1. Musikphilosophie
Ethische Implikationen von Musik ergeben sich zunächst aus der Unmöglichkeit einer scharfen Trennung von Ethik und Ästhetik, die vor allem in den von Musik und anderen Kunstformen erzeugten Affekten und ihrer ethischen Reflexion ihren Ursprung hat. Dass und inwiefern Musik ethisch ist beziehungsweise so reflektiert werden muss, gerät vor allem dann verstärkt in den Fokus, wenn in pädagogischen Diskursen nach Musik gefragt wird. Die der antiken Zusammenschau von Ethik und Ästhetik zugrundeliegende Affektenlehre konnte unterschiedliche Beurteilungen der erzieherischen Eignung von Kunst nach sich ziehen. Schon Platon diskutierte das Kunstschaffen seiner Kultur im Blick auf ihre Eignung für das Hervorbringen von Tugend und musste konsequenterweise so weit gehen, sogar Homer
zu verwerfen. Aristoteles
hingegen wendete das Zusammenspiel von Erziehung und Affekten insoweit positiv, als er bestimmte Affekte nicht auszuschließen, sondern zu beherrschen beabsichtigte.1Vgl. Siering, Timm, Kirche, Musik und ästhetische Bildung. Kirchenmusikpädagogik am Beispiel kirchlichen Singens, Stuttgart 2022, 86. Das aristotelische Verständnis der Aisthesis, das insofern immer schon ethisch gedeutet werden muss, als zu ihm die Dimension der Poiesis, also dem eigenen (künstlerischen) Handeln konstitutiv gehört, wird auch in Musikpädagogiken der Nachkriegszeit und bis heute weiterentwickelt.2Vgl. z. B. Roscher, Wolfgang, Polyästhetische Erziehung. Klänge, Texte, Bilder, Szenen. Theorien und Modelle zur pädagogischen Praxis, Köln 1976. Festzustellen ist dabei, dass antike Vorstellungen von Ästhetik noch nicht Musik in einem modernen Sinne im Blick hatten, sondern diese im Rahmen des größeren künstlerischen Ganzen der griechischen Musiké beschrieben.3Vgl. Ehrenforth, Karl Heinrich, Geschichte der musikalischen Bildung. Eine Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte in 40 Stationen. Von den antiken Hochkulturen bis zur Gegenwart, Mainz 2010, 41. Musikhistorisch ist für das Verhältnis von Affekt und Ethik die Barockzeit von besonderer Bedeutung, weil von der Musik erzeugte Affekte nicht nur als Nebeneffekte musikalischer Praxis verstanden wurden, sondern zunehmend ausdrücklich und durch die Verwendung bestimmter musikalischer Stilmittel herbeigeführt werden sollten.4Vgl. Eggebrecht, Hans Heinrich, Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München/Zürich 72008, 350.
Eine in eigener Weise pädagogische Verhältnisbestimmung von Ethos und Ästhetik entwirft Theodor W. Adorno , der Kunstwerken aufgrund ihrer besonderen äußeren und daher sinnlich wahrnehmbaren Gestalt Potentiale für ästhetische Erfahrungen zuspricht. Sich zur Welt zu verhalten setzt voraus, einen deutenden Zugang zur Welt gewonnen zu haben. Adorno führt vor, wie eben diese Deutung gerade im Blick auf das, was anders nicht gesagt werden könnte, durch die Vermittlung von Musik und Kunst geschehen kann, die also nicht nur über sich selbst Aussagen zu treffen im Stande ist, sondern auch über ihren Kontext.5Vgl. Adorno, Theodor W., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Berlin 2003. Bei Adorno wird die Qualität ihrer moralischen Potentiale sodann zum Maßstab dessen, was gute Musik auszeichnet. Dass Adorno wie nach ihm unter anderem auch Wolfgang Roscher
hieraus den Schluss ziehen, vor allem klassische Neue Musik sei geeigneter Gegenstand musikalischen Lernens, ist schon für sich genommen einerseits eine fragwürdige Prämisse und zieht im Blick auf die Aufgaben des Musikunterrichts andererseits die Frage nach sich, inwiefern die ethische Dimension überhaupt ein geeigneter Parameter zur Bestimmung der Qualität von Musik ist. Kritik an der Zusammenschau von Ethik und Ästhetik übt in jüngerer Zeit Peter Rinderle
, der zutreffend feststellt, dass moralische Einsichten im Angesichte ästhetischer Erfahrungen nicht auf diese beschränkt sind. Zu ähnlichen Einsichten könne auch kommen, wer empirische Sachverhalte ohne eine Brechung durch das Kunstwerk betrachtet. Das populärste und zugleich eindrücklichste Argument für eine separatistische Betrachtung von Musik und Ethik ist das Beispiel der grausamsten nationalsozialistischen Verbrechen – verübt von Menschen, die durchaus humanistisch gebildet waren, Musik machten und unter Umständen eben auch mit dem Kirchenlied sozialisiert waren.6Vgl. Rinderle, Peter, Musik, Emotionen und Ethik, Freiburg/München 2011, 78ff.
