Anmerkung der Redaktion
Dieser Artikel wurde im Wissenschaftlich-Religionspädagogischen Lexikon (WiReLex) erstveröffentlicht und liegt hier in bearbeiteter Form vor: Grill, Lukas, Art. Alltag, in: WiReLex, 2024 (https://doi.org/10.23768/wirelex.400024).
1. Alltag – ein modernes Phänomen
Dass Theologie sich mit „Alltag“ auseinandersetzt, ist eine neuere Entwicklung, die eng mit der Entwicklung des Bürgertums und der damit einhergehenden Privatisierung und Individualisierung des Lebens im 19. Jahrhundert zusammenhängt. Mit Kristin Merle kann Alltag dabei verstanden werden im Sinne „routinierte[r] und somit (zyklisch) wiederkehrende[r] Abläufe im Leben von Menschen“.1Merle, Kristin, Alltagsrelevanz. Zur Frage nach dem Sinn in der Seelsorge, Göttingen 2011, 22. Mit dem Begriff „Alltag“ ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auch der Kontrast zwischen Alltäglichem und Außeralltäglichem angesprochen: Der Alltag erscheint theologisch als das (etwa durch einschneidende biographische Erfahrungen, aber auch durch Feste) Unterbrochene. Innerhalb der Theologie wird der Begriff bislang insbesondere im poimenischen Diskurs aufgegriffen,2Vgl. etwa Steck, Wolfgang, Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt, in: ThZ 43 (1987), 175–183; Hauschildt, Eberhard, Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuches, Göttingen 1996. aber auch in der Homiletik und Religionspädagogik ist er von Bedeutung. Dass er auch in systematisch-theologischer und religionsphilosophischer Perspektive zum Erkenntnisgewinn beitragen kann, sollen die folgenden Überlegungen zeigen.
2. (Religions-)philosophische Zugänge zum Alltag
2.1. Mythen des Alltags
In seinem Werk Mythen des Alltags unterzieht der französische Philosoph Roland Barthes (1915–1980) ausgewählte Phänomene einer methodischen Relektüre, bei der er scheinbare Selbstverständlichkeiten aufrütteln möchte, mit denen diese Phänomene täglich wahrgenommen werden: Er möchte „dem ideologischen Mißbrauch auf die Spur kommen, der sich nach meinem Gefühl in der dekorativen Darstellung des Selbstverständlichen verbirgt“.3Barthes, Roland, Mythen des Alltags, Berlin 2012 (Erstausgabe: 1957), 11. Alltägliche Phänomene sind nach Barthes im Sinne komplexer Zeichensysteme – nach Barthes wären dies „Mythen“ – zu deuten. So untersucht er exemplarisch einige „Mythen“ aus dem Alltag, wie zum Beispiel die Hochzeit, die im Alltag immer auch für „soziales Prestige“4Barthes, Mythen, 62. stehe. Neben der Hochzeit untersucht Barthes als ein weiteres Alltagsphänomen Spielsachen. Er deutet Spielsachen im Sinne von Abbildern jener Gegenstände, mit denen Erwachsene sich umgeben; sie seien „verkleinerte Reproduktionen von Dingen aus der Erwachsenenwelt, als ob in den Augen des Publikums das Kind eigentlich nur ein kleinerer Mensch wäre, ein Homunkulus, dem man Gegenstände liefern muß, die seiner Größe entsprechen“.5Barthes, Mythen, 74. Mit seiner Alltagsanalyse verbindet sich oft auch eine sozialkritische Perspektive, etwa wenn er kritisiert, das Spielzeug sei „im allgemeinen ein Imitationsspielzeug, es will aus den Kindern Benutzer, nicht Schöpfer machen“.6Barthes, Mythen, 75. Der Alltag ist für Barthes ein kommunikatives System von Phänomenen, die in ihrer Vieldeutigkeit Anlass zur semiotischen Analyse geben. Der Gedanke, dass dem Alltag eine Tiefenstruktur innewohnt, zeigt sich auch in den beiden im Folgenden betrachteten Ansätzen.
