1. Antisemitismuskritik und das Gebot des „nie wieder“
1.1. Christlich-Theologische Ethik im Schatten der Schoah
Insbesondere im deutsch-österreichischen, postnationalsozialistischen Kontext kommt christlich-theologische Ethik, wenn sie ernst genommen werden will, nicht um die Auseinandersetzung mit der Schoah herum.
Weiterführende Infos WiBiLex
Eine Auseinandersetzung mit dem Begriff Schoah aus biblischer Sicht findet sich unter: Rudning, Thilo Alexander, Art. Schoah, in: WiBiLex (https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/schoah), abgerufen am 26.02.2025.
Jüdische Denker*innen wie Elie Wiesel haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Schoah nicht nur eine Manifestation des Versagens menschlicher Moral im Allgemeinen ist, sondern auch christlicher Moral im Speziellen.1Vgl. Cargas, Harry J./Wiesel, Elie, Harry James Cargas in Conversation with Elie Wiesel, South Bend 1976, 26, 34. Unbestrittenermaßen war die große Mehrheit der Täter*innen zumindest in kultureller Hinsicht, und oft auch in Hinsicht der religiösen Identität, christlich. Die Tatsache, dass deren christliche Sozialisation den Völkermord an sechs Millionen Jüdinnen_Juden nicht verhinderte, deutet darauf hin, dass die Übergänge zwischen dem jahrhundertealten religiös geprägten Antijudaismus der christlichen Kirchen, dem politischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts und der staatlich verordneten antisemitischen Vernichtungsagenda des NS-Staates fließend waren.
Auf institutioneller Ebene wurde die aktive Rolle von Christ*innen in der Massenvernichtung von Jüdinnen_Juden und anderen Minderheiten zum einen durch die Kollaboration christlicher Kirchen mit dem NS-Regime und anderen faschistischen Staaten in Europa begünstigt.2Vgl. Blaschke, Olaf, Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Stuttgart 2014. Zum anderen kollaborierte auch die akademische Theologie, inklusive der theologischen Ethik, mit dem NS-Staat, und bot ihm insbesondere mit der Lehre eines „arischen Christus“, ein theologisches Fundament für seine antisemitische Rassenideologie.3Vgl. Heschel, Susannah, The Aryan Jesus. Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany, Princeton 2008, 26–66. Vor diesem Hintergrund ist Wiesels vielzitierte Aussage zu verstehen, dass in Auschwitz nicht das jüdische Volk, sondern das Christentum gestorben sei.4Vgl. Cargas/Wiesel, Conversation, 26.
Wiesel konstatierte jedoch zur gleichen Zeit, dass die Schoah kein Ende für das Christentum bedeuten müsse, wenn es der christlichen Theologie gelingen würde, ihr Gewissen, ihre Moral und ihre Beziehung zum jüdischen Volk grundlegend zu erneuern.5Vgl. Cargas/Wiesel, Conversation, 35. Wurzeln für eine solche Erneuerung sah er beispielsweise im Werk Papst Johannes XXIII. , der mit dem zweiten vatikanischen Konzil und der Erklärung „Nostra Aetate“ eine Kehrtwende in der Haltung der katholischen Kirche gegenüber dem Judentum einleitete.6Vgl. Cargas/Wiesel, Conversation, 34; Vatikan, Nostra aetate. Über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, 26. Oktober 1968 (Website, https://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651028_nostra-aetate_ge.html), abgerufen am 26.02.2025. Vergleichbare Entwicklungen in den evangelischen Kirchen in Europa sind seit Beginn der 1970er Jahre zu beobachten.7Vgl. Brockway, Allan et. al. (Hrsg.), The Theology of the Churches and the Jewish People. Statements by the World Council of Churches and Its Member Churches, Genf 1988.
