1. Vier Orientierungsprinzipien
Der erste Grundsatz der Befreiungstheologie ist der radikale Widerstand gegen alle Formen der Unterdrückung. Historisch gesehen begann dieser in Lateinamerika mit dem Kampf gegen die Armut Mitte der 1960er Jahre. Fast gleichzeitig stand in den USA vor allem der Rassismus gegen Afroamerikaner*innen im Fokus. Die führenden Persönlichkeiten dieser ersten Generation waren Gustavo Gutiérrez bzw. James H. Cone
. Doch im Laufe der Zeit wurde der radikale Widerstand gegen die Unterdrückung zu einem größeren und internationalen Kampf, der auch Themen wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, die Rechte nichtmenschlicher Tiere und den Schutz der Umwelt einschloss. Es entwickelte sich eine Auseinandersetzung, der über die Grenzen des christlichen Glaubens hinaus ging und sich auf fast alle religiösen Konfessionen ausdehnte, trotz ihrer unterschiedlichen Interpretationen der theologischen Komponente der Befreiung.
Das zweite Prinzip der Befreiungstheologie ist die Bildung einer Solidaritätsbewegung mit und unter den Unterdrückten im Kampf für Emanzipation und soziale Gerechtigkeit. Auch wenn viele Anführer*innen der Bewegung nicht arm waren, gehörten sie doch mehrheitlich den verarmten Schichten an. Angeregt durch ihren eigenen Erkenntnis- und Organisationsprozess beschlossen diese, gemeinsam für ein menschenwürdiges Leben und den Zugang zu grundlegenden sozialen Gütern zu kämpfen. Schon bald wurde aus der kollektiven eine globale Bewegung. Durch Zusammenkünfte von Theologen*innen und Organisator*innen entwickelte sich ab den frühen 1970er Jahren ein globales Netzwerk der Solidarität. Es wuchs auch durch die Möglichkeiten, die das Internet, eine gute Infrastruktur für Reisen und soziale Medien geschaffen haben, und katalysiert durch die anhaltende Armut und zunehmende Ungleichheit.
Das dritte Prinzip ist die Identifizierung verschiedener Formen von struktureller Unterdrückung oder institutioneller Gewalt und die damit verbundene Forderung nach strukturellem und institutionellem Wandel. Der entscheidendste Beitrag der Befreiungstheologie ist zweifelsohne ihr glaubensbasiertes Eintreten für einen systemischen sozialen Wandel. Diese schließt die Bedeutung karitativer Arbeit und individueller Großzügigkeit keineswegs aus. Aber das wachsende Bewusstsein der Armen (vgl. Art. Armut) und Ausgegrenzten (vgl. Art. Marginalisierung) dafür, dass Ungerechtigkeit kein Schicksal ist, sondern das Ergebnis menschlicher Entscheidungen, führte zu der Überzeugung, dass die Lösungen eine Beteiligung am politischen Prozess auf vielfältige und kreative Weise erfordern würden: Durch Kirchen, Kandidaturen für gewählte Ämter, politische Vorlagen, gemeinnützige Organisationen, Advocacy für Menschenrechte usw. Sowohl Gustavo Gutiérrez als auch James H. Cone
und viele ihrer Kolleg*innen lieferten die theologischen Ressourcen, um zu erkennen, wie man sich in den politischen Prozess einbringen und gleichzeitig seinem Glauben treu bleiben kann.
Der vierte und letzte Grundsatz beschreibt die theologischen Wurzeln der Bewegung. Kurz gesagt argumentiert die Befreiungstheologie, dass die Option für die Armen und Ausgegrenzten und gegen ihre Unterdrückung wesentliche Grundsätze des christlichen Glaubens sind. Für die von der Befreiungstheologie beeinflussten Gläubigen ist diese Option eine theologische, auf dem Glauben basierende Verpflichtung, basierend auf der Überzeugung, dass die Befreiung der Unterdrückten nicht nur eine politische oder moralische Verpflichtung, sondern vielmehr eine der grundlegendsten Ausdrucksformen der göttlichen Liebe und Gerechtigkeit darstellt. Darin liegt die Besonderheit der Befreiungstheologie im Vergleich zu anderen Befreiungsbewegungen. Der religiöse Glaube der Anhänger*innen der Bewegung ist ihre stärkste Motivation und wird auch zu einem Ort spirituellen Nährens im Kampf für ein besseres Leben. Natürlich prägt der Glaube in unterschiedlichem Maß ihre Politik. Unbetreitbar ist hingegen die zentrale Bedeutung ihrer religiösen Werte für ihr politisches Engagement.
