1. Die „Entdeckung“ von Intersektionalität
Die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw analysierte arbeitsrechtliche Urteile des US Supreme Court. Ein Beispiel daraus: Fünf Schwarze Frauen klagten gegen General Motors, da ihnen gekündigt worden war. General Motors verteidigte sich erfolgreich damit, dass die Antidiskriminierungsmaßnahmen des Civil Rights Acts eingehalten worden wären, weil andere Schwarze (männliche) Mitarbeiter weiter beschäftigt werden würden – es sich also nicht um rassistische Diskriminierung handeln könnte. Auch könnte es keine sexistische Diskriminierung sein, weil andere (weiße) Frauen ihre Anstellung behielten. Crenshaw erkannte, dass es sich hierbei um Überkreuzungen von Diskriminierungen handele, die insbesondere diese Gruppe Schwarzer Frauen betrifft.1Vgl. Crenshaw, Kimberlé, Die Intersektion von „Rasse“ und Geschlecht demarginalisieren. Eine Schwarze feministische Kritik am Antidiskriminierungsrecht, der feministischen Theorie und der antirassistischen Politik, in: Lutz, Helma et. al. (Hrsg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts (Geschlecht und Gesellschaft 47), Wiesbaden 2013, 35–58. Daraus entwickelte sie Intersektionalität als sozialwissenschaftlichen Analysezugriff, der die Überschneidungen verschiedener Diskriminierungsmuster ermittelt und diese (meist) zugleich kritisiert.2Oft wird die Rede „Ain’t I a woman?“ von Sojourner Truth
aus dem Jahr 1851 als intersektional beschrieben, bevor es diesen Begriff gab (avant la lettre). Vgl. Degele, Nina, Intersektionalität. Perspektiven der Geschlechterforschung, in: Kortendiek, Beate et. al. (Hrsg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung (Geschlecht und Gesellschaft 65), Wiesbaden 2019, 341–348, 342. Truth fragt als Schwarze Sklavin: „Bin ich etwa keine Frau*?“ – Truth, Sojourner: Bin ich etwa keine Frau*?, in: Kelly, Natasha A., Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, Münster 2019, 15. Historisch wahrscheinlich ist, dass dieses Zitat und diese Redenversion nicht den Wortlaut Truths wiedergeben. Hierbei handelt es sich um eine Übersetzung der Veröffentlichung von 1863 und nicht die erste Niederschrift eines Zuhörers 1851 – vgl. dazu The Sojourner Truth Project, https://www.thesojournertruthproject.com/compare-the-speeches/, abgerufen am 27.05.2025 sowie Israel, Carlotta, Eine klassische „Win-Win-Situation“? Intersektionalität und Kirchengeschichte nach 2020, in: Bauer, Benedikt (Hrsg.), Verstaubt, verdrängt, vergessen? „Frau“ und „Geschlecht“ in der Kirchengeschichte, Festschrift für Ute Gause zum 60. Geburtstag, im Erscheinen. Welche verschiedenen Identitätsaspekte dabei berücksichtigt werden, variiert. Ursprünglich wurden die Überkreuzungen von race, class und gender miteinander in Beziehung gesetzt. Teilweise werden gegenwärtig 13 Kategorien festgehalten, unter die auch Religion oder geografische Position fallen.3Vgl. Lutz, Helma/Wenning, Norbert, Differenzen über Differenz – Einführung, in: Dies. (Hrsg.), Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft, Opladen 2001, 11–24. Mit einer Sensibilisierung für Einzelaspekte und einer Differenzierung vorheriger Oberkategorien, stellt sich die Liste der zu berücksichtigenden Aspekte als wahrscheinlich nicht abschließbar heraus, so dass einige Forschende vor allem die Offenheit des Konzepts unterstreichen.4Vgl. Lutz/Wenning, Differenzen, 20.
