Eudaimonismus

Der Eudaimonismus ist eine Form der ethischen Reflexion, die sich auf die Eudaimonia, das höchste Gut des menschlichen Lebens, und seine Beziehung zur Tugend konzentriert. Das frühe und mittelalterliche christliche Denken, das diesen Fragehorizont von der griechischen Moralphilosophie übernahm, formte ihn in Bezug auf die biblischen ethischen Traditionen um, in deren Mittelpunkt die rechte Beziehung zu Gott stand. Gott wurde als finis ultimus (wörtl. letztes Ziel) und höchstes Gut verstanden. In freundschaftlicher Verbindung zu ihm sei das Glück zu finden. Der ekstatische, selbsttranszendierende Charakter dieser Tradition ging in der frühen Neuzeit mit dem Aufkommen des Utilitarismus verloren. Zeitgenössische Debatten über den Eudaimonismus drehen sich um die Frage, ob er unangemessen selbstbezogen ist.

Inhaltsverzeichnis

    1. Eudaimonismus in der antiken Philosophie

    Der Eudaimonismus ist eine Form der ethischen Reflexion, die sich auf Eudaimonia, das höchste Gut des menschlichen Lebens, und seine Beziehung zur Tugend konzentriert. Der Begriff leitet sich von dem griechischen Wort eudaimonia ab, das mit Glück oder Gedeihen übersetzt wird. Der antike Eudaimonismus bezieht sich nicht auf das Streben nach Glück im modernen Sinne als positive Stimmung oder subjektives Wohlbefinden. Die griechischen Denker der Antike betrachteten die eudaimonia stattdessen als das endgültige Ziel und das bedingungslos vollkommene Gut für den Menschen. Sie ist das, was alle um ihrer selbst willen wählen und wofür alles andere gewählt wird.

    Eine zentrale Aufgabe der antiken ethischen Reflexion bestand darin, die verschiedenen Kandidaten für dieses bedingungslos vollkommene Gut zu bewerten. Aristoteles oes-gnd-iconwaiting... stellte in diesem Zusammenhang beispielsweise fest, dass viele dachten, Eudaimonia bestehe in Vergnügen, Reichtum oder Ehre.1Vgl. Aristotle, Nicomachean Ethics, übers. von Terence Irwin, Indianapolis 1985, 1095a15–30. Seiner Ansicht nach kann aber keines dieser Güter als bedingungslos vollkommenes Gut dienen. Eudaimonia bestehe vielmehr darin, gut zu leben und sich gut in der Welt zurechtzufinden, was nach Aristoteles ein Leben erfordert, das die Vollkommenheit der besonderen menschlichen Fähigkeit zum Vernunftgebrauch zeigt.2Vgl. Aristotle, Nicomachean Ethics, 1097b25–1098a20. Möglich sei dies durch ein tugendhaftes Leben, das Fähigkeiten sowohl für das aktive bürgerliche Leben als auch für die philosophische Kontemplation vervollkommnet.

    Alle ethischen Schulen der Antike – mit Ausnahme der Kyrenaiker, die das Ziel des Menschen in der Maximierung des gegenwärtigen Vergnügens sahen, – stimmten in dieser grundlegenden Ansicht überein, nach der das menschliche Gut und der finis ultimus in der Eudaimonia bestehen, die zumindest teilweise durch ein tugendhaftes Leben zustande kommt. Die Schulen trennten sich erst in der Frage, ob Tugendhaftigkeit zum Glücklichsein ausreiche, wie die Stoiker meinten, oder ob es auch das Vorhandensein anderer ermöglichender Güter erfordere, wie Aristoteles oes-gnd-iconwaiting... behauptete.3Vgl. Annas, Julia, The Morality of Happiness, Oxford 1993, 329–333.

