1. Basisinformationen
Varianten und nicht Zwischenstufen des Geschlechtlichen, die stets binäre Pole als privilegiert kommunizieren müssten, gehören zur anatomischen und physiologischen Option menschlicher Körper.1Vgl. Schweizer, Katinka/Rosen, Ursula, Intergeschlechtlichkeit in Familie und Gesellschaft. Wie wir über diverse Körper, Identitäten und Varianten der Geschlechtsentwicklung sprechen können, in: Timmermanns, Stefan/Böhm, Maika (Hrsg.), Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Interdisziplinäre Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis, Weinheim/Basel 2020, 242–255, 244. Geschlechtsorgane oder Geschlechtsmerkmale können mehrdeutig sein und reflektieren dann nicht unmittelbar Kategorien des Femininen oder Maskulinen. Das muss weder medizinisch, psychologisch noch ethisch ein Problem darstellen, wird aber oft mitsamt religionsbezogenen Annahmen dazu gemacht.2Vgl. Schreiber, Gerhard, Geschlecht außer Norm. Zur theologischen Auseinandersetzung mit geschlechtlicher Vielfalt am Beispiel Intersexualität, in: Koll, Julia et al. (Hrsg.), Diverse Identität. Interdisziplinäre Annäherungen an das Phänomen Intersexualität, Hannover 2018, 27–45, 28.
Das Phänomen selbst kann mit dem Begriff der Intergeschlechtlichkeit angesprochen werden, das abwertende Terminologien von Hermaphroditen bis Zwitter ablöst.3Vgl. Schweizer, Katinka/Vogler, Fabian, Die Schönheiten des Geschlechts, in: Dies. (Hrsg.), Die Schönheiten des Geschlechts. Intersex im Dialog, Frankfurt/New York 2018, 25–35, 25. Im englischen Sprachraum etablieren sich Begriffe wie „people with variations of sex characteristics or intersex traits“4Jones, Charlotte, „This is What I am and Who I Am“. Exploring Authorship and Ethics in Intersex Research and Reflective Diaries, in: Walker, Megan (Hrsg.), Interdisciplinary and Global Perspectives on Intersex, Cham 2024, 89–105, 89. (VSC/intersex) für intergeschlechtliche Personen.5Vgl. Veith, Lucie, Inter Anerkennen, in: Schweizer, Katinka/Vogler, Fabian. (Hrsg.), Die Schönheiten des Geschlechts. Intersex im Dialog, Frankfurt/New York 2018, 387–390, 387. Dem zugrunde liegt eine Variantenbreite in der Geschlechtsentwicklung des Embryos. Im Fall von Inter* und nun in der medizinischen Terminologie als „diverse sex development“ (DSD) werden die embryonalen Entwicklungsmöglichkeiten zu einer offenen Nomenklatur auch für den Zustand, der mit Intergeschlechtlichkeit ausgedrückt wird.6Vgl. Schweizer/Rosen, Intergeschlechtlichkeit, 244. Der Begriff DSD ist offener als die Konstrukte um den Begriff des Inter. Denn die DSD zugehörige Diversität birgt nicht notwendig die Gefahr von Inter, letztlich doch ein binäres Geschlechterdenken zu stärken. Die jüngere Geschichte um den Begriff DSD zeigt allerdings, wie sehr ebenso dieser medizinische Terminus implizit von einer vermeintlichen Normalität des Geschlechtlichen ausgeht.7Vgl. Kehrer, Ino, Towards an Inclusive Approach to Harmful Practices. The Case of Western Elective Surgeries on Intersex Children, in: Walker, Megan (Hrsg.), Interdisciplinary and Global Perspectives on Intersex, Cham 2024, 197–218, 205. Immerhin steht DSD zunächst und teilweise weiter für „Disorders of Sexual Development“.8Vgl. Budwey, Stephanie A., Religion and Intersex. Perspectives from Science, Law, Culture, and Theology, London/New York 2023, 4; Carpenter, Morgan/Jordens, Christopher F. C., When Bioethics Fails. Intersex, Epistemic Injustice and Advocacy, in: Walker, Megan (Hrsg.), Interdisciplinary and Global Perspectives on Intersex, Cham 2024, 107–124, 111.