2.2. Alltägliche Transzendenzen
Im Sinne der beiden Soziologen Alfred Schütz (1899–1959) und Thomas Luckmann
(1927–2016, Schütz‘ Schüler, der dessen Werk posthum fertigstellte) stellt der Alltag eine tradierte Ordnung lebenswichtiger Strukturen dar, „denn eben im Alltag sind wir nicht allein und nicht die ersten“.7Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, 590. Diese Ordnungen werden erst dann vollkommen bewusst, wenn sie als fragil erlebt werden. Die menschliche Grunderfahrung, dass alltägliche Ordnungen als zerbrechlich erfahren werden können, bezeichnen Schütz/Luckmann mit dem Begriff der „Transzendenz“: „Jedermann weiß um die ‚Transzendenz’ der Welt, in der er lebt, jedermann weiß um die Grenzen seines Lebens in ihr. Wir leben in einer Welt, von der wir wissen, daß wir in ihr sterben werden.“8Schütz/Luckmann, Strukturen, 590. Dabei unterscheiden sie drei Formen von Transzendenzen: kleine, mittlere und große. Während kleine Transzendenzen alltägliche Grenzerfahrungen wie z. B. Erinnerungslücken bezeichnen, beziehen sich große Transzendenzen auf die großen Fragen des Lebens wie jene nach dem Tod. Mittlere Transzendenzen hingegen beziehen sich auf die alltägliche Verständigung zwischen Menschen, konkret auf solche Momente, in denen die Kommunikation stockt. Die alltägliche Transzendenz zeigt sich nach Schütz und Luckmann insbesondere in der Kommunikation – dies ist ein Gedanke, der sich später in homiletischen und v. a. poimenischen Theorien zeigen wird und der, wie im nächsten Absatz skizziert wird, bei Bernhard Waldenfels
Anklang findet.
2.3. Das alltägliche Mehr an Bedeutung
Nach dem Philosophen Bernhard Waldenfels kommt allen Phänomenen ein „alltägliche[s] Mehr an Bedeutung […] aufgrund ihres Verweisungscharakters“9Waldenfels, Bernhard, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin 2012, 358. zu. Deutlich wird dies bei Waldenfels an Beispielen des Alltags wie jenem der Gabe, die auf alltäglicher Ebene zu bestimmten Anlässen erscheint, gleichzeitig aber den Alltag auf mannigfaltige Weise überschreitet: zum Beispiel, indem die Gabe zum Symbol interpersoneller Beziehungen wird.10Vgl. Waldenfels, Bernhard, Das Un-ding der Gabe, in: Gondek, Hans-Dieter/ders., Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt a. M. 1997, 385–409. Von solchen alltäglichen Phänomenen unterscheidet Waldenfels religiöse Praktiken und rituelle Handlungen mit einem „außeralltäglichen Bedeutungsüberschuss“.11Waldenfels, Hyperphänomene, 358. Das Religiöse besteht für Waldenfels allerdings nicht in einer unterschiedlichen Konstitution auf Ebene des Phänomens, sondern vielmehr in einer bestimmten Deutungsperspektive: Die Alltagsphänomene sind nicht per se religiös, sondern sie werden „als religiös verstanden“.12Waldenfels, Hyperphänomene, 359. Manche Phänomene laden aber besonders zu einer hyperphänomenalen Deutung ein, nämlich „Einbrüche und Durchbrüche, die das normale Verhalten unterbrechen“13Waldenfels, Hyperphänomene, 367. wie zum Beispiel Geburt und Tod, Liebe und Hass, Begegnung und Abschied. Das Hyperbolische einer solchen Erfahrung verdeutlicht Waldenfels sprachlich, insofern es seinen Ausdruck weder im Superlativ oder Elativ findet, sondern vielmehr in „Formulierungen […] wie ‚zu groß’, die wir dann gebrauchen, wenn etwas unsere Fassungskraft übersteigt“.14Waldenfels, Hyperphänomene, 71. In theologischer Perspektive lässt sich der Gedanke des Hyperbolischen übertragen auf Momente der Kommunikation, in denen jene „überschießt“, indem sie auf eine ganzheitliche, existenzielle Ebene wechselt.15Vgl. Grill, Lukas, Überschießende Kommunikation. Eine Religionstheorie alltäglicher Rede, Göttingen 2020.
