmal mehr ist entscheidend, in der theologischen Verwendung der Metapher der Gabe die Kategorien von „Besitz“ und „Fähigkeit“ zu vermeiden – als ob wir etwas „besäßen“, das wir Gott geben könnten –, ebenso wie diejenige der „Pflicht“ – als ob Gott etwas von uns forderte. So kann der „Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen“ festhalten: „Opfer der Kirche meint also nicht Darbringung einer uns gegenüberstehenden heiligen Gabe auf dem Altar an Gott durch die Hand des menschlichen Priesters, sondern Eingehen der Kirche in die Hingabe Jesu Christi, d. h. Darbringung unserer selbst durch, mit und in Jesus Christus als lebendige Opfergabe.“14Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, Das Opfer Jesu Christi und der Kirche. Abschließender Bericht, in: Lehmann, Karl et al. (Hrsg.), Das Opfer Jesu Christi und seine Gegenwart in der Kirche. Klärungen zum Opfercharakter des Herrenmahles (Dialog der Kirchen 3), Freiburg i. Br. 1983, 215–238, 237.
4. Missbräuchliche Rede von der „Gabe“
Die exemplarischen Felder theologischen Gabedenkens haben bereits deutlich gemacht, dass alles daran hängt, was man jeweils genauer unter „Gabe“ versteht. Die Vieldeutigkeit des Begriffs legt nicht nur Missverständnisse nahe. Es kann auch missbräuchliche Rede von der Gabe geben, die sich die weiter oben skizzierten Ambivalenzen in Gabepraktiken zunutze macht. Missbrauch geschieht beispielsweise dort, wo jemand durch ein übergroßes Geschenk vom Geber abhängig gemacht werden soll oder eine angeblich uneigennützige Gabe in Wirklichkeit doch eine bestimmte „Gegenleistung“ fordert.
Missbräuchlich ist auch, etwas als „Gabe“ zu deklarieren, auf das jemand in Wirklichkeit ein Recht hat. Das geschieht u. a. dann, wenn Familienmetaphern allzu unbesehen für (kirchliche) Institutionen verwendet werden und so persönliche Abhängigkeiten, „Gunsterweise“ u. ä. an Stelle von verbrieften Rechten treten (vgl. Art. Gabe, ethisch).