    2. Der christliche Eudaimonismus und sein ekstatischer Charakter

    Das christliche ethische Nachdenken ist zutiefst von antiken Reflexionsmustern über Glück und das höchste Gut geprägt. Augustinus oes-gnd-iconwaiting... zum Beispiel hielt es für selbstverständlich, dass das Glück das letzte Ziel (finis ultimus) des Menschen sei und dass es eine begriffliche Verbindung zwischen unserem letzten Ziel und dem höchsten Gut gebe; Ziele würden angestrebt, insofern sie als gut empfunden würden, und die Reflexion darüber, wie wir handeln sollten, führe zu einem letzten Ziel, insofern unsere verschiedenen Ziele in kohärenter Weise zueinander angeordnet werden müssten.4Vgl. Augustine, Sermons 94A–150, in: Rotelle, John E. (Hrsg.), The Works of Saint Augustine. A Translation for the 21st Century III/4, Brooklyn 1992, 150; Augustine, City of God, hrsg. von Robert W. Dyson, Cambridge 1998, X.1, 390; XIX.1, 909 (Die deutsche Übersetzung findet sich in der online zugänglichen Bibliothek der Kirchenväter: https://bkv.unifr.ch/de/works/cpl-313/versions/zweiundzwanzig-bucher-uber-den-gottesstaat-bkv/divisions/3, abgerufen am 28.07.2025). Für Augustinus war auch klar, dass das, was für den Menschen gut ist, mit dem Guten als solchem verbunden sein muss. Für Platon oes-gnd-iconwaiting... war dies die Form des Guten; für den Kirchenvater dagegen ist es Gott, der das Gute selbst ist und alle guten Dinge erst gut macht.5Vgl. Augustine, De Doctrina Christiana, hrsg. und übers. von R. P. H. Green, Oxford/New York 1995, I.34.38 (Die deutsche Übersetzung findet sich in der online zugänglichen Bibliothek der Kirchenväter: https://bkv.unifr.ch/de/works/cpl-263/versions/vier-bucher-uber-die-christliche-lehre-bkv/divisions/2, abgerufen am 28.07.2025).

    Unter Einbezug eines Kernthemas der hebräischen biblischen Tradition haben christliche Denker*innen das Glück in der rechten Beziehung zu Gott und Gottes Schöpfung gesehen. Diese rechte Beziehung zu Gott bedeutet dabei, Gott zu lieben und ihm im Charakter ähnlicher zu werden: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Mt 5,48Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.Zur Bibelstelle).  Die Liebe zu Gott hat damit einen theozentrischen und daher selbsttranszendierenden oder ekstatischen Charakter, der sich in erster Linie auf Gottes Güte und seine Würdigkeit, geliebt zu werden, konzentriert und erst in zweiter Linie auf die Vorteile, die sich aus der Liebe zu Gott für einen selbst ergeben.6Vgl. Herdt, Jennifer, Assuming Responsibility. Ecstatic Eudaimonism and the Call to Live Well, Oxford 2022, Kap. 2–3.

    Für Thomas von Aquin oes-gnd-iconwaiting..., der im 13. Jahrhundert eine elegante Synthese der christlich-platonischen Traditionen mit der neu entdeckten Fülle des aristotelischen Denkens schuf, ist Gott der finis ultimus der Menschheit und der gesamten Schöpfung. Alle Dinge würden auf eine ihnen jeweils angemessene Art und Weise, in der sie das gemeinsame Gute lieben, zu Gott hingezogen werden. Durch das Eingießen der Caritas könne der Egoismus der gefallenen menschlichen Natur geheilt werden, und die Menschen könnten so dazu kommen, Gott mehr mit der Liebe der Freundschaft als mit der Liebe der Konkupiszenz (Begierde) zu lieben. Das bedeutet, dass in dieser Denktradition Menschen dazu kommen können, Gott zu lieben, nicht nur weil sie selbst dadurch glücklich werden, sondern schlicht wegen der Güte Gottes, „denn ein größeres Gut ist Gott in Sich als das Gute, was wir an Ihm genießen“.7Thomas Aquinas, Summa Theologiae, Maryland 1981, II-II.26.3 ad 3 (Die deutsche Übersetzung findet sich in der online zugänglichen Bibliothek der Kirchenväter: https://bkv.unifr.ch/de/works/sth/versions/summe-der-theologie/divisions/1879; abgerufen am 28.07.2025); Herdt, Jennifer A., In the Furnace of Love. Formed for Charity (Exploring Personhood Conference 2023, Southeastern Seminary), 29.03.2023 (Video, https://www.youtube.com/watch?v=UZVlCaqXF9s), abgerufen am 28.07.2025.