2. Musikpsychologie
Musik im Allgemeinen und das Singen im Besonderen hat Auswirkungen auf die menschliche Psyche und den Körper. Das Interesse an diesen Wirkungen ist in den vergangenen Jahrzehnten derart gewachsen, dass sich die Musikpsychologie als eigene musikwissenschaftliche Subdisziplin zunehmend aus der systematischen Musikwissenschaft herauslöste.
Während theologische Betrachtungen geistlicher und liturgischer Musik im Blick auf positive Auswirkungen auf die singenden Personen vor allem seelsorgliche Aspekte hervorheben,7Vgl. z. B. Klessmann, Michael, Kirchenmusik als Seelsorge, in: Fermor, Gotthard/Schroeter-Wittke, Harald (Hrsg.), Kirchenmusik als religiöse Praxis. Praktisch-theologisches Handbuch zur Kirchenmusik, Leipzig 22006, 230–234. können in den Musikwissenschaften zunehmend auch medizinische Zusammenhänge zwischen Singen und Gesundheit hergestellt werden. Bereits um die Jahrtausendwende konnten amerikanische Forschende belegen, dass das gemeinsame Singen im Chor zur Freisetzung von Immonuglobulin A und Cortisol führt.8Vgl. Beck, Robert J. et al., Choral Singing, Performance Perception, and Immune System Changes in Salivary Immunoglobulin A and Cortisol, in: Music Perception 18 (2000), 87–106. Gemeinsames Singen fördert daher nachweislich das Immunsystem. Auch positive Auswirkungen regelmäßigen Singens auf Erkrankungen der Lunge und des Sprechapparates konnten nachgewiesen werden. Hier ist wiederum ein entscheidender Aspekt, dass das Singen in Gemeinschaft stattfand.9Vgl. Lord, Victoria M. et al., Singing Classes for Chronic Obstructive Pulmonary Disease. A Randomized Controlled Trial, in: BMC Pulmonary Medicine 12 (2012), 69. Neben einzelnen nachweisebaren positiven Effekten des Singens auf die Gesundheit lässt sich feststellen, dass das Singen insbesondere in Gemeinschaft positive Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Singenden hat.10Vgl. Kreutz, Gunter, Warum Singen glücklich macht, Gießen 32020. Diese Beispiele verdeutlichen, dass sich das Singen nicht nur kommunikationswissenschaftlich vom Sprechen unterscheidet, sondern auch physiologisch.
Eine weitere wesentliche Erkenntnis der Musikwissenschaften ist, dass eben diese vielfältigen Wirkungen der Musik und des Singens auch missbräuchlich verwendet werden können. Die Kampflieder der Nationalsozialist:innen, die in ihren Liedern nicht nur die Kriegsführung auf dem Schlachtfeld verherrlichten, sondern auch gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen polemisierten und damit maßgeblich zum Holocaust beitrugen, sind ein beredtes Beispiel dafür.11Vgl. Kreutz, Singen. Dieser historische Abgrund führte insbesondere in der deutschen Gesellschaft in der Nachkriegszeit zu nur allzu verständlichen Vorbehalten gegen das gemeinsame Singen, die auch das Kirchenlied betrafen.12Vgl. Krieg, Gustav A., Kirchenmusik und Gesellschaft nach 1945, in: Bönig, Winfried (Hrsg.), Musik im Raum der Kirche. Fragen und Perspektiven. Ein ökumenisches Handbuch zur Kirchenmusik, Stuttgart 2007, 140–157.
Weiterführende Infos
Zum Singen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, dem Einsatz von Musik zur Demütigung sowie zu passivem und aktivem musikalischen Widerstand sei verwiesen auf: Keden, Helmke Jan, Musik in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, in: APuZ: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29189/musik-in-nationalsozialistischen-konzentrationslagern/, abgerufen am 08.03.2025.
Zur Singbewegung und dem Relevanzverlust des Massenlieds in der DDR sei verwiesen auf: Kirchenwitz, Lutz, Art. Singbewegung, in: Musikgeschichte online: https://mugo.hfm-weimar.de/de/topics/singebewegung; abgerufen am 08.03.2025.