2. Geschichte
Die einflussreichsten Wurzeln der Bewegung der Befreiungstheologie liegen in der lateinamerikanischen Kirche. Dieser Einfluss ist zum Teil auf die weltweite Präsenz der römisch-katholischen Kirche (die eine rasche Verbreitung der Bewegung ermöglichte) und deren organisatorische Stärke in Lateinamerika zurückzuführen, verbunden mit der Tatsache, dass die meisten Befreiungstheolog*innen keine Akademiker*innen, sondern Kirchenleitende waren. Dieser lateinamerikanische Weg der Befreiungstheologie steht im Mittelpunkt des vorliegenden Artikels.
Weiterführende Infos Konfessionskunde
„Die Römisch-Katholische Kirche ist die größte christliche Kirche, der nach aktuellen Angaben ca. 1,3 Milliarden Menschen in aller Welt und ca. 23 Millionen Menschen in Deutschland angehören. Sie ist weltweit verbreitet und besteht „in und aus“ Teilkirchen, d.h. Diözesen oder Bistümern. Ihr Zentrum befindet sich im Vatikan in Rom. Der dort residierende Papst ist als Bischof von Rom sowohl Bischof eines einzelnen Bistums als auch Oberhaupt der Gesamtkirche (CIC, can. 331). Der Papst ist die höchste kirchliche Autorität in der katholischen Kirche: seine lehramtlichen Entscheidungen bedürfen nicht der Zustimmung anderer und es gibt keine Berufung an eine andere Instanz (vgl. CIC, can. 333).“ Bräuer, Martin, Art. Römisch-Katholische Kirche, in: Konfessionskunde (https://konfessionskunde.de/kirchen/begriff/roemisch-katholische-kirche/), abgerufen am 03.02.2025.
Entsprechend sind die Ursprünge der Bewegung in den globalen Veränderungen des Katholizismus im 20. Jahrhundert zu suchen, vor allem in den tiefgreifenden Veränderungen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965). Das Zweite Vatikanische Konzil wurde zu einem Moment des grundlegenden Wandels: Hier nahm die römisch-katholische Kirche die Werte der Demokratie, der Ökumene und des ehrlichen und horizontalen Dialogs mit der Gesellschaft aus freien Stücken an, nachdem sie sich jahrhundertelang – manchmal sogar gewaltsam – gegen diese Werte gewehrt hatte. Natürlich war dieser Wandel nicht universell und es fehlte nicht an Spannungen und Widersprüchen, aber das Konzil löste erhebliche Reformwellen im weltweiten Katholizismus aus. Eine der Gegenden, in denen es zu wesentlichen Veränderungen kam, war Lateinamerika.
Weiterführende Infos
„II. Vaticanum: Macht die Fenster weit auf! Vieles, was heute in der Kirche als selbstverständlich gilt, ist eine Folge der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965). Katholisch.de blickt auf die wegweisende Versammlung und ihre wichtigsten Beschlüsse zurück.“ Dossier: Zweites Vatikanisches Konzil (https://www.katholisch.de/dossier/80-ii-vaticanum-macht-die-fenster-weit-auf), abgerufen am 03.02.2025.
Es ist gut dokumentiert, dass viele der lateinamerikanischen Bischöfe, die am Zweiten Vatikanischen Konzil teilnahmen, die kreativen Energien des Konzils in ihre Herkunftsregionen mitnahmen. Die Erfahrungen mit politischer Gewalt und sozialer Mobilisierung in der Region führten zusammen mit den Impulsen des Konzils zu der entscheidenden Zweiten Generalkonferenz der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín, Kolumbien (1968). Die meisten römisch-katholischen Theologen betrachten die Konferenz von Medellín als einen der wichtigsten Meilensteine für die Entstehung der Befreiungstheologie. Hervorzuheben ist, dass Gustavo Gutiérrez die einflussreichste theologische Figur in Medellín war, wie die sorgfältige Studie von Christian Smith
, The Emergence of Liberation Theology, zeigt.