1.2. Bleibende Herausforderungen
Wiesel betonte, dass eine fortlaufende aufrichtige Auseinandersetzung der christlichen Theologie mit ihrem antijudaistischen und antisemitischen Erbe unabdingbar sei.8Vgl. Cargas/Wiesel, Conversation, 35. Christlich-theologische Ethik kann vor dem Hintergrund der aktiven Rolle, die Christ*innen auf individueller wie institutioneller Ebene in der Schoah spielten, nur glaubhaft sein, wenn sie ihr antijudaistisches und antisemitisches Erbe kontinuierlich benennt und aufarbeitet. Eine solche kontinuierliche Aufarbeitung ist die Voraussetzung dafür, dem „neuen kategorischen Imperativ“ gerecht zu werden, dass alle Menschen „ihr Denken und Handeln so einzurichten [haben], daß Auschwitz nicht sich wiederhole“.9Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966, 356. Im Schatten der Schoah müsste Antisemitismuskritik somit zum integralen Bestandteil christlich-theologischer Ethik werden.
Im Wesentlichen wurde diese Forderung bereits von den Pionier*innen der christlichen Theologie nach der Schoah und des jüdisch-christlichen Dialogs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ernstgenommen. So stellt z. B. Friedrich-Wilhelm Marquardts „evangelische Halachah“ einen metaethischen Entwurf dar, der auf einer Auseinandersetzung mit der Schoah und mit dem traditionellen theologischen Antijudaismus seiner lutherischen Tradition sowie auf einer Rezeption rabbinisch-jüdischen Denkens aufbaut.10Vgl. Marquardt, Friedrich-Wilhelm, Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur Dogmatik, München 1988. Auf katholischer Seite bietet z. B. Johann Baptist Metz‘
anamnetischer Ansatz einer Theologie nach der Schoah einen fundamentaltheologischen Ausgangspunkt für die Integration von Antisemitismuskritik in die Moraltheologie.11Vgl. Metz, Johann Baptist, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluraler Gesellschaft, Freiburg 2006. Gegenwärtig liegt eine Herausforderung darin, die Erkenntnisse der Theologie nach der Schoah und des jüdisch-christlichen Dialogs in Forschung und Lehre der christlich-theologischen Ethik breiter zu rezipieren. Zudem bleibt es im Blick auf die Antisemitismusprävention eine ausstehende Aufgabe, Themen des jüdisch-christlichen Dialogs sowie Grundkenntnisse zum nachbiblischen Judentum als verbindliche Inhalte in der theologischen Ausbildung zu verankern.12Vgl. Schröder, Bernd/Nikolaus, Julia/Hecke, Marie, Jüdisch-christlicher Dialog und das Studium der Evangelischen Theologie bzw. Religion in Deutschland. Ergebnisse einer Analyse der Studien- und Prüfungsordnungen für das Pfarramts- und Lehramtsstudium in Bezug auf jüdische und/oder jüdisch-christliche Lehrinhalte, in: EPD-Dokumentation 21 (2017), 5–19.
Weiterführende Infos
Zur weiteren Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Formen des Antisemitismus siehe:
https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/
https://www.die-bibel.de/ressourcen/wirelex/9-politische-und-rechtliche-dimensionen-religioeser-bildung/antijudaismus-antisemitismus
https://www.yadvashem.org/holocaust/resource-center/lexicon/a.html
2. Intersektionale Perspektiven
Im deutschsprachigen Raum mehren sich in den letzten Jahren die Stimmen, die dafür plädieren, Antisemitismus als eine spezifische Diskriminierungserfahrung von Jüdinnen_Juden in der intersektionalen Theoriebildung und in intersektionalen Debatten zu berücksichtigen.13Vgl. z. B. Stögner, Karin, Antisemitismus und Intersektionalität. Plädoyer für einen neuen Zugang, in: Biele Mefebue, Astrid et al. (Hrsg.), Handbuch Intersektionalitätsforschung, Wiesbaden 2021, 93–108. Für eine diskursgeschichtliche Einordnung, siehe Mayrl, Manuel, Antisemitismus. Ein blinder Fleck der intersektionalen Geschlechterforschung?, in: Hagen, Nikolaus/Neuburger, Tobias (Hrsg.), Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft. Theoretische Überlegungen, empirische Fallbeispiele, pädagogische Praxis, Innsbruck 2020, 51–64. Somit bieten intersektionale Ansätze der theologischen Ethik, wie sie z. B. in der Befreiungstheologie, der feministischen Theologie und der theologischen Care-Ethik zu finden sind, einen neuen Ansatzpunkt für Antisemitismuskritik.14Für Beispiele siehe Jäger, Sarah, Jenseits des Patriarchats. Ansätze feministischer Theologien, Heidelberg 2021, 61–80. Einerseits sind hiermit theologische Ethiker*innen, die den Anspruch vertreten, intersektional zu arbeiten, gefordert, das Phänomen Antisemitismus in ihrer Forschung zu berücksichtigen. Andererseits machen intersektionale Perspektiven auf das Phänomen Antisemitismus deutlich, dass dieses nicht in Isolation betrachtet werden sollte, sondern in seinen Wechselwirkungen mit anderen Herrschaftsmechanismen wie Rassismus, Klassismus und Sexismus.