3. Theologische Zugänge zum Alltag
3.1. Gottesdienst und Alltag
Im weiteren Sinne spielt der Alltag in der Gottesdienstkonzeption Friedrich Schleiermachers eine zentrale Rolle. Zwar spricht er nicht vom „Alltag“, jedoch von „Unterbrechungen“, welche „Vereinigungen zu einem rein religiösen Zwekk, die zu bestimmten Zeiten wiederkehren“,16Schleiermacher, Friedrich, Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen (SW I/13), hrsg. v. Jacob Frerichs, Berlin 1850, 70. darstellen – gemeint ist in erster Linie der Gottesdienst. Hinsichtlich der Frage, was unterbrochen wird, nennt Schleiermacher das „übrige[] Leben[]“, „[d]ie bürgerliche und Geschäfts-Thätigkeit“, das „Geschäftsleben“, „das Arbeits- und Geschäfts-Leben“ oder „Arbeit und das Geschäft“.17Alle Schleiermacher, Theologie, 70. Es wird deutlich, dass durch den Gottesdienst vor allem das Berufsleben unterbrochen wird, aber eben auch alle „bürgerliche […] Thätigkeit“, im weitesten Sinne: der Alltag der Menschen. In seiner Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens beschreibt Schleiermacher ebenfalls eine Unterbrechung, allerdings nicht durch den Gottesdienst, sondern durch „[f]reie, durch keinen äußern Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit“.18Schleiermacher Friedrich, Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, in: Kritische Gesamtausgabe I/2, Berlin/ New York 1984, 165–184, 165. Diese grenzt er auf der einen Seite von „den Sorgen des häuslichen Lebens“, auf der anderen Seite von „den Geschäften des bürgerlichen Lebens“19Beide Schleiermacher, Versuch, 165. ab. Auch hier wird das alltägliche, von Arbeit und Familie geprägte Leben als etwas zu Unterbrechendes geschildert. Der „Alltag“ – wenn man Schleiermachers Beschreibungen aus heutiger Sicht so bezeichnen kann – wird ex negativo bestimmt, als etwas, das eines Gegengewichts bedarf.
Im engeren Sinne wurde das Thema „Alltag“ für die evangelische Theologie im Zuge der theologischen Neuorientierungen in den 1960er Jahren relevant. In kritischer Auseinandersetzung mit der Wort-Gottes-Theologie war Ernst Lange (1927–1974) einer der ersten Theologen, die sich theoretisch und praktisch dafür einsetzten, dass Theologie bzw. Kirche nicht einer gebildeten Minderheit vorenthalten bleibt und sich mit weltfremden Themen beschäftigen, sondern dass sie die alltäglichen Fragen von Menschen in den Blick nimmt. In Berlin-Spandau gründete er die sogenannte „Ladenkirche“, eine Kirche mitten im Stadtleben in einem ehemaligen Geschäft: „ein Programm für eine Kirche nah an der Straße, nah am Leben, in den wirklichen Konflikten des wirklichen Alltags von Menschen“.20Lange, Ernst, Briefe 1942–1974. Unter der Mitarbeit von Gerhard Altenburg, Peter Cornehl und Wolfgang Grünberg. Mit einem Vorwort von Wolfgang Huber, hrsg. v. Martin Bröking-Bortfeld/Christian Gößinger/Markus Ramm, Berlin 2011, 330. Insbesondere die kirchliche Predigt sieht er herausgefordert, mit den Anforderungen des „Alltags“ umzugehen. Ziel einer Predigt ist es aus Langes Sicht nicht, dass die Predigerin oder der Prediger um jeden Preis bestimmte, vorgegebene Themen positioniert. Sondern am Anfang steht für ihn vielmehr die Predigthörerin und der Predigthörer in seiner alltäglichen Situation: „Welche Relevanz hat die Christusverheißung im Hic et Nunc des Hörers?“21Lange, Ernst, Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt, hrsg. v. Rüdiger Schloz, München 1982, 28. Eine wichtige Aufgabe der Predigt besteht daher in der Orientierung an der jeweiligen „homiletische[n] Situation, durch die der homiletische Akt jeweils herausgefordert wird“22Lange, Predigen, 30. – also die konkrete, lebensweltliche Situation, in die der Bibeltext hineingepredigt wird, wozu eben auch der Alltag der Hörerinnen und Hörer gehört.