    3. Rätsel reiner Liebe

    Bestimmte Rätsel ergeben sich dadurch, dass die Liebe zu Gott den Menschen als Subjekt miteinbezieht. Die Liebe zu Gott vervollkommnet und erfüllt die liebende Person. Es ist ein wiederkehrendes Anliegen des christlichen Denkens gewesen, die Reinheit des Charakters der vollendeten Gottesliebe zu unterstreichen, indem man versuchte, sie von jeglicher Selbstbezogenheit des Menschen zu befreien. Abaelard oes-gnd-iconwaiting... bestand im 12. Jahrhundert darauf, dass Gott um seiner absoluten Güte willen geliebt werden müsse, was immer er auch mit uns tun mag.8Vgl. Abelard, Peter, Expositio in epistolam Pauli ad Romanos III (Migne, P. L. CLSSVIII, c. 892) (Burnaby 257). Duns Scotus oes-gnd-iconwaiting... kehrte im 14. Jahrhundert zu diesem Gedanken zurück und argumentierte, dass die Reinheit der Liebe zu Gott durch eine kontrafaktische Situation gezeigt werden könne: Die Caritas würde Gott vor allem um seiner selbst willen lieben, „selbst wenn, um das Unmögliche anzunehmen, jeder Nutzen für den Liebenden ausgeschlossen wäre“.9Duns Scotus, John, Ordinatio 3, suppl. D. 27, in: Duns Scotus on the Will and Morality, übers. von Allan B. Wolter, Washington DC 1986, 427–428 (von der Redaktion ins Deutsche übersetzt). Martin Luther oes-gnd-iconwaiting... bestand darauf, dass die Liebe der Begierde nicht einfach von der Liebe zur Caritas überschattet werden dürfe, sondern letztere jene erste ganz und gar auszulöschen habe.10Vgl. Luther, Martin, Lectures on Romans. Luther’s Works, hrsg. von Hilton C. Oswald, Saint Louis 1972, 381.

    Der französische Erzbischof François Fénelon oes-gnd-iconwaiting... aus dem 17. Jahrhundert schloss sich diesen früheren Denkern an, indem er darauf bestand, dass die „reine Liebe“ zu Gott sich dem Willen Gottes unterwerfe, selbst wenn dieser Wille zur Verdammnis des Liebenden führt.11Vgl. Fenelon, François de Salignac de La Mothe, Pure Love, in: Fénelon. Selected Writings, hrsg. und übers. von Chad Helms, Mahwah 2006, 224. Fénelons Lehre von der reinen Liebe wurde 1699 päpstlich verurteilt als eine Form des Quietismus, der für Selbstvernichtung und völlige Passivität gegenüber dem göttlichen Willen eintritt.

    Alle diese Bewegungen lassen sich am besten als Versuche verstehen, den ekstatischen Charakter des christlichen Eudaimonismus zu artikulieren. Sie sind keine Ablehnung des Eudaimonismus per se.12Vgl. Herdt, Responsibility, 83–84.  Sie haben einen paradoxen oder kontrafaktischen Charakter, insofern als die Eudaimonia, wenn sie als wesentlich durch die rechte Beziehung zum höchsten Gut konstituiert verstanden wird, nicht durch die rechte Beziehung zum höchsten Gut verloren gehen kann.

    4. Das Aufkommen des Utilitarismus

    Im 17. Jahrhundert vollzog sich ein grundlegender konzeptioneller Wandel: Glück wurde zunehmend als ein subjektiver Bewusstseinszustand verstanden, der auf verschiedene Weise erzeugt werden kann. Gott wiederum wurde nicht mehr als Endzweck und höchstes Gut begriffen, sondern als die Macht, die in der Lage ist, ein maximales menschliches Glück zu erzeugen, das als „die beste Wirkung“ verstanden wird.13Vgl. Darr, Ryan, The Best Effect. Theology and the Origins of Consequentialism, Chicago/London 2023, 97. Als Gottes Ziel bei der Erschaffung der Welt und damit als das eigentliche Ziel des Menschen, frei von jeder Sorge um unangemessene Selbstliebe, wurde das menschliche Glück angesehen. Der Verweis der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung auf die natürlichen Rechte auf „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ zeugt von dieser neuen Haltung.