2.1. Gojnormativitätskritik
Einen vielversprechenden Ansatz für die Integration antisemitismuskritischer Perspektiven in intersektionale Debatten wurde von den Publizistinnen Judith Coffey und Vivien Laumann
entwickelt. In ihrem Buch Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen entwickeln die beiden das Konzept der Gojnormativitätskritik, abgeleitet von dem hebräischen bzw. jiddischen Wort „goj“ für Nicht-Jude_Jüdin.15Vgl. Coffey, Judith/Laumann, Vivien, Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen, Berlin 2021, 40–41. Gojnormativitätskritik dient dazu, die Privilegien nicht-jüdischer Menschen im postnationalsozialistischen Deutschland aufzuzeigen und die Normativität nicht-jüdischer Positionen in gesellschaftlichen Diskursen zu entlarven und kritisch zu hinterfragen.
Für christliche theologische Ethiker*innen, die intersektional arbeiten, stellt Coffeys und Laumanns Ansatz wertvolle Impulse zur Verfügung. Er regt dazu an, nicht nur plakative Ausdrucksweisen von Antisemitismus zu kritisieren und sich performativ von ihnen zu distanzieren, sondern auch subtile Formen von Antisemitismus zu identifizieren und zu benennen, um sie ultimativ zu überwinden. Ein Beispiel für eine solche subtile Form von Antisemitismus ist die Vermeidung des Wortes „Jude_Jüdin“ in der deutschen Mehrheitsgesellschaft.16Vgl. Coffey/Laumann, Gojnormativität, 40.
2.2. Antisemitismus als antikategoriale und intersektionale Ideologie
Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Integration einer antisemitismuskritischen Perspektive in intersektionale Debatten leistet die Forschungsarbeit der Soziologin Karin Stögner .17Vgl. u. a. Stögner, Antisemitismus und Intersektionalität; Stögner, Antisemitismus und Sexismus. Historisch-gesellschaftliche Konstellationen, Baden-Baden 2014; Stögner, Wie inklusiv ist Intersektionalität? Neue Soziale Bewegungen, Identitätspolitik und Antisemitismus, in: Salzborn, Samuel (Hrsg.), Antisemitismus seit 9/11. Ereignisse, Debatten, Kontroversen, Baden-Baden 2019, 385–402. Stögner zeigt, dass ein Kennzeichen antisemitischer Stereotype darin besteht, dass sie oftmals mit der Behauptung operieren, dass Jüdinnen_Juden sich in Bezug auf die Kategorien race, class, gender und nationality einer Einordnung in vermeintlich gegebene binäre Alternativen entziehen.18Vgl. Stögner, Antisemitismus und Intersektionalität, 8–11. So werden Jüdinnen_Juden z. B. in den sogenannten Rassenideologien des 19. und 20. Jahrhunderts nicht eindeutig der Kategorie „Schwarz“ oder „Weiß“ zugeordnet.19Vgl. Stögner, Antisemitismus und Intersektionalität, 2–4; 8–10; siehe auch Coffey/Laumann, Gojnormativität, 63–80.
Folgt man Stögners Ansatz, so stellt Antisemitismus als antikategoriale und intersektionale Ideologie einen Präzedenzfall für die intersektionale Theoriebildung dar. Hiermit liegt ein starkes Argument dafür vor, dass die Kritik am Herrschaftsverhältnis Antisemitismus intersektionale Ansätze christlich-theologischer Ethik auch außerhalb des deutschsprachigen Raumes entscheidend bereichern würde.