Mit den Begriffen VSC/intersex hingegen gerät ein breites Spektrum körperlicher Zustände und damit verbundene Ausdrücke des Geschlechtlichen in den Blick. Lucie Veith hat das Christentum in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass die Rede von Geschlecht im Singular bereits innerhalb der Sphäre des Somatischen uneindeutig ist. Denn es gebe etwa ein „anatomisches“, ein „chromosomales Geschlecht“ und ein „gonadales Geschlecht“, flankiert von den sozialen Bezugnahmen, die ein „psychisches Geschlecht“, ein „Erziehungsgeschlecht“ oder ein „Zuweisungsgeschlecht“ hervorbringen.9Veith, Lucie, Den Blick auf die gesamte Schöpfung wagen. Intergeschlechtlichkeit, in: Koll, Julia et al. (Hrsg.), Diverse Identität. Interdisziplinäre Annäherungen an das Phänomen Intersexualität, Hannover 2018, 17–25, 21–24. Viele der Varianzen in den genannten körperlichen Bereichen geschlechtlicher Varianz stellen keine medizinische Indikation zu einer Behandlung dar. Jedoch mussten dies Betroffene gegen den sozialen Druck der geschlechtlich-binären Anpassung sowie gegen Praxen chirurgischer und endokrinologischer Einfügung in den Dual des Geschlechtlichen erst einmal erstreiten. Es gibt DSDs mit medizinischer Versorgungsnotwendigkeit, etwa wenn physiologische Prozesse wie das Urinieren oder das Herstellen eines ausgeglichenen Salzhaushaltes im Organismus nicht möglich wären.10Vgl. Cools, Martine et al., Working Towards Convergence of the Clinical Management of Differences of Sex Development/Intersex Conditions and the Human Rights Framework. A Case Study, in: Clin Endocrinol (Oxf) 101/5 (2024), 499–506, 500–501 (DOI: https://doi.org/10.1111/cen.15002), abgerufen am 29.04.2025; Schweizer/Rosen, Intergeschlechtlichkeit, 245. Dem „intersex movement“ geht es in der Kritik an einer gesellschaftlichen und medizinischen Normierung von Intergeschlechtlichkeit nicht um das Ausschlagen von medizinischer Hilfe per se. Vielmehr ist deren strikte Anbindung an den Konsens betroffener Personen geboten.11Vgl. Carpenter/Jordens, Bioethics, 113.
2. Phänomenhorizont (vgl. Art. Geschlecht; Transgeschlechtlichkeit)
Hängt eine Gesellschaft (z. B. eine christliche Konfession) an einer geschlechtlichen Ordnung,12Vgl. Mairinger-Immisch, Katharina, Mehrdeutige Körper. Über die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen in Theologie und Kirche, Bielefeld 2024, 212. durch die Personen mit Hilfe von Markern wie Name, Kleidung oder Habitus sozialen Positionen zugewiesen werden können, so sind Personen aus dem Spektrum der Intergeschlechtlichkeit bereits ab früher Kindheit mit erheblichen Problemen konfrontiert.13Vgl. Veith, Intergeschlechtlichkeit, 25. Generell über „Interkinder“ zu sprechen und Namen für sie zu finden,14Vgl. Schweizer/Rosen, Intergeschlechtlichkeit, 242–243. stellt weiterhin eine zum Teil bedrohliche Herausforderung in einem kulturellen System mitsamt religionsbezogenen Anteilen dar, die geschlechtliche Binarität als Matrix der Gesellschaft festlegen. Zweigeschlechtlichkeit als Basiskategorie wird deutlich, wenn diese Zuordnung im Akt der Namensgebung Transparenz erfährt: „Die erste Entscheidung bei der Namensgebung eines Kindes beruht auf der geschlechtlichen Zuschreibung.