Weiterführende Infos WiReLex und WiBiLex
Für eine bibelkundliche und religionspädagogische Vertiefung sei auf folgende Artikel verwiesen:
Intersektionalität (WiReLex)
Gender (WiReLex)
Gender (NT) (WiBiLex)
Gender als Kategorie empirischer religionspädagogischer Forschung (WiReLex)
Othering (WiReLex)
Rassismus (WiBiLex)
Rassismus (WiReLex)
2. Theologische Rezeption von Intersektionalität
Dadurch, dass Intersektionalitätsanalysen zur vertieften Erschließung von Diversität eingesetzt werden, sind kirchliche wie diakonische Stellen, die sich mit Gleichstellung befassen, in Kontakt mit diesem Konzept. So verortet bspw. auch die 2022 veröffentlichte Leitlinie von und in Diakonie und EKD „Inklusion gestalten – Aktionspläne entwickeln“ Diversität in verschiedenen Hinsichten und „Mehrfachzugehörigkeit[en]“ zu verschiedenen Dimensionen als bedenkenswert.5Vgl. Kirchenamt der EKD/Diakonie Deutschland (Hrsg.), Inklusion gestalten – Aktionspläne entwickeln. Ein Orientierungsrahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Diakonie Deutschland (EKD-Texte 141), Hannover 2022, 17; online unter: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd-texte_141_inklusion_2022.pdf, abgerufen am 27.05.2025. In der Theologie wird Intersektionalität vor allem in religionspädagogischen,6Vgl. Knauth, Thorsten, Art. Intersektionalität, in: WiReLex, 2020 (https://doi.org/10.23768/wirelex.Intersektionalitt.100233), abgerufen am 27.05.2025. diakoniewissenschaftlichen und in macht- und diskriminierungskritischen theologischen Diskursen verwendet. Evangelisch wie katholisch rezipierte insbesondere geschlechtersensible Theologie Intersektionalität.7Vgl. Arzt, Silvia, Gender in der Religionspädagogik. Feministische Theologien – Geschlechterforschung – Intersektionalität, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 20/2 (2021), 121–123; online unter: https://doi.org/10.23770/tw0206, abgerufen am 27.05.2025. Damit verhält sich die Wahrnehmung und Adaption von Intersektionalität in Theologie ähnlich zu anderen Disziplinen, in denen Intersektionalität vor allem im Zusammenhang mit Gender bearbeitet wurde.8Vgl. Lutz, Helma/Herrera Vivar, María Teresa/Supik, Linda, Fokus Intersektionalität – eine Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes, Wiesbaden 22013, 9–31.
In den Bibelwissenschaften sind intersektionale Zugänge insbesondere in der Sozialgeschichtlichen Exegese adaptierfähig und übernommen worden. Hier verhilft Intersektionalität zu einer Analyse verschiedener Diskriminierungsaspekte. In der Kirchengeschichte, bzw. der sozialgeschichtlich ausgerichteten Christ*innentumsgeschichte, sind ebenfalls Auseinandersetzungen mit Intersektionalität erkennbar, die insbesondere auf die Rolle von Religionszugehörigkeit als Identitäts-, Privilegs- und Diskriminierungsaspekt verweisen und dessen Relevanz betonen.9Vgl. Bauer, Benedikt, Quellen im Kreuz(ungs)feuer, Kirchengeschichte am Scheideweg – Intersektionalität und Kirchengeschichte, in: Handbuch der Religionen 75 (2023), 1–16; Heil, Uta, Intersektionalität in der Kirchengeschichte, in: Verkündigung und Forschung 67/2 (2022), 113–126. Systematisch-theologisch liegen insbesondere in der Ethik aber auch in der Anthropologie Potenziale für intersektionales Denken, da durch Intersektionalitätsanalysen verschiedene Aspekte von Menschsein, dessen strukturelle Verstrickung und Vielfalt, deutlicher werden.10Vgl. Werner, Gunda, Intersektionalität und Theologie, in: Heimbach-Steins, Marianne et. al. (Hrsg.), Gender Studies in der Theologie – Begründungen und Perspektiven, Münster 2021, 225–234. Religionspädagogisch überträgt das Konzept der Inklusiven Religionspädagogik der Vielfalt intersektionale Analysen und Ansprüche auf den Religionsunterricht.11Vgl. Knauth, Thorsten et. al. (Hrsg.), Inklusive Religionspädagogik der Vielfalt. Konzeptionelle Grundlagen und didaktische Konkretionen, Münster 2020 oder auch Schweiker, Wolfhard/Witten, Ulrike, Inklusive Religionspädagogik der Vielfalt, in: Grümme, Bernhard/Pirner, Manfred L. (Hrsg.), Religionsunterricht weiterdenken. Innovative Ansätze für eine zukunftsfähige Religionsdidaktik, Stuttgart 2023, 255–268. Dafür seien, mit Ulrike Witten und Wolfhard Schweiker
, neben der Analyse der Exklusionsdynamiken auch „Selbstkritik, […] Aufarbeitung der Schuldgeschichte sowie […] Analyse des eigenen Standpunkts“12Schweiker/Witten, Religionspädagogik, 255. nötig. In der Interkulturellen Theologie hat Claudia Jahnel
insbesondere zum Körper und dessen epistemischer Relevanz auch in diskriminierungssensibler Perspektive gearbeitet. Angesichts der Pluralisierung und einer steigenden Wahrnehmung der Kontextualität von Theologien bietet Intersektionalität in diesem Sinne auch für die Wahrnehmung und Darstellung der eigenen Positionalität als Theolog*in Ansatzpunkte zur Reflexion und Verdeutlichung derer im wissenschaftlichen Diskurs.