Weiterführende Infos
„Bei ihrem Treffen in Medellin verpflichteten sich die Bischöfe Lateinamerikas im Sommer 1968, künftig Anwälte der Armen und Entrechteten zu sein. Diese Revolution von oben war sehr nötig.“ Jürgens, Burkhard/Brüggemann, Alexander, 50 Jahre Konferenz von Medellín (https://weltkirche.katholisch.de/artikel/36336-50-jahre-konferenz-von-medellin), abgerufen am 03.02.2025.
Anmerkung des Autors: Soweit ich weiss, waren auf der Konferenz von Medellin 1968 nur wenige Frauen anwesend, die in den verschiedenen Ausschüssen kein Stimmrecht hatten. Generell kann man allerdings sagen, dass Frauen in der befreiungstheologischen Bewegung eine grössere Rolle spielten, da diese Bewegung in Bezug auf die Geschlechter nicht so restriktiv war wie eine kirchliche Konferenz.
Nur wenige Jahre nach der Konferenz von Medellín schrieb Gutiérrez A Theology of Liberation (1971 auf Spanisch; 1973 auf Englisch) als erste und repräsentativste theologische Artikulation der lateinamerikanischen Perspektive im glaubensbasierten Kampf für soziale Gerechtigkeit. Nach der Veröffentlichung von A Theology of Liberation verbreitete sich die Bewegung deutlich über Lateinamerika hinaus. Parallele Entwicklungen in den Vereinigten Staaten mit der Entwicklung der Black liberation theology und nachfolgende Entwicklungen rund um den Globus machten aus der Befreiungstheologie eine internationale intellektuelle und soziale Bewegung, deren Stärke noch heute sichtbar ist.
3. Entwicklungen
Einige dieser zentralen Entwicklungen sind gerade wegen ihrer kritischen und produktiven Beziehung zur ersten Generation von Befreiungstheologinnen erwähnenswert: Lateinamerikanische feministische Befreiungstheologie entwickelte sich in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren als kritische Antwort auf die fast ausschließlich von Männern betriebene Befreiungstheologie. In Anerkennung der unbestreitbaren Beiträge der Befreiungstheologie kritisierte die feministische Befreiungstheologie die mangelnde Aufmerksamkeit für die Situation der Frauen in der Welt der Armut und Unterdrückung. Einer der Gründungstexte dieser Bewegung ist María Pilar Aquinos Band Our Cry for Life (1992).
Eine weitere wichtige Strömung der Befreiungstheologie ist die Latino-Theologie in den Vereinigten Staaten. Eine ihrer zentralen Figuren, Virgilio P. Elizondo , nahm an der Konferenz von Medellín teil und wurde von dem ihm nahestehenden Gutiérrez tief beeinflusst. Die Latino-Theolog*innen erweiterten das ursprünglich von den Befreiungstheologen entwickelte Verständnis von Armut und konzentrierten sich stattdessen auf die Komplexität des Migrationsprozesses, sowie die Notwendigkeit, die Würde sowohl der Menschen als auch der Kultur der Menschen in der lateinamerikanischen Diaspora zu bekräftigen. Zu den Schlüsseltexten der Latino-Theologie zählen Elizondos Galilean Journey (1983) und Roberto S. Goizuetas
Caminemos con Jesús (1995).
Die mujeristische Theologie entwickelte sich aus der Tradition der Latino-Theologie als eine Form der immanenten Kritik, ähnlich wie die feministische Theologie in Lateinamerika. Der Schlüsseltext ist hier Ada María Isasi-Díaz‘ Band En la lucha (1993).
Die Queer-Theologie von Marcella Althaus-Reid ist ebenfalls aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie hervorgegangen und stellt eine Aufforderung dar, den Körper und das sexuelle Begehren bei der Entwicklung theologischer Ideen ernst zu nehmen. Indecent Theology (2000) ist Althaus-Reids wegweisender Beitrag.
Viele andere Strömungen der Befreiungstheologie entstehen weiterhin im kritischen Dialog mit den Ideen der Gründergeneration, was ein deutliches Zeugnis für die wesentlichen Innovationen dieser Tradition und für die Vitalität ihrer Ideen ist.