“15Schweizer/Rosen, Intergeschlechtlichkeit, 243. Damit stemmt sich die Gesellschaft gegen die Faktizität geschlechtlicher Vielfalt oder Uneindeutigkeit, die jedoch nicht selten einer historischen Realität entspricht.16Vgl. Schweizer/Vogler, Schönheiten, 25. Dies nämlich suggeriert der Naturalismus, der das Natürliche im Sinne eines Ausdrucks gegebener und mithin gewollter Ordnung versteht. Anne Fausto-Sterlings zunächst biologisch gemeinte Feststellung: „[…] biologically speaking, there are many gradations running from female to male“,17Fausto-Sterling, Anne, The Five Sexes. Why Male and Female Are Not Enough, in: Science 33 (1993), 20−24, 20. war bahnbrechend. Jener akademische Ausgangspunkt kann als eine neue Berücksichtigung von Intergeschlechtlichkeit gelten, denn Fausto-Sterlings Hervorhebung „[…] shattered a silence about variant genitals that had pervaded Western culture”.18Lev, Sarra, And the Sages Did Not Know. Early Rabbinic Approaches to Intersex, Philadelphia 2024, 1. Ausdruck dieses Schweigens waren und sind teilweise noch etablierte medizinische Verfahren, die körperliche Phänomene aus dem Spektrum der Intergeschlechtlichkeit pathologisieren und früh beseitigen. Folglich wird die Einfügung von Minderjährigen mit DSD in das binäre Geschlechtssystem als psychosoziale Indikation verstanden.19Vgl. Kehrer, Approach, 205. Angeschlossen daran waren und sind Praxen des Schweigens, die betroffenen Familien empfohlen wurden.20Vgl. Veith, Inter Anerkennen, 388. Gegen meist chirurgische Eingriffe bei Intergeschlechtlichkeit formierte sich erst ab den 1990er Jahren der Widerstand Betroffener („intersex movement“21Vgl. Carpenter/Jordens, Bioethics, 110.).22Vgl. Veith, Inter Anerkennen, 388. Denn diese hatten und haben weiterhin mit massiven Problemen nach Eingriffen zur Vereindeutigung ihrer Körper zu kämpfen.23Vgl. Jones, Authorship, 90–91 und, aus der Perspektive einer betroffenen Person, siehe Jürgen, Alex, Eindeutig uneindeutig, in: Schweizer, Katinka/Vogler, Fabian (Hrsg.), Die Schönheiten des Geschlechts. Intersex im Dialog, Frankfurt/New York 2018, 51–59, 53. Nach einer intensiven durch Betroffene angestoßenen und in der Medizinethik aufgegriffenen Diskussion, an der sich auch einzelne theologische Stimmen beteiligt haben, steht es heute politisch kritischer um chirurgische Eingriffe an Minderjährigen mit DSD. Diese Kritik richtet sich gegen weiterhin rein elektive Operationen und Maßnahmen mit dem Ziel der sozio-kulturellen Einfügung in einen binären und damit heteronormativen Präferenzraum.24Vgl. Kehrer, Approach, 211; Rudolf-Petersen, Almut, Intergeschlechtlichkeit, Mehrdeutigkeit, Queer Thinking, in: Schweizer, Katinka/Vogler, Fabian (Hrsg.), Die Schönheiten des Geschlechts. Intersex im Dialog, Frankfurt/New York 2018, 115–129, 125–126; Muschialli, Luke et al., Perspectives on Conducting „Sex-Normalising“ Intersex Surgeries Conducted in Infancy. A Systematic Review, in: PLOS Glob Public Health 4/8 (2024), e0003568 (DOI: https://doi.org/10.1371/journal.pgph.0003568), abgerufen am 29.04.2025.
3. Intergeschlechtlichkeit in Religionen und Theologie (vgl. Art. Queere Theologie)
Rabbinische Literatur zeigt entgegen einer scheinbar binär-geschlossenen und normativ festlegenden Welt in Gen 1,27Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.Zur Bibelstelle („männlich und weiblich schuf Gott sie“)25Vgl. Schreiber, Geschlecht, 34. Auseinandersetzungen mit nicht-binärer Geschlechtlichkeit.26Vgl. Budwey, Religion, 127. Neben den Polen des männlichen und weiblichen Geschlechts werden die Varianten „androginos“ (Kombination aus verschiedenen Geschlechtsmerkmalen) und „tumtum“ (Verborgenheit von Geschlechtsmerkmalen) eingeführt.27Vgl. Lev, Sages, 2.