    Eine voluntaristische Form des theologischen Utilitarismus entstand im 18. Jahrhundert bei Denkern wie John Gay oes-gnd-iconwaiting... und Edmund Law oes-gnd-iconwaiting..., wonach die Menschen göttlichen Geboten gehorchen sollten, weil nur Gott in der Lage sei, das Glück zu sichern.14Vgl. Darr, Effect, 188. Der ekstatische Eudaimonismus, demzufolge das Streben nach Gütern, die um ihrer selbst willen liebenswert sind, zur Liebe zu Gott als dem Guten selbst führt, wurde immer schwieriger zu begreifen. 

    5. Moderne Kritiken am Eudaimonismus

    In diesem Zusammenhang wurde der Begriff des Eudaimonismus von Immanuel Kant oes-gnd-iconwaiting..., für den er ein Schimpfwort war, geprägt.15Vgl. Reiner, Hans, Art. Eudämonismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1972 (https://doi.org/10.24894/HWPh.985), abgerufen am 28.07.2025. Kant war der Meinung, dass der Mensch von Natur aus nach Glück strebe, dass er diesen Wunsch aber der Achtung des Sittengesetzes unterordnen solle.16Vgl. Kant, Immanuel, The Metaphysics of Morals, übers. von Mary Gregor, Cambridge 1996, 143. Ein Eudaimonist sei jemand, der dies nicht tue und stattdessen unmittelbare subjektive Gefühle oder das „Bewusstsein der Annehmlichkeit des Lebens, das seine ganze Existenz ununterbrochen begleitet“, zum „obersten Entscheidungsgrund“ macht.17Kant, Immanuel, Critique of Practical Reason, übers. von Mary Gregor, Cambridge 2015, 20 (von der Redaktion ins Deutsche übersetzt). Das Aufkommen der Deontologie und des Utilitarismus als konkurrierende Schulen der modernen Moralphilosophie spiegelt die Auflösung der christlichen Tradition des ekstatischen Eudaimonismus wider.

    Anders Nygren oes-gnd-iconwaiting... beschuldigte im frühen 20. Jahrhundert Augustinus oes-gnd-iconwaiting..., den völlig selbstlosen Charakter der christlichen agapischen Liebe durch die Einführung eudaimonistischer Tendenzen verunreinigt zu haben; er führt aus, dass und inwiefern Luther oes-gnd-iconwaiting... die Agape von heidnischen Verzerrungen gereinigt habe, die er durch das katholische Denken eingeführt sieht.18Vgl. Nygren, Anders, Agape and Eros, Part I – A Study of the Christian Idea of Love; Part II – The History of the Christian Idea of Love, übers. von Philip Watson, London 1953. Nygren war verantwortlich für die anhaltende Neigung, den Katholizismus mit Eudaimonismus und den Protestantismus mit agapistischem Anti-Eudaimonismus in Verbindung zu bringen, obwohl sowohl katholische als auch protestantische Denker*innen bestrebt waren, die Liebe Gottes von jeglichen selbstbezogenen oder selbstverliebten Merkmalen zu reinigen. 

    Tobias Faix und Thorsten Dietz zeichnen in diesem Podcast auch die historischen Etappen einer Ethik der Lust nach und diskutieren aus protestantischer Perspektive die Frage: „Brauchen wir eine Ethik der Lust?“ (Karte und Gebiet – Folge 43), 21.02.2025.

    6. Eudaimonismus in der Positiven Psychologie und Glücksökonomie

    Mit dem Aufkommen der positiven Psychologie, die sich von Pathologien abwendet und sich auf die Steigerung des Glücks und des Wohlbefindens konzentriert, ist das Interesse am Eudaimonismus neu entfacht worden.19Vgl. Seligman, Martin, Authentic Happiness. Using the New Positive Psychology to Realize Your Potential for Lasting Fulfillment, New York 2002; Seligman, Martin, Flourish. A Visionary New Understanding of Happiness and Well-Being, New York 2011; Herdt, Furnace. Forscher*innen haben argumentiert, dass es wichtige Unterschiede zwischen hedonischem Wohlbefinden, das mit Vergnügen und der Vermeidung von Schmerz verbunden ist, und eudaimonischem Wohlbefinden, das als Sinn und Zweck des Lebens verstanden wird, gebe.20Vgl. Ryan, Richard M./Deci, Edward L., On Happiness and Human Potentials. A Review of Research on Hedonic and Eudaimonic Well-Being, in: Annual Review of Psychology 52 (2001), 141–166. Solche Ansätze suchen nach empirischen Antworten auf die Frage, welche Art von Verpflichtungen und Aktivitäten ein Gefühl von Sinnhaftigkeit vermitteln können. Viele sind der Auffassung, dass die Tugenden der Schlüssel zur Sicherung des eudaimonischen Wohlbefindens seien, und versuchen daher, das empirische Verständnis in diese Richtung zu erweitern und zu erforschen, wie sich die Tugenden entwickeln und bewusst kultiviert werden können. Der Eudaimonismus, wie er in der zeitgenössischen Positiven Psychologie verstanden wird, unterscheidet sich wesentlich vom ekstatischen Eudaimonismus, da letzterer sich darauf konzentriert, das Objekt oder die Objekte zu finden, die der eigenen Hingabe würdig sind, und nicht auf das eigene Leben und die Schaffung eines sinnvollen Lebens bezogen ist.    