3.2. Religion als Distanznahme zum Alltag
In der Tradition eines Alltagsverständnisses, wie Schütz und Luckmann
es entwerfen (s. o.), legt Henning Luther
(1947–1991) in seinem Werk Religion und Alltag den Fokus auf die Bruchlinien im Alltag, auf jene Momente, in denen die Selbstverständlichkeiten des Alltags plötzlich fraglich werden. Es sind religiöse Fragen, die nach H. Luther in solchen Momenten präsent werden – religiös in jenem Sinne, dass eine Distanz zum Alltag aufgemacht wird: „Religiöse Fragen […] gehen auf Distanz zur Welt insgesamt. Sie artikulieren Differenz zur Welt, um einen (neuen) Bezug zur Welt zu gewinnen.“23Luther, Henning, Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 25. Damit ist weniger eine kritische Distanz gemeint, mit der Religion den Alltag abwerten oder beurteilen würde, sondern es ist vielmehr eine interessierte, öffnende Distanz, mit der bestehende Selbstverständlichkeiten hinterfragt und neue Perspektiven auf die „Welt insgesamt“ ermöglicht werden. Religion ist nach H. Luther daher „im Kern gerade nicht Sinnstiftung oder Bewältigung von Kontingenz“,24Luther, Religion, 27. weil sie die Fraglichkeiten des Alltags nicht abschließt, sondern: „Religion bewahrt vielmehr die Zerrissenheit, aus der sie lebt. Sie ist Trost nur, insofern sie mit der Erinnerung an das ‚Versprechen’ den Einspruch gegen eine Welt wachhält, die ohne Tränen der Trauer ist.“25Luther, Religion, 27. Der Alltag ist deshalb so eng mit Religion verknüpft, weil er im Sinne H. Luthers der Ursprung religiösen Fragens ist: Religion bedeutet dann nicht, „Sinn für eine (die) andere Welt zu haben, sondern die Welt anders zu sehen, einen anderen Sinn für die Welt zu bekommen“.26Luther, Religion, 29. H. Luthers Ansatz ist also keine „Alltagstheologie“ im Sinne jener Ansätze, die im Folgenden vorgestellt werden, sondern aus H. Luthers Schriften spricht die Intention, den Alltag gleichsam als Ansatz wie als Kritikpunkt theologischen Nachdenkens in den Blick zu nehmen.
3.3. Alltagstheologie und Alltagsdogmatik
In den jüngeren theologischen Diskursen wurde der Alltagsbegriff vor allem durch Wolfgang Steck und seine Schülerinnen und Schüler etabliert. Im Jahr 2014 hielt Steck fest: „In den vergangenen Jahrzehnten hielt der ‚Alltag’ Einzug in die Studierstuben der praktischen Theologen.“27Steck, Wolfgang, Der Alltag steht Modell. Entdeckung, Erkundung und Inszenierung einer sinnstiftenden Wirklichkeitsregion, in: Heyl, Andreas von/Kemnitzer, Konstanze Evangelia (Hrsg.), Modellhaftes Denken in der Praktischen Theologie. Festschrift für Klaus Raschzok, Leipzig 2014, 195–204, 195. Dies macht er fest an einem weiten, alltagsphänomenologischen Themenspektrum, dem sich die „Alltagstheologen“28Steck, Alltag, 195. in jüngerer Zeit widmen. Theologie setze sich eben nicht mehr ausschließlich mit biblischen oder dogmatischen, sondern auch mit ganz alltäglichen Themen wie Popularmusik oder Sport auseinander. Die enge Verbindung von Theorie und Praxis in der Theologie als „positiver“ Wissenschaft ist für Steck der Grund, weshalb Theologinnen und Theologen einen von anderen Fachperspektiven unterschiedenen Blick auf den Alltag besitzen. Für die Theologie ist der Alltag nicht nur abstraktes Untersuchungsobjekt, sondern Theologinnen und Theologen bewegen sich in unterschiedlichen Berufsfeldern häufig selbst mitten im Alltag der Menschen – etwa in der Seelsorge oder in der Predigt. Eine Pfarrperson befindet sich nach Steck in einem charakteristischen Spannungsverhältnis, ist sie doch einerseits Partizipantin der Alltagswelt, ein „Alltagsmensch[…]“,29Steck, Alltag, 197. betrachtet diese Welt aber andererseits aus einer reflexiven Distanz. Dieses Dazwischen zeigt sich nach Steck besonders im Seelsorgegespräch, in dem aus einem „Smalltalk“ plötzlich eine „eine ernsthafte Unterredung“30Steck, Alltag, 198. werden kann. Mit diesem Übergang vom Alltags- zum Seelsorgegespräch haben sich Praktische Theologinnen und Theologen in der Tradition Stecks aus poimenischer Perspektive auseinandergesetzt.31Vgl. etwa Hauschildt, Alltagsseelsorge.