Zwar entspricht die Aufmerksamkeit auf ein körperliches und soziales Phänomen nicht notwendig einer ethisch gehaltvollen Form der Berücksichtigung, wie Michel Foucault in seiner Arbeit zur Geschichte des Krankenhauses betont.28Vgl. Lev, Sages, 2. Im Fall der rabbinischen Thematisierung von Intergeschlechtlichkeit ist jedoch ein sachlicher Bezug ohne die Implikation von Zurückweisung erkennbar. Wenn festgestellt werden kann, „[…] they treated them dispassionately“,29Lev, Sages, 6. darf darin eine normativ gehaltvolle Praxis der „Nicht-Sensationalisierung“30Vgl. Wirth, Mathias, Was bedeutet: Unbedingte Anerkennung der Andersheit des Anderen? Intersexualität und Transidentität im Licht advokatorischer Ethik, in: Schochow, Maximilian et al. (Hrsg.), Inter* und Trans*identitäten. Ethische, soziale und juristische Aspekte (Beiträge zur Sexualforschung 102), Gießen 2016, 105–134, 120–123. erblickt werden. Mit Sensationalisierung wären im anderen Fall unmittelbar negative soziale Folgen zu erwarten, wie Entfremdung (Alienation) durch das Lable der Andersheit. Die nicht-sensationelle Bezugnahme in der frühen rabbinischen Literatur zeigt dennoch im Sinne des „dispassionate“ das Ausbleiben eines in den Religionen weiterhin möglichen Furors gegen Nicht-Binarität. Der Grund hierfür liegt in einem Regelungswillen: „Intersex persons simply exist and thus need to be legislated within a binary system along with women and men“.31Lev, Sages, 255.
Damit entfällt die Option der Ausgrenzung intergeschlechtlicher Personen. Doch ist diese basale Form der Berücksichtigung noch nicht umfassend genug. Zwar gilt „space is made for intersex persons“.32Lev, Sages, 258. Dennoch ist als Problemanzeige weit über die jüdische Literatur hinaus mit starkem Gegenwartsbezug ebenfalls zu diagnostizieren: „It is never a comfortable space.“33Lev, Sages, 258. Hierbei spielt ein expliziter Religionsbezug in den Biographien und Aushandlungen von Person aus dem Spektrum der Intergeschlechtlichkeit weiterhin eine wichtige Rolle.34Vgl. Budwey, Religion, 1. Auf Personen mit DSD lastet, wie der folgende Hinweis andeutet, in verschiedenen Kontexten die durch Normierung säkularisierte Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit (vgl. Art. Geschlecht). Als Ausdruck des Willens Gottes oder Grundform des Lebens wird diese angefragt: „Wenn es einen Gott gibt, hat er das so gewollt. Wer seid ihr, Menschen, der Natur derartig ins Handwerk zu pfuschen?“35Jürgen, Eindeutig uneindeutig, 58. Gemeint sind chirurgische Veränderungen der Genitalien bei Minderjährigen mit DSD ohne medizinische oder persönliche Indikation. Es kommt bei jenem Zitat darauf an, über Gott und Geschlechtlichkeit anders denken zu müssen. Denn keinerlei Verletzungen der körperlichen und psychischen Integrität von Personen sind als Operationsfolgen zu dulden/akzeptieren (alternativ).