    Die Debatten über Eudaimonie und Wohlstand sind für alle Bereiche relevant, von persönlichen Lebensentwürfen bis hin zur öffentlichen Politik. Die Glücksökonomie versucht, solche soziale Faktoren zu ermitteln und zu messen, die das Empfinden von Glück und Lebenszufriedenheit beeinflussen, und untersucht die relative Bedeutung von Wirtschaftswachstum, stabilen Institutionen, relativem und absolutem Wohlstand und anderen Faktoren für das Glück.21Vgl. Helliwell, John F./Barrington-Leigh, Christopher P., Measuring and Understanding Subjective Well-Being. NBER Working Paper Series 15887, Cambridge 2010 (https://www.nber.org/system/files/working_papers/w15887/w15887.pdf), abgerufen am 28.07.2025. Der World Happiness Report drängt darauf, dass Glück und Wohlbefinden als Kriterien für die Regierungspolitik herangezogen werden, und stützt sich dabei auf die in der Gallup World Poll gesammelten Bewertungen.22Vgl. The World Happiness Report (https://worldhappiness.report/about/), abgerufen am 28.07.2025. Die Glücksökonomie hat dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit auf die Unzulänglichkeit des Bruttoinlandsprodukts als Maßstab für das Wohlbefinden einer Nation zu lenken. Der Begriff des Glücks, den sie verwendet, ist jedoch im Wesentlichen der subjektive Begriff, der im 17. Jahrhundert aufgekommen ist.

    7. Eudaimonismus in der zeitgenössischen philosophischen Theologie

    Der Eudaimonismus ist in der zeitgenössischen philosophischen Theologie und theologischen Ethik nach wie vor ein Thema, das auf viel Interesse stößt. Die Rückbesinnung auf die Tugendethik im späten 20. Jahrhundert brachte eine erneute Beschäftigung mit antiken und mittelalterlichen Überlegungen zum höchsten Gut und finis ultimus mit sich und in einigen Fällen auch eine Wiederbelebung des ekstatischen Eudaimonismus. Die konzeptionellen Verschiebungen der frühen Neuzeit stellen jedoch weiterhin Hindernisse für diese Wiederbelebung dar.