Eine weitreichende theologische Perspektive auf den Alltag bietet jene der Alltagsdogmatik an, die ebenfalls von Wolfgang Steck geprägt wurde. Mit „Alltagsdogmatik“ meint Steck jedoch nicht primär, traditionelle dogmatische Denkfiguren für theologische „Laien“ verständlich zu machen. Sondern Alltagsdogmatik bedeutet vor allem, dass Alltag und Dogmatik in ein konstruktives Gespräch gebracht werden, wobei versucht werden soll, „die in die Alltagspraxis verwobenen Gestalten religiösen Wissens hinsichtlich ihrer spezifischen Sinngehalte zu entschlüsseln“ und über die Anregung einer Selbstreflexion von Theologinnen und Theologen letztlich „einen Beitrag zur Fortentwicklung der protestantischen Religionskultur, zu ihrer alltagsverbundenen wie zu ihrer wissenschaftlich avancierten Selbstreflexion, zu leisten“.32Steck, Wolfgang, Alltagsdogmatik. Ein unvollendetes Projekt, in: Pastoraltheologie 94 (2005), 287–307, 291. Alltagsdogmatik sucht damit Verbindungen zwischen den traditionellen Topoi christlicher Lehre und gegenwärtigen Diskursen und steht damit vor der Herausforderung, Alltag und Dogmatik so miteinander ins Gespräch zu bringen, dass die Dogmatik nicht unterkomplex und der Alltag gleichzeitig nicht abgewertet, sondern in seiner subjektiven Bedeutung ernstgenommen wird. Ein Beispiel, wie alltagsdogmatisches Nachdenken funktionieren könnte, findet sich in einem im folgenden Abschnitt referierten Band.
3.4. Theologie als Religionshermeneutik des Alltags
Zur selben Zeit, als auch Wolfgang Steck und Henning Luther
ihre theologischen Alltagstheorien entwarfen, entwickelte Wilhelm Gräb
eine ebenfalls alltagszugewandte Theologie unter dem Oberbegriff der Religions(kultur)hermeneutik. In der Tradition von Schütz
und Luckmann
setzt er den religionshermeneutischen Fokus auf Erfahrungen von Grenzen – etwa „der Grenzen unserer analytischen Fähigkeiten“, jener „unserer ethischen Sicherheit“, oder auch „der Grenzen unserer Leidensfähigkeit“.33Gräb, Wilhelm, Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur, Gütersloh 2006, 38. Religiöse Fragen brechen dort auf, wo die „scheinbare Selbstverständlichkeit unseres alltäglichen Lebensgangs“34Gräb, Sinnfragen, 38. fraglich wird. Anders als H. Luther zögert Gräb nicht, Religion auch als funktionales Phänomen zu beschreiben: „Sie arbeitet an der Deutung des Sinns unseres kontingenten, individuellen menschlichen Lebens.“35Gräb, Sinnfragen, 37. In der Tradition Gräbs zeigt sich Religion in der konkreten und historisch veränderlichen Gestalt menschlicher Kultur, das heißt gerade auch: der Alltagskultur. Im Jahr 2008 erschien unter dem Titel Der verborgene Sinn eine Festschrift für Wilhelm Gräb, die die von ihm begründete religionskulturhermeneutische Tradition in jenem Sinne weiterdenkt, als sie sie mit der Idee der Alltagsdogmatik nach Steck verbindet. Die darin enthaltenen Beiträge zielen darauf ab, den Überschuss an Sinn, das Transzendente in ebenjenen Momenten des Alltags sichtbar zu machen, in denen sie aufbrechen: Inwiefern bricht beim Aufstehen die Frage nach dem Sinn auf, offenbart sich im Falle einer Zugverspätung die Kontigenz des Lebens oder wird am Beispiel des Weihnachtsgeschenks eine anthropologische Grundstruktur des Dankens ersichtlich? Die Grundüberlegung dieser alltagshermeneutischen Tiefenbohrungen ist jene, dass „der Alltag hochgradig von verborgenem Sinn durchzogen“36Korsch, Dietrich/Charbonnier, Lars (Hrsg.), Der verborgene Sinn. Religiöse Dimensionen des Alltags, Göttingen 2008, 12. ist. Diesem verborgenen Sinn nachzuspüren, der sich insbesondere an den Kontingenzen des Lebens zeigt, ist in dieser Konzeption die Aufgabe theologischen Nachdenkens. „Alltagsdogmatik“ steht damit für einen hermeneutischen Zugang zu einer Grundspannung, die dem Alltag im Sinne der vorgestellten Positionen immer schon eingeschrieben ist: Alltag lebt von seinen lebensweltlichen Grenzen, an denen das „Außeralltägliche“ beginnt, und auf diese Grenzen verweist der Alltag und durch sie definiert er sich selbst.