Weiterführende Infos WiReLex und WiBiLex
Für eine bibelkundliche und religionspädagogische Vertiefung sei auf folgende Artikel verwiesen:
Inklusion (WiReLex)
Inklusive Lehr- und Lernprozesse, religionspädagogisch (WiReLex)
Dis/ability Studies (WiReLex)
Feministische Theologie (WiReLex)
Bibelauslegung, feministische (WiReLex)
Exegese, Feministische (WiBiLex)
3. Drei Spezifika der theologischen Arbeit mit Intersektionalität
In dreierlei Hinsicht sind dezidiert theologische Aspekte zur Arbeit mit Intersektionalität anzumerken. Zunächst: Aus der Positionierung als Theolog*in und/oder als Angehörige*r einer Religionsgemeinschaft kann in der Erforschung intersektionaler Zusammenhänge folgen, dass dem Aspekt der Religionszugehörigkeit ein gewichtigerer Faktor als außerhalb von Religionsforschung beigemessen wird. Dies muss transparent formuliert werden.
Zweitens: Für eine antisemitismuskritische Theologie bietet die intersektionale Analyse von Ideologien, die Karin Stögner entwickelt hat, ein vertieftes Verständnis von Antisemitismus und dessen Denk- und Wirkweisen.13Vgl. Stögner, Karin, Antisemitismus und Intersektionalität – Plädoyer für einen neuen Zugang, in: Biele Mefebue, Astrid et al. (Hrsg.), Handbuch Intersektionalitätsforschung, Wiesbaden 2022, 93–108. Rassistische, sexistische, queerphobe und nationalistische Elemente von Antisemitismus werden in ihrer intersektionalen Analyse von Antisemitismus als Ideologie in Zusammenhänge zu entsprechenden Ideologien gesetzt. Juden/Jüd*innen seien in der Geschichte des Antisemitismus in den „klassischen“ intersektionalen Hinsichten als „antikategorial“ zu verstehen, weil sie weder hinsichtlich Geschlecht, Klassenzugehörigkeit oder Rassifizierung eindeutig eingeordnet wurden.14Vgl. Stögner, Antisemitismus, 100f. Diese Uneindeutigkeit und Verschränkung mit anderen Ideologien stärkten Antisemitismus.15Vgl. Sögner, Antisemitismus, 104.
Weiterführende Infos WiReLex
Für eine religionspädagogische Vertiefung sei auf folgenden Artikel verwiesen:
Boschki, Reinhold, Art. Antijudaismus, Antisemitismus, in: WiReLex (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/200563/), abgerufen am 27.05.2025.
Drittens: Mit ihrem Verständnis von „Kyriarchat“ hat Elisabeth Schüssler-Fiorenza ein theologisches Intersektionalitätskonzept vorgelegt. Die römisch-katholische Feministische Theologin und Neutestamentlerin entwickelte in den 1990ern den Begriff des „Kyriarchats“ (Führung des Herren), der die Wirkungsweisen des Patriarchats (Führung des Vaters) bzw. der „‚Hierarchie/Hierarchat‘“16Vgl. Schüssler-Fiorenza, Elisabeth, Intersektionalität, Kyriarchat und Christliche Religion, in: Jost, Renate / Jäger, Sarah (Hrsg.): Vielfalt und Differenz. Intersektionale Perspektiven auf Feminismus und Religion (Internationale Forschungen in Feministischer Theologie und Religion. Befreiende Perspektive Bd. 6), Münster 2017, 19–36, 25. (Führung des Heiligen; ihrer Meinung nach nur im Zusammenhang mit religiösen Herrschaftsstrukturen zu verwenden17Vgl. Schüssler-Fiorenza, Intersektionalität, 26.) präzisiert. Dafür analysierte sie antike hellenistische Machtverhältnisse und wies an ihnen auf, dass nicht „die Väter“, sondern die freien Herren (κύριος = Herr) Macht im und außerhalb des Haushalts bündelten und andere Männer und alle Frauen unterdrückten.18Vgl. Schüssler-Fiorenza, Elisabeth, But She Said. Feminist Practices of Biblical Interpretation, Boston 1992, 117. Insofern verschränken („verfilzen“) sich auch in ihrer Kyriarchatsanalyse verschiedene Identitätsaspekte, die sie auch an neutestamentlichen Haustafeln aufzeigt.19Vgl. Schüssler-Fiorenza, Intersektionalität, 28.
Diese drei exemplarischen Schlaglichter stehen neben anderen theologischen Zugängen, bspw. einer rassismuskritischen Intersektionalitätsforschung, und einem im deutschsprachigen Raum sich noch am Anfang befindenden Diskurs, der sich auch aus kirchenpraktischen Anforderungen speist.