    Sowohl Kritiker als auch Befürworter des Eudaimonismus neigen dazu, subjektives Glück nicht als das zu begreifen, was sich aus einer angemessenen Beziehung zum höchsten Gut ergibt, sondern vielmehr als das höchste Gut selbst. Die Kritiker schließen sich verständlicherweise oft Kants oes-gnd-iconwaiting... Kritik an und behaupten, dass der Eudaimonismus durch Egoismus oder unangemessene Selbstachtung verdorben sei.23Vgl. Hare, John, The Merits of Eudaimonism, in: Journal of Religious Ethics 47/1 (2019), 15–22; Jackson, Timothy, The Priority of Love. Christian Charity and Social Justice, Princeton/Oxford 2003, 151; Hurka, Thomas, Aristotle on Virtue. Wrong, Wrong, and Wrong, in: Peters, Julia (Hrsg.), Aristotelian Ethics in Contemporary Perspective, New York 2013, 9–26. Einige betonen, dass die Tugend nicht ausreiche, um das Glück zu sichern, oder bestehen darauf, dass Christ*innen angesichts der zentralen Bedeutung der Selbstaufopferung für die christliche Nachfolge einen besonderen Grund hätten, den Eudaimonismus abzulehnen.24Vgl. Tessman, Lisa, Burdened Virtues. Virtue Ethics for Liberatory Struggles, Oxford 2005, 159; Simmons, Frederick, Christianity and Eudaimonia, Luck and Eudaimonism, in: Journal of Religious Ethics 47/1 (2019), 43–67, 56. Befürworter*innen des Eudaimonismus verkünden oft den positiven psychologischen Nutzen der Tugenden. Es gibt auch einige Denker*innen, die sich mit der Wiederherstellung der Logik des ekstatischen Eudaimonismus befasst haben und versuchen, ihn wieder verständlich zu machen.25Vgl. Brewer, Talbot, The Retrieval of Ethics, Oxford 2009, 37; Couenhoven, Jesse, Eudaimonism, Virtue, and Self-Sacrifice, in: Journal of Religious Ethics 47/1 (2019), 7–14, 12–13; Frey, Jennifer, Aquinas on Sin, Self-Love, and Self-Transcendence, in: Frey, Jennifer/Vogler, Candace (Hrsg.), Self-Transcendence and Virtue. Perspectives from Philosophy, Psychology, and Theology, New York/London 2019, 62–83; Herdt, Responsibility; Darr, Ryan, Teleology and Consequentialism in Christian Ethics. Goods, Ends, Outcomes, in: Studies in Christian Ethics 36/4 (2023), 906–925; Herdt, Jennifer A., Jennifer Herdt on the Good Life with Co-Hosts Jon Stovell and Ryan Reed (Bridging Theology Podcast), 31.10.2023 (https://open.spotify.com/episode/0DO1yNYgIkyLJm6jGUwfUr), abgerufen am 28.07.2025.  Dazu gehört, dass sie zeigen, wie die Hingabe an Gott als höchstes Gut mit einer Vielzahl von Opfern vereinbar ist, bis hin zum Opfer des eigenen Lebens, aber nicht mit dem Opfer der rechten Beziehung zu Gott, die das zentrale Element der Eudamonie sei.

    Weitere Gedanken der Autorin zum Thema (in englischer Sprache) zur Formung des Menschen finden sich in ihrem Vortrag „In the Furnace of Charity: Formed for Love“ von der „Exploring Personhood Conference“ aus dem Jahr 2023, wo sie Fragen der Glücksökonomie aus ihrer katholischen Perspektive diskutiert. Theologische Tiefenbohrungen zum Verständnis der Formung des Menschen finden sich zu Irenäus und Augustin.

    Aus katholischer religionsphilosophischer Perspektive begibt sich Martin Breul in einem Gespräch auf „Die Suche nach dem guten Leben“ (WDR 5 Das philosophische Radio), 03.02.2025.
    Für eine zeitgenössische Stimme aus dem US-amerikanischen Raum, bietet sich diese Podcastfolge mit der Autorin des Artikels im Interview an: „S2E10 Jennifer Herdt in the Good Life with Co-Hosts Jon Stovell and Ryan Reed“ (Bridging Theology), 31.10.2023.

    Weiterführende Literatur

    Annas, Julia, The Morality of Happiness, Oxford 1993.

    Brewer, Talbot, The Retrieval of Ethics, Oxford 2009.

    Couenhoven, Jesse, Eudaimonism, Virtue, and Self-Sacrifice, in: Journal of Religious Ethics 47/1 (2019), 7–14.

    Darr, Ryan, The Best Effect. Theology and the Origins of Consequentialism, Chicago/London 2023.

    Darr, Ryan, Teleology and Consequentialism in Christian Ethics. Goods, Ends, Outcomes, in: Studies in Christian Ethics 36/4 (2023), 906–925.

    Fénelon, François de Salignac de La Mothe, Pure Love, in: Fénelon. Selected Writings, hrsg. und übers. von Chad Helms, Mahwah 2006.

    Frey, Jennifer, Aquinas on Sin, Self-Love, and Self-Transcendence, in: Frey, Jennifer/Vogler, Candace (Hrsg.), Self-Transcendence and Virtue. Perspectives from Philosophy, Psychology, and Theology, New York/London 2019, 62–83.

    Frey, Jennifer/Vogler, Candace (Hrsg.), Self-Transcendence and Virtue. Perspectives from Philosophy, Psychology, and Theology, New York/London 2019.