Der Auswahl geeigneter Lieder wird nicht zuletzt aufgrund dieser Schreckenszeit der Gleichschaltung von Musik und Staat auch und gerade im Gottesdienst im Blick auf die (ver)führenden Wirkungen von Musik und Text und dem gewissermaßen sich potenzierenden Zusammenspiel beider Entitäten im gemeinsamen Singen bis heute große Aufmerksamkeit entgegengebracht.
3. Kirchenlied in theologischer Spannung
Das Verhältnis von Text und Musik ist im Blick auf das Kirchenlied insofern spannend, als beiden in je eigenen hermeneutischen Kontexten Ambitionen zur Sprachförmigkeit nachgesagt werden. Während der Text eines Liedes tatsächlich dokumentierte verbale Sprache ist, handelt es sich bei Musik um eine Kommunikationsform, die aufgrund ihrer gegenüber der Wortsprache unterdeterminierten Semiotik nicht als Sprache im engeren Sinne bezeichnet werden kann.13Vgl. Fuchs, Peter, Theorie als Lehrgedicht. Systemtheoretische Essays 1 (hrsg. von Fuchs, Marie-Christin), Bielefeld 2004, 157f. Dass Musik keine Sprache ist, heißt indes nicht, dass sie nichts zu sagen hätte. Nicht zuletzt Martin Luthers Wertschätzung der Musik geht auf den Umstand zurück, dass ihr formales Wesen figurale Strukturen aufweist, die in aller Offenheit zu Reflexionen einlädt, die aufgrund ihrer weniger konkreten Determination andere, zuweilen barriereärmere, individuellere oder gar unvoreingenommenere Deutungen anbieten als Wortsprache.14Vgl. Schröer, Henning, Poiesis, Creatura, Charisma. Musik aus theologischer Perspektive, in: Bubmann, Peter (Hrsg.), Menschenfreundliche Musik. Politische, therapeutische und religiöse Aspekte des Musikerlebens, Gütersloh 1993, 21–34, 31f. Gerade in dieser semiotischen Unterbestimmung liegen die größten theologischen Vorbehalte gegenüber einer nichttextgebundenen Musik, die nicht zuletzt aufgrund dessen gewisse Unberechenbarkeiten mit sich bringt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass textgebundene Musik und darunter das Kirchenlied par excellence von allen musikalischen Formen in Liturgie und Kirche das größte Vertrauen genießt.
Auch der Diskurs selbst ist an dieser Stelle bedenkenswert, weil eine Auseinandersetzung um geeignete Musik für Liturgie und Unterricht spätestens seit der Reformation derart kontrovers geführt wird, dass bis heute Konfessionsgrenzen am Kirchenlied festgemacht werden können. Während Martin Luthers Hochschätzung der Musik nicht nur eine freiere Textdichtung, sondern auch instrumentale Musik im Gottesdienst zuließ, mehr noch: sie als Bereicherung betrachtet, stehen Johannes Calvin
und Ulrich Zwingli
der Musik und dem Gesang im Gottesdienst skeptisch bis ablehnend gegenüber.15Vgl. Bertoglio, Chiara, Reforming Music. Music and the Religious Reformations of the Sixteenth Century, Berlin/Boston 2018, 202ff. Argumentative Grundlage ist hier stets das bewegungssuggestive Potential der Musik, das einmal als störende, gar gefährliche Ablenkung oder aber als Wirken des Heiligen Geistes gedeutet werden kann.
Die Kontroverse findet ihre Fortsetzung in einer Zeit, in der Kirchen aufgrund knapper werdender Ressourcen zunehmend unangenehmem Entscheidungsdruck im Blick auf ihre Verteilung ausgesetzt sind. Hier zeigt sich dann besonders, dass das Kirchenlied keine in sich geschlossene kunstwerkliche Entität ist, sondern lebendige religiöse und kulturelle Praxis, die in der langen Geschichte der Konstitution kirchlicher Ämter einen eigenen Berufsstand, nämlich den der Kantor:innen hervorgebracht hat. Konflikte, die anlässlich der Entscheidung für oder gegen ein Lied aufgrund seiner Eignung für den jeweiligen zumeist liturgischen Kontext aufbrechen, liegen daher zumeist nicht nur in der materiellen Beschaffenheit des Werkes begründet, sondern ereignen sich auch auf der Ebene des Persönlichen. Weil dies nicht nur für die an diesen Entscheidungsprozessen beteiligten Berufsgruppen, sondern im Grunde für alle singenden oder hörenden Kirchenmitglieder gilt, ist das Kirchenlied ein wesentlicher Indikator der Beurteilung dessen, was in kirchlichen Handlungsfeldern immer wieder neu und kontextabhängig als richtig oder falsch zu gelten hat.16Vgl. Siering, Timm, Inszenierungen des Heiligen. Liturgik als Kulturwissenschaft, Wiesbaden 2024.