4. Systematisch-theologische Perspektiven und Intergeschlechtlichkeit
Für den Bereich der Ethik sind es besonders die Themen „agency, authorship“,36Jones, Authorship, 91. die Intergeschlechtlichkeit in den Blick nehmen. Das betrifft einerseits die Grundlagen theologischer Ethik. Hier wird auf den normativen Status der Freiheit von einzelnen Personen im Horizont der Möglichkeit einer Gottheit reflektiert, die Freiheit – gewährt wie verheißen – zum Ausdruck ihrer selbst macht, wenn zentrale biblische Traditionen (vgl. Art. Schrift) zugrunde gelegt werden. Andererseits ist Systematische Theologie auf diese Weise in einer Bereichsethik aktiv, in der es um das konkrete Feld der Diskriminierung geschlechtlicher Freiheit geht.37Vgl. Mairinger-Immisch, Körper, 210; Veith, Intergeschlechtlichkeit, 17. Insbesondere ist das Problem des Zwangs relevant. Denn bei Intergeschlechtlichkeit ist wegen einer starken medizinischen Befassung die Freiheit zum Selbstsein in hohem Maße gefährdet.38Vgl. Carpenter/Jordens, Bioethics, 112–113. Jedoch wird der Begriff der Autonomie in der Theologie oft nur mit Zurückhaltung verwendet, weil der Verdacht besteht, hier würde die Verwiesenheit und Verletzlichkeit der Freiheit unterbestimmt. Trotzdem gibt es zugleich gute Gründe, theologisch der Autonomie der Person als Ausdruck ihrer Unhintergehbarkeit eine wesentliche Bedeutung zuzusprechen. Dies gilt umso mehr für jene ethischen Sinngehalte des Autonomiebegriffs, die eng mit Schadensabwehr (Non-Malefizienz) und Wohlergehen (Benefizienz) verbunden sind. Es handelt sich dabei um ethische Kriterien, die in Geschichten von Personen mit DSD missachtet wurden und werden. Schließlich werden auch aus theologischen Gründen aufgrund des hohen Rangs der Maximen der Freiheit im Sinne der Non-Malefizienz und der Benefizienz ethische Grundannahmen im Christentum verletzt. Offenbar ist die Figur der Zweigeschlechtlichkeit aber bis heute im Stande, allgemeine moralische Überzeugungen vom Schutz der Person mit ihrem Selbstbestimmungsrecht auszusetzen.39Vgl. Veith, Inter Anerkennen, 389. Das ist zugleich ausdrücklich als theologisches Problem zu begreifen. Denn eine normative Priorisierung des Bigenus vor Normen, die der Person um ihrer selbst willen gelten, ist ethisch unplausibel.
Entsprechend kommt das Verhältnis von Intergeschlechtlichkeit und Dogmatik in den Blick. Die im Fall von Intergeschlechtlichkeit passierende Diskriminierung hängt nämlich mit Formen von epistemischer Ungerechtigkeit zusammen. Diese besteht in der Wahrnehmung von Wirklichkeit basierend auf interphoben Vorannahmen, welche bestimmte Bereiche des Lebens übersehen oder als illegitim erachten.40Vgl. Carpenter/Jordens, Bioethics, 108. Gründe dafür liefert nicht zuletzt die christliche Religion.41Vgl. Budwey, Religion, 128. Sie hat ein essentialistisches, binäres und androzentrisches Geschlechtsdenken so stark in allgemeine Vorstellungen über den Körper eingetragen,42Vgl. Mairinger-Immisch, Körper, 212. dass diese vielfach und nun unabhängig von religiösen Vorannahmen zum problematischen Kulturem geworden sind. Jene kulturelle Überzeugung kann so gefasst werden: „Die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern überrascht nach wie vor viele, die bisher nicht wissentlich in Kontakt mit intergeschlechtlichen Menschen gekommen sind.“43Schweizer/Vogler, Schönheiten, 25. Dabei handelt es sich nicht um ein rein theoretisches Problem. Personen nämlich, deren geschlechtlicher und körperlicher Ausdruck für etwas gehalten wird, das nicht sein soll, werden notorisch aus der Gesellschaft ausgeschlossen.44Vgl. Carpenter/Jordens, Bioethics, 109. Ein besonders erschütterndes Beispiel dafür ist der ideologische Terror des Nationalsozialismus, der den vorher möglichen Eintrag in das Personenstandsregister mit dem Attribut „zwittrig“ untersagte.45Vgl. Veith, Inter Anerkennen, 388; Klöppel, Ulrike, Intersex im Nationalsozialismus. Ein Überblick über den Forschungsbedarf, in: Schwartz, Michael (Hrsg.), Homosexuelle im Nationalsozialismus. Neue Forschungsperspektiven zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bi-, trans- und intersexuellen Menschen 1933 bis 1945, Berlin/Boston 2014, 107–114, 113. Radikale Verfolgung und Vernichtung von intergeschlechtlichen Personen waren die Folge. Es hat in Deutschland und anderen Europäischen Ländern lange gedauert, bis intergeschlechtliche und andere Personen die Möglichkeit erhielten, im Bereich des Personenstands die Kategorie „divers“ zu wählen,46Vgl. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/lebensbereiche/arbeitsleben/dritte-option/dritte-option-node.html, abgerufen am 29.04.2025. und zwar erst 2013 bzw. 2018. Das wiederum kann dogmatisch mit Bezug zur Schöpfungstheologie reflektiert und mithin unterstützt werden: „Inter[geschlechtlichkeit] ist Bekräftigung des Faktums, dass alle Menschen Ausnahmeerscheinungen darstellen – kraft ihrer Gottebenbildlichkeit.“47Schreiber, Geschlecht, 37. Mit dem exegetischen und systematisch-theologischen Befund der Schöpfung als einem religionsbezogenen Ausdruck für die Sinnstruktur von Wirklichkeit wird, durch ihren Grund in der Andersheit Gottes, Andersheit gesetzt. Diese ist so ein Ort materialer und − damit einhergehend − personaler Pluralität. Die Bedeutung jenes dogmatischen Zusammenhangs für die systematisch-theologische Würdigung von Intergeschlechtlichkeit besteht also darin, „[…] dass Gottes Schöpfung variantenreicher ist, als es den Anschein hat“.48Schreiber, Geschlecht, 37.