    Hare, John, The Merits of Eudaimonism, in: Journal of Religious Ethics 47/1 (2019), 15–22.

    Herdt, Jennifer A., Assuming Responsibility. Ecstatic Eudaimonism and the Call to Live Well, Oxford 2022.

    Jackson, Timothy, The Priority of Love. Christian Charity and Social Justice, Princeton/Oxford 2003.

    Nygren, Anders, Agape and Eros, Part I – A Study of the Christian Idea of Love; Part II – The History of the Christian Idea of Love, London 1953.

    Porter, Jean, Eudaimonism and Christian Ethics. A Scriptural Perspective, in: Journal of Religious Ethics 47/1 (2019), 23–42.

    Reiner, Hans, Art. Eudämonismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1972 (https://doi.org/10.24894/HWPh.985), abgerufen am 28.07.2025.

    Ryan, Richard M./Deci, Edward L., On Happiness and Human Potentials. A Review of Research on Hedonic and Eudaimonic Well-Being, in: Annual Review of Psychology 52 (2001), 141–166.

    Simmons, Frederick, Christianity and Eudaimonia, Luck and Eudaimonism, in: Journal of Religious Ethics 47/1 (2019), 43–67.

    Tessman, Lisa, Burdened Virtues. Virtue Ethics for Liberatory Struggles, Oxford 2005.

    Einzelnachweise

    • 1
      Vgl. Aristotle, Nicomachean Ethics, übers. von Terence Irwin, Indianapolis 1985, 1095a15–30.
    • 2
      Vgl. Aristotle, Nicomachean Ethics, 1097b25–1098a20.
    • 3
      Vgl. Annas, Julia, The Morality of Happiness, Oxford 1993, 329–333.
    • 4
      Vgl. Augustine, Sermons 94A–150, in: Rotelle, John E. (Hrsg.), The Works of Saint Augustine. A Translation for the 21st Century III/4, Brooklyn 1992, 150; Augustine, City of God, hrsg. von Robert W. Dyson, Cambridge 1998, X.1, 390; XIX.1, 909 (Die deutsche Übersetzung findet sich in der online zugänglichen Bibliothek der Kirchenväter: https://bkv.unifr.ch/de/works/cpl-313/versions/zweiundzwanzig-bucher-uber-den-gottesstaat-bkv/divisions/3, abgerufen am 28.07.2025).
    • 5
      Vgl. Augustine, De Doctrina Christiana, hrsg. und übers. von R. P. H. Green, Oxford/New York 1995, I.34.38 (Die deutsche Übersetzung findet sich in der online zugänglichen Bibliothek der Kirchenväter: https://bkv.unifr.ch/de/works/cpl-263/versions/vier-bucher-uber-die-christliche-lehre-bkv/divisions/2, abgerufen am 28.07.2025).
    • 6
      Vgl. Herdt, Jennifer, Assuming Responsibility. Ecstatic Eudaimonism and the Call to Live Well, Oxford 2022, Kap. 2–3.
    • 7
      Thomas Aquinas, Summa Theologiae, Maryland 1981, II-II.26.3 ad 3 (Die deutsche Übersetzung findet sich in der online zugänglichen Bibliothek der Kirchenväter: https://bkv.unifr.ch/de/works/sth/versions/summe-der-theologie/divisions/1879; abgerufen am 28.07.2025); Herdt, Jennifer A., In the Furnace of Love. Formed for Charity (Exploring Personhood Conference 2023, Southeastern Seminary), 29.03.2023 (Video, https://www.youtube.com/watch?v=UZVlCaqXF9s), abgerufen am 28.07.2025.
    • 8
      Vgl. Abelard, Peter, Expositio in epistolam Pauli ad Romanos III (Migne, P. L. CLSSVIII, c. 892) (Burnaby 257).
    • 9
      Duns Scotus, John, Ordinatio 3, suppl. D. 27, in: Duns Scotus on the Will and Morality, übers. von Allan B. Wolter, Washington DC 1986, 427–428 (von der Redaktion ins Deutsche übersetzt).
    • 10
      Vgl. Luther, Martin, Lectures on Romans. Luther’s Works, hrsg. von Hilton C. Oswald, Saint Louis 1972, 381.
    • 11
      Vgl. Fenelon, François de Salignac de La Mothe, Pure Love, in: Fénelon. Selected Writings, hrsg. und übers. von Chad Helms, Mahwah 2006, 224.
    • 12
      Vgl. Herdt, Responsibility, 83–84.
    • 13
      Vgl. Darr, Ryan, The Best Effect. Theology and the Origins of Consequentialism, Chicago/London 2023, 97.
    • 14
      Vgl. Darr, Effect, 188.
    • 15
      Vgl. Reiner, Hans, Art. Eudämonismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1972 (https://doi.org/10.24894/HWPh.985), abgerufen am 28.07.2025.
    • 16
      Vgl. Kant, Immanuel, The Metaphysics of Morals, übers. von Mary Gregor, Cambridge 1996, 143.
    • 17
      Kant, Immanuel, Critique of Practical Reason, übers. von Mary Gregor, Cambridge 2015, 20 (von der Redaktion ins Deutsche übersetzt).
    • 18
      Vgl. Nygren, Anders, Agape and Eros, Part I – A Study of the Christian Idea of Love; Part II – The History of the Christian Idea of Love, übers. von Philip Watson, London 1953.
    • 19
      Vgl. Seligman, Martin, Authentic Happiness. Using the New Positive Psychology to Realize Your Potential for Lasting Fulfillment, New York 2002; Seligman, Martin, Flourish. A Visionary New Understanding of Happiness and Well-Being, New York 2011; Herdt, Furnace.
    • 20
      Vgl. Ryan, Richard M./Deci, Edward L., On Happiness and Human Potentials. A Review of Research on Hedonic and Eudaimonic Well-Being, in: Annual Review of Psychology 52 (2001), 141–166.
    • 21
      Vgl. Helliwell, John F./Barrington-Leigh, Christopher P., Measuring and Understanding Subjective Well-Being. NBER Working Paper Series 15887, Cambridge 2010 (https://www.nber.org/system/files/working_papers/w15887/w15887.pdf), abgerufen am 28.07.2025.
    • 22
      Vgl. The World Happiness Report (https://worldhappiness.report/about/), abgerufen am 28.07.2025.
    • 23
      Vgl. Hare, John, The Merits of Eudaimonism, in: Journal of Religious Ethics 47/1 (2019), 15–22; Jackson, Timothy, The Priority of Love. Christian Charity and Social Justice, Princeton/Oxford 2003, 151; Hurka, Thomas, Aristotle on Virtue. Wrong, Wrong, and Wrong, in: Peters, Julia (Hrsg.), Aristotelian Ethics in Contemporary Perspective, New York 2013, 9–26.
    • 24
      Vgl. Tessman, Lisa, Burdened Virtues. Virtue Ethics for Liberatory Struggles, Oxford 2005, 159; Simmons, Frederick, Christianity and Eudaimonia, Luck and Eudaimonism, in: Journal of Religious Ethics 47/1 (2019), 43–67, 56.
    • 25
      Vgl. Brewer, Talbot, The Retrieval of Ethics, Oxford 2009, 37; Couenhoven, Jesse, Eudaimonism, Virtue, and Self-Sacrifice, in: Journal of Religious Ethics 47/1 (2019), 7–14, 12–13; Frey, Jennifer, Aquinas on Sin, Self-Love, and Self-Transcendence, in: Frey, Jennifer/Vogler, Candace (Hrsg.), Self-Transcendence and Virtue. Perspectives from Philosophy, Psychology, and Theology, New York/London 2019, 62–83; Herdt, Responsibility; Darr, Ryan, Teleology and Consequentialism in Christian Ethics. Goods, Ends, Outcomes, in: Studies in Christian Ethics 36/4 (2023), 906–925; Herdt, Jennifer A., Jennifer Herdt on the Good Life with Co-Hosts Jon Stovell and Ryan Reed (Bridging Theology Podcast), 31.10.2023 (https://open.spotify.com/episode/0DO1yNYgIkyLJm6jGUwfUr), abgerufen am 28.07.2025.

    Zitierweise

    Herdt, Jennifer A.: „Eudaimonismus“, Version 1.0, in: Onlinelexikon Systematische Theologie, ISSN 3052-685X, 29. August 2025. DOI: https://doi.org/10.15496/publikation-109949

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