Resümierend kann festgehalten werden: Ausdrücke des Geschlechtlichen sind weiterhin relevante Kriterien, die über die Position und Sicherheit im sozialen Raum entscheiden. Nicht nur an diesem Punkt zeigt sich eine Verbindung von Erfahrungen mit politischer sowie ethischer Deliberation. In den Queer Studies oder Menschenrechtserklärungen finden sich entsprechende Reflexionen mit theologischen Denkfiguren.49Vgl. Carpenter/Jordens, Bioethics, 111. Dieser konstruktive theologische Beitrag zum Schutz der körperlichen und psychischen Integrität von Personen, die Merkmale aus dem Spektrum VSC/intersex aufweisen, ist weiterhin ein zentrales Desiderat. Immerhin werden zum Beispiel in offiziellen Schreiben der römisch-katholischen Kirche chirurgische Angleichungen des Geschlechts zur alleinigen Herstellung binärer Eindeutigkeit empfohlen.50Das ist im Schreiben der Bildungskongregation mit dem Titel „Als Mann und Frau schuf er sie“ aus 2019 in Paragraph 24 der Fall, vgl. Budwey, Religion, 134.
5. Ausblick
In der Systematischen Theologie geht es an verschiedenen Orten um ein Denken von Andersheit, die der Gottesbegriff und das damit zusammenhängende pluralitätsaffine Schöpfungsdenken mobilisieren.51Vgl. Veith, Intergeschlechtlichkeit, 17. Das hat konstruktive und anerkennungsrelevante Effekte auf die Art und Weise, wie über Gesellschaft und Zukunft, aber auch über Sozialität und Körper gedacht wird. Das transformative Potential dieser genuin theologischen Sicht auf die Wirklichkeit hat zugleich Bedeutung für Intergeschlechtlichkeit. Was längst in der Feministischen und Queer Theology gezeigt wird, nämlich die Diversität des Geschlechtsdenkens im Christentum selbst, kann auf ein ethisches Desiderat bezogen werden. Im Zusammenhang mit Erfahrungen der Intergeschlechtlichkeit wird dies pointiert: „I believe we should […] be supporting and facilitating alternative modes of being.“52Carpenter/Jordens, Bioethics, 117. Damit ist Freiheit als Woraufhin von Anerkennung als zentrales Thema der Theologie benannt, das bisher wenig auf konkrete und geschlechtlich diverse Körper übertragen wurde.53Vgl. Mairinger-Immisch, Körper, 219. Doch die materiale Seite des Selbstseins kann zu einem starken Ausdruck im Christentum finden. Das ist überall dort der Fall, wo der Dualismus zwischen Seele und Leib als Problem der Anerkennung dechiffriert wird. Genau davon würden auch Personen aus dem Spektrum der Intergeschlechtlichkeit profitieren, denn der Verzicht auf den Zwang zur genitalen Vereindeutigung54Vgl. Kehrer, Approach, 205. könnte so einen Beitrag zum Schutz jener höchstpersönlichen Sphäre des geschlechtlichen Selbst gewährleisten.